OGH 10ObS133/23s

OGH10ObS133/23s16.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj M*, vertreten durch die Mutter Mag. L*, beide *, vertreten durch die Putz-Haas & Riehs-Hilbert Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr.in Simone Metz, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Oktober 2023, GZ 7 Rs 35/23 b‑16, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 8. November 2022, GZ 27 Cgs 113/22p‑10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzungzu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00133.23S.0116.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil lautet:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ein Pflegegeld der Stufe 3 von 1. Mai 2022 bis 31. Dezember 2022 in der monatlichen Höhe von 475,20 EUR unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von 60 EUR und ab 1. Jänner 2023 in der monatlichen Höhe von 502,80 EUR zu zahlen, und zwar die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen und die künftig fällig werdenden jeweils am Ersten des Folgemonats im Nachhinein.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 609,67 EUR (darin 101,61 EUR USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung und die mit 502,10 EUR (darin 83,68 EUR USt) bestimmten Kosten der Revision binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der 2018 geborene Kläger lebt bei seinen Eltern und leidet an einer Autismusspektrum-Störung. Seit Antragstellung besteht unter anderem folgender Betreuungsbedarf:

[2] Die täglichen Essenssituationen gestalten sich als sehr aufwändig, weil der Kläger sehr wählerisch und stets abgelenkt werden muss, wodurch die Einnahme einer Mahlzeit sehr lange dauert. Der tägliche Zeitaufwand für die Einnahme der Mahlzeiten beträgt 90 Minuten, das sind 45 Stunden monatlich.

[3] Für den Kläger wird der Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder bezogen.

[4] Mit Bescheid vom 4. Mai 2022 erkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt aufgrund des Antrags vom 7. April 2022 den Anspruch des Klägers auf Pflegegeld der Stufe 1 ab 1. Mai 2022 unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder an.

[5] In seiner dagegen gerichteten Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung eines höheren Pflegegelds.

[6] Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

[7] Das Erstgerichtverpflichtete die Beklagte zur Zahlung eines Pflegegelds der Stufe 3 ab 1. Mai 2022 (in konkret bezifferter monatlicher Höhe) unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder. Es stellte den eingangs gekürzt wiedergegebenen Sachverhalt fest und ging – soweit im Revisionsverfahren von Relevanz – hinsichtlich der Einnahme von Mahlzeiten aufgrund einer erschwerenden Funktionseinschränkung iSd § 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder-Einstufungsverordnung von einem zu berücksichtigenden Pflegebedarf von 45 Stunden monatlich aus und errechnete daraus einen Pflegebedarf von insgesamt 125 Stunden monatlich, entsprechend einem Pflegegeld der Stufe 3.

[8] DasBerufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass es dem Kläger ein Pflegegeld der Stufe 2 zusprach. Das Mehrbegehren auf Leistung eines höheren Pflegegelds wies es ab. Aus dem festgestellten Sachverhalt lasse sich nicht ableiten, dass der im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz fast vier Jahre alte Kläger nicht in der Lage wäre, (zubereitete) Mahlzeiten einzunehmen. Wenn – selbst eine vorgeschnittene oder auch eine breiige Nahrung – selbständig aufgenommen werden könne, bestehe kein gesonderter Pflegebedarf. Dass der Kläger beim Essen sehr wählerisch sei und die Zubereitungsform verändert werden müsse, sodass sich die Essenssituation auch dadurch aufwendig gestalte und die Einnahme einer Mahlzeit sehr lange dauere, vermöge daran nichts zu ändern und einen Pflegebedarf nicht zu begründen. Die Änderung der Zubereitungsform und die Speisenauswahl seien nicht der Einnahme, sondern der Zubereitung der Mahlzeit zuzurechnen. Eine erforderliche Anwesenheit einer Betreuungsperson – somit für das Ablenken – bei der Einnahme einer Mahlzeit und einen Pflegebedarf in der Höhe von monatlich 30 Stunden dafür gestehe die Berufungswerberin ohnehin zu. Ein darüber hinausgehender Zeitwert sei hier nicht zu berücksichtigen. Eine konkret bezogen auf die Einnahme von Mahlzeiten erschwerende Funktionseinschränkung ergebe sich aus dem festgestellten Sachverhalt nicht, weswegen sich ein durchschnittlicher monatlicher Pflegebedarf des Klägers von 110 Stunden errechne, der einem Pflegegeld der Stufe 2 entspreche. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[9] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revisiondes Klägers mit dem Antrag auf Abänderung des Berufungsurteils im Sinn des Zuspruchs eines Pflegegelds der Stufe 3; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] In der – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlief; sie ist dementsprechend auch berechtigt.

