OGH 12Os54/24v

OGH12Os54/24v27.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart des Schriftführers Edermaier‑Edermayr LL.M. (WU) in der Strafsache gegen * M* wegen des Vergehens der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB, AZ 144 Hv 116/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des genannten Gerichts vom 11. März 2024 (ON 50) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider LL.M., und des Verteidigers Dr. Pohle zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0120OS00054.24V.0627.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Jugendstrafsachen

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 144 Hv 116/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt der Beschluss dieses Gerichts vom 11. März 2024 (ON 50) § 35 Abs 1a JGG analog.

 

Gründe:

[1] Mit Beschluss vom 2. Dezember 2023 verhängte das Landesgericht für Strafsachen Wien über die am * geborene Beschuldigte * M* die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit a bis c StPO (ON 2.34). Dabei ging es vom dringenden Verdacht einer dem Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB und dem Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs 1 StGB sowie einer dem Verbrechen der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs 4 StGB subsumierten Handlung aus (BS 1 f).

[2] In der Folge erkannte das Landesgericht für Strafsachen Wien M* mitnicht rechtskräftigem Urteil vom 7. März 2024, GZ 144 Hv 116/23v‑48.4,abweichend von der auf das Verbrechen der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs 4 StGB lautenden Anklage des Vergehens der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB schuldig und verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten. Hinsichtlich der weiteren Anklage wegen der dem Verbrechen des schweren Raubes nach § 142 Abs 1 StGB und dem Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs 1 StGB subsumierten Handlung erfolgte ein Freispruch.

[3] Noch während der laufenden Frist zur Anmeldung eines Rechtsmittels gegen dieses Urteil setzte das Landesgericht für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 11. März 2024 (ON 50) die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit c StPO (neuerlich) fort.

[4] Dabei ging das Gericht von einem dringenden Tatverdacht (nur) in Ansehung des vom Schuldspruch erfassten, als Vergehen der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB subsumierten Sachverhalts aus (BS 2 ff).

Rechtliche Beurteilung

[5] Dieser (in Rechtskraft erwachsene) Beschluss verletzt – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt – das Gesetz:

[6] Nach § 35 Abs 1a JGG ist die Verhängung der Untersuchungshaft über den – im Entscheidungszeitpunkt (Schroll/Oshidari in WK² JGG § 35 Rz 5, 13) – jugendlichen Beschuldigten unzulässig, sofern für das Hauptverfahren das Bezirksgericht zuständig wäre. Für die Beurteilung der Zuständigkeit des Bezirksgerichts für das Hauptverfahren ist jene Straftat maßgeblich, die der Verhängung der Untersuchungshaft zugrunde liegt. Andere Straftaten, die zwar auch Gegenstand des Verfahrens sind, hinsichtlich derer aber (wie hier) eine dringende Verdachtslage verneint wird, haben daher außer Betracht zu bleiben (so aber BS 4). Die Verhängung der Untersuchungshaft über den jugendlichen Beschuldigten setzt also voraus, dass er einer bestimmten Straftat dringend verdächtig ist (vgl Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 173 Rz 2 f), die in die Zuständigkeit eines höherrangigen Gerichts als des Bezirksgerichts fällt.

[7] Nach § 48 Abs 1 Z 3 StPO (iVm § 31 JGG) ist Angeklagter jeder Beschuldigte, gegen den Anklage eingebracht worden ist. Es ist daher die Verhängung der Untersuchungshaft auch über den jugendlichen Angeklagten unter den in § 35 Abs 1a JGG normierten Voraussetzungen unzulässig.

[8] Der Regelungsbereich des § 35 Abs 1a JGG erfasst die Verhängung der Untersuchungshaft. Aus der Systematik des 9. Hauptstücks der StPO, zu dem die §§ 35 ff JGG Besonderheiten normieren (§ 31 JGG), ergibt sich, dass Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft begrifflich verschieden sind. Demzufolge ordnet § 35 Abs 1a JGG die Unzulässigkeit der Fortsetzung einer (wie hier) unter Beachtung dieser Bestimmung rechtsrichtig verhängten Untersuchungshaft nicht an.

[9] Der Gesetzgeber beurteilt „kurze Haftzeiten“ für Jugendliche als sozialschädlich, weshalb § 35 Abs 1a JGG solche „Haftzeiten“ bei Delikten mit geringer Strafdrohung „verringern“ soll (ErläutRV 852 BlgNR 25. GP 6). Dieser in der Verhinderung von in Untersuchungshaft zugebrachten Zeiten gelegene Telos legt eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes frei. Denn obwohl unter diesem Aspekt Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft wertungsmäßig ähnlich sind und sich aus der Systematik des § 173 Abs 1 und 4 StPO ergibt, dass die Voraussetzungen für die Verhängung der Untersuchungshaft auch für deren Fortsetzung gelten, ordnet das Gesetz eine Rechtsfolge nur für erstere an. Diese Lücke ist durch analoge Anwendung des § 35 Abs 1a JGG auf die Fortsetzung der (im Einklang mit dieser Bestimmung verhängten) Untersuchungshaft über den jugendlichen Beschuldigten zu schließen (vgl RIS‑Justiz RS0008866). Sie ist daher unzulässig, sofern für die Straftat, die der Haftentscheidung zugrunde liegt, im Hauptverfahren das Bezirksgericht zuständig wäre.

[10] Sachverhaltsannahmen, die den rechtlichen Schluss zulassen, die Angeklagte M* sei einer nicht (nur) in die Kompetenz des Bezirksgerichts fallenden Straftat dringend verdächtig, sind dem Beschluss aber nicht zu entnehmen. Vielmehr ist nach den Feststellungen (BS 2 ff) ein dringender Verdacht nur in Ansehung der vom Schuldspruch umfassten, dem Vergehen der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB subsumierten und in die Zuständigkeit des Bezirksgerichts (§ 30 Abs 1 StPO) fallenden Tat gegeben (vgl auch RIS‑Justiz RS0108486 [T2, T3]).

[11] Der Beschluss auf Fortsetzung der Untersuchungshaft verletzt somit § 35 Abs 1a JGG analog (vgl zur verletzten Vorschrift unter dem Aspekt der Rechtsfortbildung Ratz, WK-StPO § 292 Rz 12).

[12] Die Zuerkennung konkreter Wirkung kommt im Hinblick darauf, dass die Angeklagte am 29. März 2024 aus der Haft entlassen wurde (ON 65 S 2, ON 66, ON 70), nicht (mehr) in Betracht, sodass es mit der Feststellung der Gesetzesverletzung sein Bewenden hatte.

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