European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00081.23V.0928.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich seines unangefochtenen in Rechtskraft erwachsenen Teils lautet:
„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 24. Februar 2020 eine Waisenpension nach seinem am 23. Februar 2020 verstorbenen Vater im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.
2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids für die Zeit von 24. Februar 2020 bis 31. Juli 2021 eine vorläufige Zahlung von 200 EUR monatlich binnen 14 Tagen zu erbringen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 609,67 EUR (darin 101,61 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 499,58 EUR (darin 83,27 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des 1994 geborenen Klägers auf eine Waisenpension nach seinem am 23. Februar 2020 verstorbenen Vater.
[2] Im Revisionsverfahren ist nicht mehr strittig, dass beim Kläger die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht und er Anspruch auf die begehrte Pension hat. Offen ist nur, ob sie bereits mit dem dem Tod seines Vaters folgenden Tag oder erst ab Antragstellung (6. Dezember 2021) zusteht (§ 86 Abs 3 Z 1 ASVG).
[3] Beim Kläger wurden bereits im Alter von sechs Jahren ein ADHS‑Syndrom, Konzentrationsstörungen sowie ein Schulleistungsdefizit diagnostiziert. Spätestens ab Ende 2011 war er nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachzugehen. Im Jahr 2016 wurde sodann eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung und im Jahr 2017 erstmals eine paranoide Schizophrenie beschrieben. Derzeit leidet er an einer paranoiden Schizophrenie und einer Polytoxikomanie (Cannabis, Opioide, Alkohol). Seit August 2021 befindet er sich in Strafhaft.
[4] Mit Bescheid vom 13. Dezember 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 6. Dezember 2021, ihm die Waisenpension nach seinem Vater zu gewähren, mangels Erwerbsunfähigkeit ab.
[5] Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 6. Dezember 2021 eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu zahlen, die jedoch für den Zeitraum seiner Inhaftierung (ab August 2021) ruhe.
[6] Das nur vom Kläger angerufene Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es stellte ergänzend fest, dass für den Kläger mit Beschlüssen des Bezirksgerichts Graz‑West vom 7. Mai 2019, 5. Jänner 2021 und 7. Mai 2021 (zeitlich aufeinanderfolgend) ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter nach §§ 271, 272 ABGB, unter anderem für die Vertretung vor Ämtern und Behörden, bestellt wurde. Daraus sowie den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen leitete es ab, dass der Kläger zumindest seit dem Tod seines Vaters in seiner Geschäftsfähigkeit eingeschränkt sei. Zwar seien in ihrer Entscheidungsunfähigkeit beeinträchtigte Erwachsene ebenso schutzbedürftig wie Minderjährige. Durch die Bestellung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters habe der Kläger jedoch am Rechtsverkehr teilnehmen können, was nach der Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB einer Fristenhemmung entgegenstehe. Im Gleichklang damit sei auch § 86 Abs 3 Z 1 ASVG so auszulegen, dass die dort normierte Sechsmonatsfrist für die Antragstellung, bei deren Einhaltung die Waisenpension schon ab dem dem Tod des Elternteils folgenden Tag zustehe, auch dann zu laufen beginne, wenn für den Hinterbliebenen ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt sei, in dessen Aufgabenbereich die Antragstellung falle. Angesichts dessen sei die Frist des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG im Anlassfall spätestens mit der Bestellung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters vom 5. Jänner 2021 in Gang gesetzt worden, sodass das Erstgericht die Pension zu Recht erst ab dem Tag der Antragstellung zuerkannt habe.
[7] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, wann die Frist des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG beginne, wenn für den Antragsteller ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt sei, noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
[8] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Zuerkennung der Waisenpension schon ab 24. Februar 2020 anstrebt. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
[9] Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.
[11] 1. Hinterbliebenenpensionen fallen grundsätzlich mit dem dem Todestag folgenden Tag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt wird, bei späterer Antragstellung mit dem Tag der Antragstellung (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 und 2 ASVG). Ist die anspruchsberechtigte Person bei Ablauf dieser Frist minderjährig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt, so endet die Frist hingegen mit Ablauf von sechs Monaten nach Eintritt der Volljährigkeit oder dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG).
