OGH 12Os98/23p

OGH12Os98/23p19.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Oktober 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Besic im Strafverfahren gegen * S* wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs 4 StGB und weiterer strafbarer Handlungen und im Verfahren zur strafrechtlichen Unterbringung des Genannten in einem forensisch‑therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 2 StGB, AZ 31 HR 186/23d des Landesgerichts Wiener Neustadt, über den Antrag des Betroffenen auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0120OS00098.23P.1019.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Grundrechte

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Beschluss vom 3. August 2023, AZ 22 Bs 192/23f, gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht der Beschwerde des Betroffenen * S* gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 21. Juli 2023, GZ 31 HR 186/23d‑43, mit dem die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Tatbegehungs‑ und Tatausführungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b und d StPO unter Annahme derselben Haftgründe in eine vorläufige Unterbringung nach § 431 Abs 1 StPO umgewandelt wurde, nicht Folge und ordnete deren Fortsetzung aus denselben Haftgründen an.

[2] Nunmehr begehrt der Betroffene – gestützt auf den erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – die „Erneuerung des Haftprüfungsverfahrens“ mit der Behauptung einer Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK mangels Anwesenheit des Verteidigers bei der Befundaufnahme durch die Sachverständige sowie – der Sache nach – nach Art 5 MRK.

Rechtliche Beurteilung

[3] Nach ständiger Rechtsprechung ist zwar eine Planwidrigkeit des § 363a StPO anzunehmen und Lückenschließung dahin geboten, dass es eines Erkenntnisses des EGMR für eine Erneuerung des Strafverfahrens nicht bedarf, womit auch eine vom Obersten Gerichtshof selbst – aufgrund eines Erneuerungsantrags – festgestellte Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichts dazu führen kann (RIS-Justiz RS0122228, RS0122229 [T2]). Dabei handelt es sich aber um einen subsidiären Rechtsbehelf (RIS‑Justiz RS0122737; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 11.120), weshalb in Ansehung des als verletzt betrachteten Grundrechts auf persönliche Freiheit (Art 5 MRK) ausschließlich die Bestimmungen des GRBG zur Anwendung gelangen, die insoweit den Rechtszug an den Obersten Gerichtshof ausdrücklich regeln (RIS‑Justiz RS0123350 [T1], RS0122737 [T26]; Rebisant, WK-StPO §§ 363a–363c Rz 49).

[4] Vom Schutzbereich des Art 6 MRK werden Verfahren über die „Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage“, mithin Entscheidungen über die Schuld oder Nichtschuld erfasst, nicht aber Verfahren, innerhalb derer Maßnahmen im Rahmen eines Strafprozesses (hier: die Fortsetzung der vorläufigen Unterbringung) überprüft werden (RIS‑Justiz RS0120049 und RS0121601, zuletzt 13 Os 44/21a; Grabenwarter/Pabel EMRK7 § 24 Rz 4, 27).

[5] Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Stichworte