OGH 4Ob136/23p

OGH4Ob136/23p12.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder J*, geboren * 2014, und C*, geboren * 2015, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Eltern V* und G*, beide *, vertreten durch Mag. Rainer Mauritz, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 21. Juni 2023, GZ 43 R 253/23h-44, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 2. Mai 2023, GZ 1 Ps 34/23m-37, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00136.23P.0912.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben.

 

Begründung:

[1] Aufgrund von Gefährdungsmeldungen der Schule beantragte der Kinder- und Jugendhilfeträger die Übertragung der Obsorge über die minderjährigen Geschwister von den Eltern an ihn. Die Kinder wurden daraufhin über behördliche Anordnung in ein Krisenzentrum gebracht, sind von dort jedoch entwichen und werden nunmehr von den Eltern verborgen, um sie – nach eigenen Angaben – vor der Abnahme durch den Kinder- und Jugendhilfeträger zu schützen.

[2] Das Erstgericht trug den Eltern mit Beschluss vom 27. 3. 2023 auf, die Kinder ehestmöglich in das Krisenzentrum (zurück) zu bringen. Mit Beschluss vom 2. 5. 2023 wurde ihnen dies neuerlich aufgetragen und für den Fall, dass die Kinder nicht längstens bis 10. 5. 2023, 10:00 Uhr, ins Krisenzentrum zurückgebracht werden, eine Geldstrafe von 500 EUR pro Elternteil verhängt.

[3] Das Rekursgericht bestätigte den letztgenannten Beschluss und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Aufgrund der Aussagen der Kinder selbst sei eine Gefährdungsabklärung jedenfalls erforderlich; und um der gerichtlichen Anordnung in Zukunft zum Durchbruch zu verhelfen, bedürfe es der Verhängung der ausgesprochenen Beugestrafe.

[4] Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Eltern mit dem Antrag, die Kindesabnahme für unzulässig zu erklären; in eventu wurde ein Aufhebungsantrag gestellt.

[5] Während des laufenden Revisionsverfahrens brachte der Kinder- und Jugendhilfeträger eine Eingabe ein, wonach der Antrag auf Betrauung mit der Obsorge für die beiden Kinder nicht aufrechterhalten werde. Es sei mittlerweile ein dermaßen langer Zeitraum vergangen, in dem der Vater die Kinder vor den Behörden versteckt halte, dass nunmehr keine weitere Gefährdungsabklärung zuzüglich des Krisenzentrums sinnvoll durchzuführen sei. Zielführender und dem Kindeswohl zuträglicher scheine daher, den Antrag nicht aufrechtzuhalten, um auf diese Weise zumindest sicherzustellen, dass die Kinder wieder durchgehend bei der Familie leben. So könne erneut versucht werden, eine geordnete Kommunikationsbasis mit der Familie zu entwickeln, um darauf aufbauend ambulante Maßnahmen zu setzen und Unterstützung anzubieten, die auch angenommen werden könne. Das Gericht werde ersucht, der Familie anzuordnen, mit der Kinder- und Jugendhilfe zusammenzuarbeiten und eine psychologische Abklärung und eventuell weiterführende Unterstützung der Kinder zuzulassen.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Revisionsrekurs ist zulässig und mit seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt:

[7] 1.1. Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss sind von der Rechtsmittelinstanz (auch vom Obersten Gerichtshof) zu berücksichtigen, wenn dies das Interesse der pflegebefohlenen Kinder erfordert (RS0006893).

[8] 1.2. Im vorliegenden Fall erfordert es das Interesse der beiden Kinder, die in der nachträglichen Eingabe des Kinder- und Jugendhilfeträgers dargelegten Umstände zu berücksichtigen, zumal damit der dem gesamten Verfahren zugrundeliegende Antrag zurückgezogen wird, was auch die vorläufige Obsorge des Kinder- und Jugendhilfeträgers nach § 211 ABGB und letztlich auch die Verbringung der Kinder in das Krisenzentrum hinfällig macht.

[9] 2.1. § 107 Abs 3 AußStrG räumt dem Pflegschaftsgericht die Befugnis ein, entweder auf Antrag oder von Amts wegen erforderliche Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls aufzutragen. Sie sind allerdings nur im Zusammenhang mit einem Verfahren auf Regelung oder zwangsweise Durchsetzung der Obsorge oder des Kontaktrechts möglich (Einberger in Schneider/Verweijen, AußStrG § 107 Rz 19). In diesem Verfahren besteht aufgrund der Zurückziehung des Obsorgeantrags kein Anlass (mehr) zur zwangsweisen Anordnung von Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG.

[10] 2.2. Allerdings regen die Eltern selbst an (Schriftsatz ON 9), dass andere, unterstützende Erziehungsmaßnahmen eingeleitet werden, etwa Elternschulungsmaßnahmen, psychologische Gespräche, mobile Familienhilfe zur Anleitung praktischer lebensbegleitender Maßnahmen.

[11] 2.3. Nachdem hier kein Antrag auf Obsorgeentziehung bzw -übertragung mehr besteht und aufgrund der Zustimmung des Kinder- und Jugendhilfeträgers zur Elternbetreuung auch die Verbringung der Kinder in das Krisenzentrum – ebenso wie die Verhängung von Beugestrafen – hinfällig ist, sind die Beschlüsse der Vorinstanzen ersatzlos zu beheben und mangels offener Obsorge- oder Kontaktrechtsanträge derzeit auch keine Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG zu treffen. Die vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger sowie auch von den Eltern selbst angeregten Maßnahmen sind nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte