European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:504PRA00065.23B.1218.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien ist in dem zu 23 Bs 286/23m (287/23h, 288/23f, 353/23i, 364/23g, 365/23d) anhängigen Beschwerdeverfahren von der Entscheidung über die Ausgeschlossenheit einer Richterin des Oberlandesgerichts nicht ausgeschlossen.
Begründung:
Mit seit 28. März 2022 rechtswirksamer Anklageschrift vom 6. August 2021 (ON 4359, ON 4382) werden Mag. * das Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 3 zweiter Fall StGB (I./) und die Vergehen nach § 255 Abs 1 Z 4 und 5 AktG idF BGBl I 120/2005, § 12 zweiter Fall StGB (III./ und IV./) sowie Mag. * das Verbrechen der Untreue nach §§ 12 dritter Fall, 153 Abs 1 und Abs 3 zweiter Fall StGB (II./) und die Vergehen nach § 255 Abs 1 Z 4 und 5 AktG idF BGBl I 120/5 (III./) zur Last gelegt. Gegenstand der Punkte I./ und II./ der Anklageschrift sind die im Zeitraum 2. Mai 2007 bis 22. August 2007 erfolgten wirtschaftlich unvertretbaren Vergaben zahlreicher unbesicherter Darlehen in Höhe von insgesamt 835,547 Millionen Euro durch die I* (IE*) und die I* (IF*) für den Ankauf ausschließlich von IE*- und IF*-Aktien ohne Risikostreuung trotz fallender Kurse, der Punkte III./ und IV./ Falschinformationen an den Aufsichtsrat und die Abschlussprüfer.
Das Verfahren behängt beim Landesgericht für Strafsachen Wien als Schöffengericht zu AZ 121 Hv 12/21b.
Bereits im – auch zahlreiche andere Komplexe umfassenden – Ermittlungsverfahren hatten sich beginnend mit dem Jahr 2008 hunderte (ehemalige) Aktionäre der IE* und der IF* als Privatbeteiligte angeschlossen. Der geltend gemachte Schaden resultiere im Wesentlichen aus den Kursverlusten.
Vor Beginn der Hauptverhandlung wurden von der Vorsitzenden hunderte Privatbeteiligtenanschlüsse mangels zivilrechtlichen Anspruchs gemäß § 67 Abs 4 Z 1 StPO als unzulässig und offensichtlich unberechtigt zurückgewiesen. In jenen Fällen, in denen mehrere Geschädigte von einem Rechtsanwalt vertreten wurden, wurden die Beschlüsse quasi „pro Rechtsanwalt“ gefasst.
Von den von den Beschlüssen vom 16. August 2023 (ON 4419, 4424 und 4425), 25. August 2023 (ON 5490 und 6393) und 30. August 2023 (ON 6227) Betroffenen wurden Beschwerden erhoben, die dem Oberlandesgericht Wien (als Wiederläufer) zu den im Spruch angeführten Aktenzahlen zur Bearbeitung vorgelegt wurden, Berichterstatterin ist *.
Mit Schreiben vom 6. Dezember 2023 zeigte * ihre allfällige Befangenheit nach § 43 Abs 1 Z 3 StPO an. Unter den vom Beschluss ON 4419 umfassten (auf den Seiten 1 bis 107 aufgezählten hunderten) Geschädigten finde sich auf Seite 8 auch der Name S*, die sich mit Schriftsatz vom 16. Mai 2010 (ON 2570) – soweit nachvollziehbar – mit einem Betrag von EUR 28.136,32 (bei einem Portfolio in Höhe von damals EUR 11.670,--) angeschlossen hatte, im Schriftsatz ON 3176 finden sich nähere Angaben zu dieser Person, es handle sich um die Richterin des Oberlandesgerichtes Wien * S*.
Sie sei mit * S* – über den gelegentlichen beruflichen Umgang hinaus – nicht privat befreundet.
