OGH 4Ob173/23d

OGH4Ob173/23d17.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der betroffenen Person R*, geboren * 1982, *, vertreten durch die Wohlmuth Rechtsanwalts KG in Leibnitz, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der betroffenen Person gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 18. Juli 2023, GZ 2 R 124/23d‑27, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00173.23D.1017.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Erwachsenenschutzrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1. Das zentrale Anliegen des Erwachsenenschutzrechtes besteht darin, die Autonomie einer schutzberechtigten Person möglichst umfassend zu wahren und dementsprechend die Selbstbestimmung im größtmöglichen Umfang so lange wie möglich aufrecht zu erhalten (4 Ob 115/19v). Dementsprechend soll die betroffene Person vorrangig durch die erforderliche Unterstützung selbst in die Lage versetzt werden, ihre Angelegenheiten zu besorgen und am Rechtsverkehr teilzunehmen. Daraus ist der Grundsatz der Subsidiarität der Erwachsenenvertretung abzuleiten; die Selbstbestimmung hat grundsätzlich Vorrang vor der Bestellung eines Erwachsenenvertreters (4 Ob 180/18a). Nach diesem Grundsatz kann ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter überhaupt nur dann bestellt werden, wenn eine ausreichende Unterstützung des Betroffenen nicht möglich ist und die Vertretung zur Wahrung ihrer Rechte unvermeidlich ist (4 Ob 75/20p).

[2] 1.2. Die Beurteilung der Frage, ob genügend Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters vorliegen, ist immer nach den konkreten Tatumständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0106166 [insb T12] = RS0087091 [T5]); Gleiches gilt für die Frage, in welchem Umfang ein solcher zu bestellen ist (vgl RS0106744 [T1]).

[3] 2.1. Hier hat die Leitung der Wohnassistenz, von der der Betroffene betreut wurde, die Einleitung eines Verfahrens zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters mit der Begründung angeregt, dass der Betroffene nicht arbeitsfähig sei, als Einkommen nur über eine Notstandshilfe verfüge, Schulden in bis zu sechsstelliger Höhe habe, weiters Mietschulden bestünden und die Räumung der Wohnung bewilligt worden sei sowie der Versuch eines betreuten Kontos bereits gescheitert wäre.

[4] Nach Einholung eines Clearingberichts, in welchem die Einholung eines Sachverständigengutachtens empfohlen wurde, und nach Erstanhörung bestellte das Erstgericht eine Rechtsbeiständin nach § 119 AußStrG.

[5] 2.2. Auch aufgrund des vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachtens steht fest, dass der Betroffene unter einer Autismus-Spektrum-Störung/Asperger-Syndrom und einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig mittelgradig depressiver Episode leidet; er ist nicht ausreichend in der Lage, kritisch abzuwägen, sich einen Überblick zu verschaffen und eine freie Willensbildung vorzunehmen. Er ist in seiner Entscheidungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt und somit nicht in der Lage, einzelne seiner Angelegenheiten ohne die Gefahr eines Nachteils für sich zu besorgen; er benötigt daher eine Vertretung für die Einkommens- und Vermögensverwaltung, vor Ämtern, Gerichten, Sozialversicherungsträgern und Behörden sowie für Rechtsgeschäfte, die über das tägliche Ausmaß hinausreichen. Seine finanziellen Angelegenheiten kann der Betroffene aktuell nicht selbst regeln. Zudem bestehen aufgrund der psychopathologischen Auffälligkeiten deutliche Hinweise, dass der Betroffene zu irrationalen Verhaltensweisen neigt und damit die ernstliche Gefahr, dass der Betroffene in Zukunft selbstschädigende Rechtsgeschäfte mit erheblichem Vermögensschaden abschließen könnte. Aus dem privaten sozialen Umfeld des Betroffenen sind keine ihm nahestehenden Personen bekannt, die ihn bei den genannten Angelegenheiten unterstützen könnten.

