European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBS00005.23B.0626.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
1. Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie wie folgt zu lauten haben:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 2.553 EUR Insolvenz-Entgelt zu zahlen sowie die mit 846,29 EUR (darin 140,25 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens zu ersetzen.“
2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.112,37 EUR (darin 185,39 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin war von 19. 6. 2007 bis 2. 6. 2022 als Handelsangestellte beschäftigt. Nachdem über das Vermögen des Dienstgebers am 29. 4. 2022 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, erklärte die Klägerin am 2. 6. 2022 den vorzeitigen Austritt gemäß § 25 IO.
[2] Gegenstand des Verfahrens ist die Forderung der Klägerin nach Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung für den Zeitraum vom 1. 10. bis 31. 12. 2022.
[3] Die Beklagte lehnte die Gewährung von Insolvenz-Entgelt für diesen Anspruch mit der Begründung ab, die Klägerin gehe von einer viermonatigen Kündigungsfrist zum Quartalsende aus, die erst nach Vollendung des 15. Dienstjahres zum Tragen gekommen wäre. Der Austritt habe das Dienstverhältnis jedoch mit sofortiger Wirkung vorher beendet, sodass den Ansprüchen nur eine dreimonatige Kündigungsfrist zum 30. 9. 2023 zugrundezulegen sei.
[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und schloss sich in seiner Begründung der rechtlichen Argumentation der Beklagten an.
[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Bei einer vorzeitigen Auflösung des Dienstverhältnisses, also bei der Entlassung und beim Austritt, seien für die Dauer der Kündigungsfrist die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Zugangs der Beendigungserklärung maßgeblich. Am 2. 6. 2022 habe für die Klägerin noch eine dreimonatige Kündigungsfrist gegolten. Der Umstand, dass der fiktive Kündigungstermin bereits in eine Zeit falle, in der eine längere Kündigungsfrist einzuhalten gewesen wäre, sei unerheblich.
[6] Die dagegen gerichtete Revision der Klägerin führt aus, die Entscheidung der Vorinstanzen über die Berechnung der Kündigungsfrist stehe mit den Grundsätzen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung, die auch in der Literatur einhellig Zustimmung gefunden habe, nicht im Einklang.
[7] Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.
[9] 1. Bei Austritt eines Arbeitnehmers nach § 25 IO steht ihm genauso wie bei einem vom Arbeitgeber verschuldeten Austritt nach § 29 Abs 1 AngG bzw § 1162b ABGB ein Schadenersatzanspruch zu (RS0028724, RS0119684). Das zeitliche Maß dieses Anspruchs wird durch die für den konkreten Arbeitnehmer unter Außerachtlassung der Insolvenzeröffnung bestehende Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers bestimmt (RS0120259).
[10] Dem Arbeitnehmer gebührt die Kündigungsentschädigung bis zum fiktiven Ende des Arbeitsverhältnisses durch ordnungsgemäße Arbeitgeberkündigung. Er ist so zu stellen, als ob das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitgeber ordnungsgemäß beendet worden wäre (RS0120259 [T4]; RS0119684).
[11] 2. Die Dauer der Kündigungsfrist richtet sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Kündigung (RS0028823).
[12] Die Vorinstanzen sind richtig davon ausgegangen, dass das Recht auf eine längere Kündigungsfrist aufgrund einer längeren Dienstzeit erst durch deren Ablauf erworben wird. Dieses Recht muss bereits in dem Zeitpunkt vorhanden sein, in dem spätestens gekündigt werden konnte.
[13] Dabei kommt es aber, wie die Revision zutreffend aufzeigt, nach der Rechtsprechung nicht auf den Zeitpunkt der Kündigungserklärung (hier der Beendigungserklärung nach § 25 IO) an, sondern auf den Zeitpunkt, „von dem an die Kündigungsfrist zu rechnen ist“, das ist der letztmögliche Kündigungszeitpunkt. Damit soll gewährleistet werden, dass keine Manipulation über die Dauer der Kündigungsfrist durch früheren Ausspruch der Kündigung möglich ist (4 Ob 81/53; Reissner in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 20 AngG Rz 44; Reissner/Heinz-Ofner in Reissner, Angestelltengesetz4 § 20 Rz 33 mwN; Trost in Löschnigg/Melzer, AngG11 § 20 Rz 95 mwN; Karl in Marhold/Burgstaller/Preyer, AngG § 20 Rz 98; Lindmayr, Berechnung der Kündigungsfrist, ARD 6669/5/2019).
[14] Relevanter Stichtag ist also der Tag, an dem für den anvisierten Endtermin unter Wahrung der kürzeren Frist letztmöglich die Kündigung ausgesprochen werden kann. Hat der Arbeitnehmer an diesem Tag bereits das entsprechende Dienstjahr vollendet, dann muss die längere Frist eingehalten werden (Lindmayr, ARD 6669/5/2019 3.3).
[15] Im hier vorliegenden Fall wäre bei einem anvisierten Kündigungstermin 30. 9. 2022 der letzte die kürzere, also dreimonatige Kündigungsfrist wahrende Stichtag des Ausspruchs der 30. 6. 2022 gewesen. An diesem Tag hätte die Klägerin, die am 19. 6. 2007 ihr Dienstverhältnis begonnen hatte, aber das 15. Dienstjahr bereits vollendet gehabt. Aus diesem Grund hätte, wie das Berufungsgericht zutreffend, wenn auch mit unrichtiger Schlussfolgerung ausgeführt hat, der Dienstgeber die Klägerin am 30. 6. 2022 tatsächlich nur mehr unter Einhaltung einer viermonatigen Frist kündigen können.
[16] Daraus folgt aber, wie die Revision geltend macht, dass auch am 2. 6. 2022 eine Kündigung durch den Dienstgeber zum Quartalsende 30. 9. 2022 nicht mehr fristwahrend sein hätte können. Letztmals wäre eine solche Kündigung am 31. 5. 2022 zulässig gewesen, denn hier wäre dann auch die viermonatige Frist noch gewahrt worden.
[17] Da keine zusätzlichen Kündigungstermine iSd § 20 Abs 3 AngG vereinbart waren, hätte am 2. 6. 2022 der Dienstgeber die Klägerin erst zum 31. 12. 2022 kündigen können.
[18] 3. Weil das zeitliche Maß des Schadenersatzes nach § 25 Abs 2 IO durch die für den konkreten Arbeitnehmer unter Außerachtlassung der Insolvenzeröffnung bestehende hypothetische Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers bestimmt wird (RS0120259), kommt es nicht darauf an, dass das Dienstverhältnis durch die sofortige Wirkung des Austritts am 2. 6. 2022 beendet wurde und die Klägerin daher das 15. Dienstjahr letztlich nicht vollendet hat.
[19] 4. Gegen die Höhe des Klagebegehrens hat die Beklagte keine Einwände erhoben. Sie hat sich auch nicht auf eine Anrechnung eines anderweitigen Erwerbs gemäß § 29 Abs 1 AngG berufen.
[20] Der Revision der Klägerin war daher Folge zu geben. Die Entscheidung über die Verfahrenskosten gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG.
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