[12] 2. Wie der Kläger zu Recht einwendet, hängt der Beginn des Fristenlaufs nach dem Wortlaut des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG nur davon ab, dass einerseits Minderjährige die Volljährigkeit und anderseits eingeschränkt Geschäftsfähigeihre volle Geschäftsfähigkeit wiedererlangen. In keinem der beiden Fälle stellt das Gesetz hingegen darauf ab, ob der Antragsteller über einen gesetzlichen Vertreter oder einen Erwachsenenvertreter verfügt, der den Antrag auf Gewährung der Waisenpension für ihn stellen kann, sodass er mit Hilfe des Vertreters am Rechtsverkehr teilnehmen kann.
[13] 3. Das Berufungsgericht und ihm folgend die Beklagte stellen das zwar nicht in Frage. Sie gehen aus systematischen Erwägungen im Zusammenhang mit §§ 239 ff und § 1494 ABGB jedoch davon aus, dass die Regelung trotz des keine Einschränkungen in diese Richtung aufweisenden Wortlauts nur solche nicht voll geschäftsfähige Personen erfasse, die keinen gesetzlichen Vertreter haben.
[14] 4. Die dafür ins Treffen geführten Argumente überzeugen jedoch nicht.
[15] 4.1. Wie schon das Berufungsgericht ausgeführt hat, wurde die Möglichkeit der rückwirkenden Antragstellung erstmals mit dem SRÄG 1993 (BGBl 1993/335) geschaffen. Nach § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des SRÄG 1993 fiel die Waisenpension im Fall einer nicht fristgerechten (dh innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod des Elternteils) erfolgten Antragstellung mit dem Eintritt des Versicherungsfalls bzw dem darauf folgenden Monatsersten an, sofern der Antrag längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wurde. Zu dieser Rechtslage verwies der Oberste Gerichtshof wiederholt darauf, dass das erklärte Ziel dieser Regelung darin lag, minderjährige Waisen, die selbst keinen Antrag stellen können, vor Rechtsverlusten infolge einer verspäteten Antragstellung ihrer gesetzlichen Vertreter zu schützen (ErläutRV 932 BlgNR 28. GP 48; 10 ObS 91/06i SSV‑NF 20/41; 10 ObS 92/97w SSV‑NF 11/156; 10 ObS 260/95 SSV‑NF 10/6). Der Oberste Gerichtshof stellte auch mehrfach klar, dass diese Regelung nur Minderjährige, nicht aber Person erfasste, die wegen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage waren, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen (RS0053931 [T1, T4]).
[16] 4.2. Mit Erkenntnis vom 4. Dezember 2017, G 125/2017, VfSlg 20.224, hob der Verfassungsgerichtshof in § 86 Abs 3 Z 1 idF BGBl I 2015/2 im ersten Satz die Wortfolge „wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls gestellt wird“ und den zweiten bis sechsten Satz (mit Wirkung vom 30. Juni 2018) als verfassungswidrig auf. Die Gleichheitswidrigkeit erkannte er darin, dass sich eine aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts‑ oder prozessunfähige (volljährige) Person in einer mit einer minderjährigen Person rechtlich vergleichbaren Lage befinde, weshalb kein sachlicher Grund dafür zu erkennen sei, dass der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für Minderjährige, nicht aber für den genannten Kreis von volljährigen Personen vorsehe. Da der Gesetzgeber bei der Ausnahmeregelung zum Beginn der Antragsfrist geschäftsunfähige Erwachsene unberücksichtigt gelassen habe, also eine insofern notwendige Ausnahme fehle, könne der verfassungsmäßige Zustand nur durch Beseitigung der Regel hergestellt werden (ausführlich dazu 10 ObS 73/20p SSV‑NF 34/52).
[17] 4.3. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit Schaffungdes – seit 15. August 2018 geltenden– § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz für den Bereich des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (ErwSchAG BMASGK), BGBl I 2018/59. Nach den Gesetzesmaterialien (Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales) sollte dabei nur die vom Verfassungsgerichtshof aufgezeigte Ungleichbehandlung geschäftsunfähiger volljähriger Personen beseitigt, diese also gleich behandelt werden wie Minderjährige (AB 231 BlgNR 26. GP 2). Dafür, dass mit dem ErwSchAG BMASGK die zuvorausschließlichfür Minderjährige vorgesehene Ausnahmeregelung nicht nur auf eingeschränkt geschäftsfähige volljährige Personen ausgedehnt, sondern dass die Rechtslage im Vergleich zur vorherigen inhaltlich geändert werden sollte, finden sich keine Anhaltspunkte. Entgegen der Ansicht der Beklagten spricht vor dem Hintergrund der eindeutigen Materialien nichts dafür, dass von der Neufassung des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG nur mehr unvertretene Personen erfasst sein sollten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber sein ursprüngliches Ziel, Minderjährige vor der Säumigkeit ihres gesetzlichen Vertreters zu schützen aufgegeben haben soll. Vielmehr sollte die Sonderregel auf eingeschränkt geschäftsfähige volljährige Personen ausgedehnt werden, ohne dass in diesem Fall ein anderer Schutzgedanke ins Treffen geführt worden wäre.