[6] 3.1. Die Vorinstanzen bestellten die bisherige Rechtsbeiständin, eine bei der Vertreterin des Betroffenen beschäftigte Rechtsanwaltsanwärterin, zur gerichtlichen Erwachsenenvertreterin und legten deren Wirkungsbereich mit der Vertretung vor Behörden und Gerichten (einschließlich des anhängigen Räumungsverfahrens), der Verwaltung von Einkünften, einschließlich Verfügungen über Girokonten, sowie der Vertretung „bei Verbindlichkeiten“ und bei Rechtsgeschäften, die über das tägliche Maß hinausreichen, fest.

[7] 3.2. Dies hält sich im Rahmen des Gesetzes und des den Gerichten im Einzelfall notwendigerweise zukommenden Beurteilungsspielraums.

[8] 4. Der außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen wendet sich nur gegen die Zuweisung des Wirkungsbereichs „Verwaltung von Einkünften, einschließlich Verfügungen über Girokonten“ an die Erwachsenenvertreterin. Er führt ins Treffen, er sei entgegen den Feststellungen sehr wohl in der Lage, seine finanzielle Situation gut zu überblicken, sein Einkommen zu verwalten und daraus seine monatlichen Fixkosten insbesondere für das Wohnen zu bestreiten. Die selbstständige Verwaltung seiner finanziellen Angelegenheiten wäre für ihn ein „Erfolgserlebnis“, der Verlust dieser Kompetenz sei ein „Rückschlag“ und wirke sich nachteilig auf seinen psychischen Zustand aus. Maximal käme für ihn ein „betreutes Konto“ in Frage; die gänzliche Entziehung der Selbstbestimmung in diesem Bereich sei unvertretbar.

[9] Damit werden keine erheblichen Rechtsfragen aufgezeigt:

[10] 4.1. Der Betroffene übergeht, dass ihm nach Aktenlage und Feststellungen bislang weder der Umgang mit seinen beträchtlichen Schulden noch die regelmäßige Zahlung der Miete und damit der Erhalt seiner Wohnmöglichkeit gelungen ist. Dass im Rekurs ebenso wie nunmehr im – diesen anscheinend zitierenden („Pkt 2.1“) – Revisionsrekurs die Einkommens- und Ausgabensituation dargelegt wird, vermag nicht konkret aufzuzeigen, inwieweit der Betroffene trotz gegenteiliger Feststellungen einen „guten Überblick“ über seine finanzielle Lage haben und behalten oder zu einer nachhaltigen, seine Interessen wahrenden Verwaltung und Verwendung seines Einkommens, insbesondere auch im Lichte seiner Schulden und der Sicherung einer Wohnmöglichkeit, in der Lage sein sollte.

[11] 4.2. Die im Revisionsrekurs ebenso wie schon im Rekurs angesprochene psychische Belastung durch die Festlegung des Wirkungsbereichs findet in den Feststellungen ebenfalls keine Deckung und lässt zudem nicht erkennen, dass der Betroffene sein Recht und seinen Wunsch nach Selbstbestimmung in der derzeitigen Situation auch konkret umsetzen könnte, ohne sich selbst zu schaden.

[12] 4.3. Erstmals im Revisionsrekurs werden „etwaige andere Unterstützungsmöglichkeiten“ angesprochen, ohne auszuführen, worin solche bestehen und welchen Beitrag sie leisten könnten, um die finanziellen Probleme des Betroffenen aktuell zu bewältigen.

[13] 4.4. Insgesamt ist in der derzeitigen Lage die Umschreibung des Wirkungsbereichs der gerichtlichen Erwachsenenvertreterin ebenso vertretbar und nicht korrekturbedürftig wie der Umstand, dass die Vorinstanzen ein „betreutes Konto“ iSd § 239 Abs 2 ABGB nicht neuerlich in Erwägung zogen.

[14] 5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

Stichworte