[12] 1. Der Kläger macht in der Revision zutreffend geltend, dass der über den Mindestwert von 30 Stunden monatlich hinausgehende Zeitaufwand für die Einnahme von Mahlzeiten nicht bloß durch den Erschwerniszuschlag nach § 5 Kinder‑Einstufungsverordnung iVm § 4 Abs 3 und 4 BPGG pauschal abzugelten ist, sondern gesondert zu prüfen und zu berücksichtigen ist.

[13] 2.1. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr ist nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (§ 4 Abs 3 BPGG). Dementsprechend besteht nach § 1 Abs 3 Z 5 Kinder‑Einstufungsverordnung für das Einnehmen von Mahlzeiten bis zum vollendeten 3. Lebensjahr ein natürlicher Pflegebedarf von einer Stunde pro Tag. Ein natürlicher Pflegebedarf für das Einnehmen von Mahlzeiten ist demgegenüber für ältere Kinder – wie den Kläger – in der Kinder‑Einstufungsverordnung nicht vorgesehen, sodass mit Erreichen dieses Lebensalters gemäß § 2 Kinder‑Einstufungsverordnung anzunehmen ist, dass ein gleichaltriges nicht behindertes Kind diese Verrichtungen ohne Hilfe durchführen kann.

[14] 2.2. Bei der Feststellung des behinderungsbedingten zeitlichen Betreuungsaufwands ist für das Einnehmen von Mahlzeiten ab dem vollendeten 3. Lebensjahr grundsätzlich ein zeitlicher Mindestwert von einer Stunde pro Tag festgelegt (§ 3 Abs 6 Z 4 lit c Kinder‑Einstufungsverordnung). Liegt eine erschwerende Funktionseinschränkung vor, erhöht sich der festgelegte Mindestwert auf 90 Minuten pro Tag (§ 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder‑Einstufungsverordnung).

[15] 2.3. Nach dem vorletzten Satz des § 3 Abs 6 Kinder‑Einstufungsverordnung sind Abweichungen von diesen Zeitwerten nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand (abzüglich des natürlichen, altersbedingten Pflegebedarfs nach § 1 Kinder‑Einstufungsverordnung; vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 7.41) diese Mindestwerte erheblich überschreitet. Nach den Erläuternden Bemerkungen zur Kinder‑Einstufungsverordnung liegt eine erhebliche Überschreitung des Mindestwerts – entsprechend der Rechtsprechung zur Einstufungsverordnung (RS0058292) – dann vor, wenn eine Überschreitung um annähernd die Hälfte gegeben ist (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 7.40 unter Hinweis auf die EB zur Kinder‑Einstufungsverordnung BMASK‑40101/0002-IV/B/4/2016).

3. Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

[16] 3.1. Nach den vom Erstgericht getroffenen und von der Beklagten nicht bekämpften Feststellungen beträgt der tägliche Zeitaufwand für die Einnahme der Mahlzeiten 90 Minuten. Dieser Zeitaufwand resultiert aus der Verhaltensstörung des Klägers, weil er beim Füttern abgelenkt werden muss.

[17] 3.2. Ob die Verhaltensstörung des Klägers eine erschwerende Funktionseinschränkung darstellt, die die Heranziehung des (höheren) Mindestwerts nach § 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder‑Einstufungsverordnung rechtfertigen würde, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Selbst wenn man nämlich mit dem Berufungsgericht und der Beklagten annimmt, dass die Verhaltensstörung des Klägers keine solche erschwerende Funktionseinschränkung darstellt, steht fest und wird von der Beklagten auch gar nicht bestritten, dass die Anwesenheit einer Pflegeperson bei der Einnahme von Mahlzeiten erforderlich ist.