Da Gegenstand der sie betreffenden Beschwerde (AZ 23 Bs 286/23m) wie auch der weiteren fünf Beschwerden allein die (idente) Rechtsfrage sei, ob sie sich als Privatbeteiligte dem Verfahren anschließen könne, lägen objektiv auch im Hinblick auf den nicht unerheblichen Betrag möglicherweise Gründe vor, die an ihrer Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit Zweifel aufkommen lassen, wenngleich sie sich subjektiv nicht befangen fühle.
Rechtliche Beurteilung
Unter Bezugnahme auf die Anzeige der Berichterstatterin des Verfahrens zeigte die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, die für die Entscheidung über das Vorliegen eines Ausschließungsgrundes zuständig ist, den Sachverhalt an. Ein möglicher Anschein der objektiven Befangenheit träfe auch für die Präsidentin und alle anderen Richter und Richterinnen des Oberlandesgerichts zu. Von der Einholung gesonderter Erklärungen werde daher abgesehen.
Die Präsidentin des Oberlandesgerichts ist nicht ausgeschlossen.
Nach ständiger Rechtsprechung liegt Befangenheit nicht nur vor, wenn ein Richter an eine ihm zukommende Tätigkeit nicht mit voller Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit herantreten kann, sondern es genügt der äußere Anschein einer Hemmung vor unparteiischer Bearbeitung durch sachfremde psychologische Momente (20 Ns 3/14t mwN). Befangenheit ist somit entweder eine tatsächliche Hemmung der unparteiischen Entscheidung durch unsachliche psychologische Motive oder aber eine besondere Fallgestaltung, die einen unbefangenen Außenstehenden begründeterweise an der unparteiischen Entscheidungsfindung zweifeln lassen kann (RS0114514 [T1]).
Im Anlassfall kommt nach den Angaben der Präsidentin nur der objektive Anschein einer Befangenheit in Betracht. Nach ständiger Rechtsprechung ist zwar bei der Prüfung der Unbefangenheit im Interesse des Ansehens der Justiz ein strenger Maßstab anzulegen; es genügt, dass eine Befangenheit mit Grund befürchtet werden muss – auch wenn der Richter tatsächlich unbefangen sein sollte – oder dass bei objektiver Betrachtungsweise auch nur der Anschein einer Voreingenommenheit entstehen könnte. Bei der Beurteilung der Fairness eines Verfahrens ist auch der äußere Anschein von Bedeutung; Gerechtigkeit soll nicht nur geübt, sondern auch sichtbar geübt werden. Die Vermutung spricht aber für die Unparteilichkeit eines Richters, solange nicht Sachverhalte dargetan werden, die das Gegenteil annehmen lassen. Insbesondere bei größeren Gerichten reicht demnach der Umstand, dass ein nicht demselben Senat angehörender Kollege durch ein anhängiges Verfahren involviert sein könnte, für sich allein nicht aus, die Befangenheit aller anderen Mitglieder dieses Gerichts auch dann anzunehmen, wenn sie darlegen, mangels weiterer als beruflicher Kontakte mit diesem Kollegen nicht befangen zu sein (6 Ob 223/07y; RS0046129).
Im Oberlandesgericht Wien sind 97 Richterplanstellen systemisiert. Derzeit sind 104 Richter und Richterinnen aktiv tätig. Anders als bei kleinen Gerichten liegt daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände kein äußerer Anschein der Befangenheit vor. Solche besonderen Umstände sind hier nicht erkennbar: Auch ein unbefangener Beobachter kann nicht davon ausgehen, dass sich mit dem besonderen Schutz der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit ausgestattete Richter eines Gerichtshofs in einem Massenverfahren nur deshalb von unsachlichen Motiven leiten lassen, weil eine Richterin des Gerichtshofs als eine von hunderten Privatbeteiligten ihre vermögensrechtlichen Ansprüche im Verfahren geltend macht.
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