OGH 10ObS52/23d

OGH10ObS52/23d22.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Lena Steiger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid‑Wilches (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, Deutschland, vertreten durch Mag. Claus Marchl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. März 2023, GZ 9 Rs 108/22 a‑23, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00052.23D.0822.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Unionsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin befindet sich seit 1. 9. 2012 in einem aufrechten Arbeitsverhältnis zu einem Arbeitgeber in Österreich. Sie war bis 25. 7. 2018 in Österreich „hauptwohnsitzlich“ gemeldet. Mit diesem Tag zog sie zu ihrem Ehemann nach Deutschland und verlegte dorthin ihren Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt. Der Ehemann der Klägerin wohnt in Deutschland und ist in Frankreich selbständig erwerbstätig.

[2] Der Sohn der Klägerin wurde am 6. 9. 2018 geboren. Die Klägerin bezog von 6. 9. 2018 bis 13. 11. 2018 Wochengeld in Höhe von 79,35 EUR täglich. Sie lebt mit ihrem Sohn in aufrechter Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Adresse in Deutschland, wo auch beide „hauptwohnsitzlich“ gemeldet sind. Mit dem österreichischen Arbeitgeber vereinbarte die Klägerin bis 1. 4. 2020 eine (später verlängerte) Karenz.

[3] Ein Antrag auf (deutsches) Kindergeld wurde von der Familienkasse Bayern Nord mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin übe eine Erwerbstätigkeit in Österreich und ihr Ehegatte in Frankreich aus. Mit Schreiben vom 28. 9. 2021 teilte die Österreichische Gesundheitskasse dem Centre des liaisons européennes et internationales de sécurité sociale in Paris mit, dass sie sich nach Prüfung der ihr vorliegenden Unterlagen nicht für die Zahlung von Familienleistungen für den Sohn der Klägerin zuständig erachte. Eine Entscheidung über den Antrag auf französische Familienleistungen vom 4. 5. 2021 liegt nicht vor.

[4] Die erste bis sechste Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung sowie deren Nachweise erfolgten rechtzeitig. Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen fanden nach den Feststellungen am 10. 1. 2018, 27. 2. 2018 und 3. 4. 2018 in Österreich statt. Darauf folgten die Untersuchungen in Deutschland im März (9. 3. 2018 und 25. 3. 2018), Mai, Juni, Juli, August und September 2018, die auch in den deutschen Mutterpass eingetragen wurden. Die Nachweise über die Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen sieben bis zehn wurden der Beklagten bis zur Erlassung des nun angefochtenen Bescheids vom 4. 3. 2022 nicht vorgelegt.

[5] Mit Bescheid vom 4. 3. 2022 sprach die beklagte Österreichische Gesundheitskasse aus, dass der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld für die Dauer des Wochengeldbezugs ruhe. Den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 14. 11. 2018 bis 5. 9. 2019 wies die Beklagte ab. „Der prozessualen Vorsicht halber“ hielt die Beklagte fest, dass sich ein allfälliger Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld mangels Nachweises der Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen sieben bis zehn um 1.300 EUR reduzieren würde.

[6] Das Erstgericht erkannte der Klägerin Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für ihren Sohn für den Zeitraum von 6. 9. 2018 bis 5. 9. 2019 in Höhe von 63,48 EUR pro Tag zu, wobei der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum von 6. 9. 2018 bis 13. 11. 2018 gemäß § 6 Abs 1 KBGG im Ausmaß von 79,35 EUR täglich ruhe, und sich der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld gemäß § 3 Abs 4 KBGG insgesamt um 1.300 EUR reduziere. Die Karenz der Klägerin sei keine Scheinkarenz im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG, sondern eine im Sinn des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 gleichgestellte Zeit. Österreich sei daher zur Gewährung von Familienleistungen nach der VO (EG) 883/2004 als Beschäftigungsland der Klägerin international und vorrangig zuständig. Daran ändere das Schreiben der Beklagten an den französischen Sozialversicherungsträger nichts, eine Entscheidung dieses Trägers liege nicht vor. Der Klägerin gebühre daher das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in der sich aus § 24a Abs 1 Z 1 KBGG ergebenden Höhe. Gemäß § 6 Abs 1 KBGG ruhe dieser Anspruch während des Bezugs des Wochengeldes. Die in Deutschland vorgesehenen Mutterpass‑Untersuchungen seien zwar als gleichrangig zu jenen nach dem Mutter‑Kind‑Pass anzusehen. Da die Klägerin aber der Beklagten keine Nachweise über die vorgesehenen Untersuchungen sieben bis zehn vorgelegt habe, reduziere sich ihr Anspruch um 1.300 EUR.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und der Berufung der beklagten Parteien mit der Maßgabe nicht Folge, dass die Beklagte (nur) vorläufig schuldig sei, der Klägerin Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in Höhe von 63,48 EUR täglich von 14. 11. 2018 bis 5. 9. 2018 abzüglich 1.300 EUR zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines weiteren Betrags an Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in Höhe von 1.300 EUR wies es ab. Von einer bloßen „Scheinkarenz“ der Klägerin könne nicht ausgegangen werden, vielmehr liege eine gleichgestellte Situation im Sinn des Art 24 Abs 2 KBGG vor. Da allerdings die Beklagte ihre Zuständigkeit für die Zahlung von Familienleistungen gegenüber dem französischen Sozialversicherungsträger verneint und dieser dazu nicht Stellung genommen habe, sei von einer Wirksamkeit dieser vorläufigen Entscheidung der Beklagten und damit einer vorrangigen Zuständigkeit Frankreichs zur Gewährung von Familienleistungen auszugehen. Dies ändere jedoch nichts daran, dass die nachrangig zuständige Beklagte nach Ablauf eines Zeitraums von maximal zwei Monaten gemäß Art 7 DVO (EG) 987/2009 verpflichtet sei, der Klägerin eine vorläufige Leistung zu erbringen, die gleich dem Betrag der höchsten Leistung nach den österreichischen Rechtsvorschriften zu sein habe. Komme es dabei zu Überzahlungen, seien diese später im Verfahren nach den Art 71 bis 74 DVO (EG) 987/2009 auszugleichen. Da die Klägerin die weiteren in § 7 Abs 1 KBGG vorgesehenen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen nicht (rechtzeitig) nachgewiesen habe (§ 24c Abs 1 KBGG), reduziere sich ihr Anspruch gemäß § 24a Abs 4 KBGG um 1.300 EUR. Diese Bestimmungen seien weder unions‑ noch verfassungsrechtswidrig.