[18] Für diesen Betreuungsaufwand ist nach § 3 Abs 6 Z 4 lit c Kinder‑Einstufungsverordnung zwar ein Mindestwert von (nur) 60 Minuten täglich festgelegt. Der tatsächliche Betreuungsaufwand für diese Verrichtung beträgt hier allerdings 90 Minuten täglich und überschreitet den festgelegten Mindestwert somit um die Hälfte. Dies führt nach der dargestellten Rechtslage zur Berücksichtigung des den Mindestwert erheblich überschreitenden tatsächlichen Betreuungsaufwands von 90 Minuten täglich.

[19] Da in dem Alter des Klägers kein natürlicher Pflegebedarf in § 1 Abs 3 Kinder‑Einstufungsverordnung festgelegt wird und daher zu vermuten ist, dass ein gleichaltriges nicht behindertes Kind die Einnahme von Mahlzeiten ohne Hilfe durchführen kann (§ 2 Kinder‑Einstufungsverordnung), ist in diesem Zusammenhang auch kein natürlicher Pflegebedarf vom tatsächlichen Pflegebedarf in Abzug zu bringen.

[20] 3.3. Anhaltspunkte dafür, dass der festgestellte tatsächliche Pflegeaufwand von 90 Minuten täglich für die Einnahme von Mahlzeiten nicht zur Gänze zu berücksichtigen wäre, bestehen demgegenüber – entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts und jener der Beklagten in der Revisionsbeantwortung – nicht.

[21] Es trifft zwar zu, dass der Kläger von einem Brot abbeißen kann und (teilweise) aus dem Fläschchen trinken kann. Der festgestellte tatsächliche Pflegeaufwand resultiert aber daraus, dass der Kläger stets (also auch während bzw trotz dieser mitunter selbständig durchführbaren Verrichtungen) abgelenkt werden muss. Entgegen dem Verständnis des Berufungsgerichts enthält der festgestellte Zeitwert von 90 Minuten täglich auch keine Verrichtungen, die anderen Betreuungsmaßnahmen (mit anderen Richt- oder Mindestwerten) zuzuordnen wären. Das Erstgericht stellte zwar (zusätzlich) fest, dass die Zubereitungsform verändert werden muss, wodurch die Einnahme einer Mahlzeit sehr lange dauert. Nach dem vom Erstgericht dem festgestellten Zeitaufwand für das Einnehmen der Mahlzeiten zugrunde gelegten Sachverständigengutachten beruht der festgestellte Minutenwert aber (nur) darauf, dass der Kläger beim Füttern ständig abgelenkt werden muss.

[22] 3.4. Da es auf das Vorliegen einer erschwerenden Funktionseinschränkung nicht entscheidend ankommt, erübrigen sich auch Ausführungen zur von der Beklagten in der Revisionsbeantwortung thematisierten Frage, ob die Voraussetzungen einer erschwerenden Funktionseinschränkung iSd § 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder‑Einstufungsverordnung vorliegen und der dort festgelegte Mindestwert von 90 Minuten täglich neben dem Erschwerniszuschlag nach § 8 Kinder‑Einstufungsverordnung iVm § 4 Abs 3 und 4 BPGG herangezogen werden kann.

[23] 4.1. Zu dem bereits im Berufungsverfahren nicht mehr strittigen Pflegebedarf von 80 Stunden monatlich (tägliche Körperpflege bei erschwerender Funktionseinschränkung, Therapiebegleitung im Rahmen der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn und Erschwerniszuschlag) sind daher die festgestellten 90 Minuten täglich, entsprechend 45 Stunden monatlich zu addieren. Daraus ergibt sich ein Pflegebedarf von insgesamt durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich und somit ein Anspruch des Klägers auf Pflegegeld der Stufe 3, der dem Kläger zuzusprechen war.

[24] Die mit 1. Jänner 2023 in Kraft getretene Rechtsänderung, nach der die Erhöhung der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder auf das Pflegegeld – anders als nach der bisherigen Rechtslage – nicht anzurechnen ist (§ 7 BPGG idF BGBl I 2022/129), ist nach den Übergangsbestimmungen auch in gerichtlichen Verfahren anzuwenden (§ 48g Abs 4 und 6 BPGG). Die Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder war daher nur für Zeiträume bis 31. Dezember 2022 auszusprechen und hatte für danach liegende Zeiträume zu entfallen.

[25] 4.2. Im Verfahren erster Instanz wurden keine Kosten verzeichnet. Die Kostenentscheidung für die Rechtsmittelverfahren beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG.

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