[18] 4.4. Daranändern auch die vom Berufungsgericht angestellten systematischen Überlegungen im Zusammenhang mit § 1494 Abs 1 ABGB nichts.
[19] Nach der, mit dem 2. Erwachsenenschutz‑Gesetz (2. ErwSchG), BGBl I 2017/59, novellierten Bestimmung des § 1494 Abs 1 ABGB soll die Ersitzungs‑ und Verjährungszeit gegenüber einer volljährigen, in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigten Person nicht nur mit dem Wiedererlangen der Entscheidungsfähigkeit, sondern auch dann zu laufen beginnen, wenn ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann. Der Gesetzgeber stellt in diesem Kontextalso die Möglichkeit der Wahrnehmung von Rechten durch einen gesetzlichen Vertreter dem Wiedererlangen der Entscheidungsfähigkeit gleich. Daraus kann aber noch nicht auf eine (planwidrige) Unvollständigkeit des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG geschlossen werden. Mit demErwSchAG BMASGK – mit dem § 86 Abs 3 Z 1 ASVG novelliert wurde – sollten nämlich die Materiengesetze bloß an die durch das 2. ErwSchG eingeführten Vertretungsmodelle und dessen Terminologie angepasst werden (AB 231 BlgNR 26. GP 2). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass dem Gesetzgeber die mit dem 2. ErwSchG geschaffene Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB bekannt war und er in § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG bewusst keine gleichlautende Regelung geschaffen, sondern nur auf das Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit abgestellt hat. Die Voraussetzungen für eine Gesetzeslücke liegen daher nicht vor. Dass § 86 Abs 3 Z 1 ASVG eine über § 1494 ABGB hinausgehende Spezialnorm ist, nach der es nicht darauf ankommt, ob für den Anspruchsberechtigten ein gesetzlicher Vertreter bestellt ist, entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den beiden Vorgängerbestimmungen (10 ObS 92/97w SSV‑NF 11/156).
[20] 5. Zusammenfassend folgt aus dem Wortlaut, der historischen Entwicklung und teleologischen Erwägungen, dass durch § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG Minderjährige und eingeschränkt geschäftsfähige Erwachsene vor denselben Gefahren geschützt werden sollen. Da dazu die Säumigkeit eines gesetzlichen Vertreters mit der Antragstellung zählt, besteht auch für durch einen Erwachsenenvertreter vertretene Erwachsene die(‑selbe) Möglichkeit einer rückwirkenden Antragstellung.
[21] Insgesamt lässt sich daher folgender Rechtssatz formulieren: Für einen bei Ablauf der Frist des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 ASVG in seiner Geschäftsfähigkeit beeinträchtigten Antragsteller beginnt die sechsmonatige Antragsfrist auch dann erst mit Wiedererlangung der vollen Geschäftsfähigkeit zu laufen, wenn für ihn ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt ist.
[22] 6. Der Revision ist daher Folge zu geben und dem Klagebegehren bereits ab 24. Februar 2020 stattzugeben. Die unrichtigerweise anders formulierte, aber als Grundurteil zu deutende Entscheidung der Vorinstanzen (vgl RS0115846; Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 89 ASGG Rz 7) war dabei entsprechend den Vorgaben des § 89 Abs 2 ASGG neu zu fassen. Die Feststellung des Ruhens des Anspruchs (infolge der Inhaftierung der Klägers) setzt einen darüber ergangenen, hier nicht vorliegenden Bescheid der Beklagten voraus und kann im Übrigen auch anlässlich der Festsetzung der Anspruchshöhe berücksichtigt werden (10 ObS 235/92 SSV‑NF 6/116; Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 89 ASGG Rz 6).
[23] Im Verfahren erster Instanz wurden keine Kosten verzeichnet. Die Kostenentscheidung im Rechtsmittelverfahren beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG. Für das Berufungsverfahren beträgt der Einheitssatz nur 325,26 EUR und der ERV‑Zuschlag nur 2,10 EUR (RS0126594).
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