Rechtliche Beurteilung

[8] In ihrer gegen die Abweisung des Mehrbegehrens erhobenen außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:

[9] 1.1 Die Klägerin macht geltend, dass Österreich nur nachrangig zur Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. Das in Deutschland eingerichtete Mutterpass‑System sei dem österreichischen Mutter‑Kind‑Pass‑System vergleichbar, sehe aber – anders als dieses – keine Nachweispflicht für Untersuchungen vor. Umso weniger könne es der Klägerin schaden, dass eine solche Nachweisverpflichtung nach österreichischem Recht bestehe.

[10] 1.2 Die VO (EG) 883/2004 , deren Zweck die Koordinierung der unterschiedlichen nationalen Sozialversicherungssysteme ist, lässt diese bestehen und schafft, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit. Somit sind die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig. In Ermangelung einer Harmonisierung auf Ebene der Europäischen Union bestimmt somit das Recht eines jeden Mitgliedstaats ua die Voraussetzungen für die Begründung von Ansprüchen auf Leistungen (vgl nur C‑132/18 , Vester, Rn 29 f mwH). Die Richtigkeit dieser vom Berufungsgericht vertretenen Rechtsansicht stellt die Revisionswerberin nicht in Frage.

[11] 1.3 Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin kommt es daher nicht darauf an, ob in Deutschland als Wohnsitzstaat der Klägerin eine Nachweispflicht für Untersuchungen nach dem Mutterpass besteht: Weder ist Deutschland im konkreten Fall zur Gewährung von Familienleistungen an die Klägerin zuständig, noch ist der in diesem Verfahren zu prüfende Anspruch der Klägerin nach deutschen Rechtsvorschriften zu beurteilen. Dem zentralen Argument des Berufungsgerichts, dass die Regelung der Nachweispflicht in § 24c Abs 1 Z 2 KBGG nicht die Freizügigkeit der Klägerin beeinträchtige und daher nicht unionsrechtswidrig sei, setzt die Revisionswerberin lediglich die nicht näher begründete Behauptung entgegen, formalistische Nachweisvorgaben seien dem Unionsrecht fremd, womit sie jedoch keine Korrekturbedürftigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts aufzeigt (vgl RS0043605).

[12] 2.1 Die Frage, ob der das Kinderbetreuungsgeld beziehende Elternteil den nicht rechtzeitigen Nachweis einer Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung zu vertreten hat, hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0130213 [T2]). Die Klägerin wendet sich nicht gegen die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass sie – wie vorgesehen – der Beklagten die Nachweise über die Durchführung der ersten sechs Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen gemeinsam mit dem Antrag auf Kinderbetreuungsgeld vorlegte und daraus sowie aus der Belehrung im Antrag für sie erkennbar war, dass auch die Nachweise über die weiteren gesetzlich vorgesehenen Untersuchungen vorzulegen seien. Sie führt dagegen auch in der außerordentlichen Revision lediglich an, dass ihr aufgrund der infolge des „Dreistaatenverhältnisses“ extrem komplizierten Rechtslage und den ihr gegenüber geäußerten „Unzuständigkeiten“ nicht vorgeworfen werden könne, die Untersuchungsnachweise nicht fristgerecht vorgelegt zu haben. Die Vorinstanzen sind ohnehin zutreffend davon ausgegangen, dass die nach dem deutschen Mutterpass‑System erforderlichen Untersuchungen im Rahmen der gemäß Art 5 lit b VO (EG) 883/2004 vorgesehenen Tatbestandsgleichstellung als gleichrangig anzusehen sind (vgl 10 ObS 136/19a SSV‑NF 34/22), deren Nachweis die Klägerin – teilweise – unterließ. Die von der Klägerin behauptete „Komplexität“ betrifft die Frage der – vor- und nachrangigen – Zuständigkeit zur Gewährung von Familienleistungen, berührt aber nicht die davon getrennt zu behandelnde Frage, welche nationalen Vorschriften gegenüber demjenigen Sozialversicherungsträger, von dem Leistungen begehrt werden, einzuhalten sind. Die Klägerin zeigt mit diesem Argument keine Korrekturbedürftigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts auf.

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