OGH 9ObA36/23v

OGH9ObA36/23v28.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Albert Kyncl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei K* H*, vertreten durch KS Kiechl Schaffer Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Ö* Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Posch, Schausberger & Lutz Rechtsanwälte GmbH in Wels, wegen 4.390,47 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. März 2023, GZ 7 Ra 15/23m‑63, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00036.23V.0628.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Gemäß § 7b Abs 1 Z 7 BEinstG darf niemand aufgrund einer Behinderung im Zusammenhang mit einem Dienstverhältnis, insbesondere auch nicht bei der Beendigung des Dienstverhältnisses, unmittelbar oder mittelbar diskriminiert werden.

[2] Auf den Behinderungsbegriff der Abs 1 bis 3 ist die Bestimmung des § 3 BEinstG mit der Maßgabe anzuwenden, dass ein festgestellter Grad der Behinderung nicht erforderlich ist (§ 7b Abs 4 BEinstG).

[3] Lässt der Dienstnehmer die Beendigung gegen sich gelten, so hat er Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens und auf eine Entschädigung für die erlittene persönliche Beeinträchtigung (§ 7f Abs 1 letzter Satz BEinstG).

[4] 2. Nach § 3 BEinstG ist eine Behinderung die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten. Die Bestimmung des § 3 BEinstG steht mit der Umsetzung der GleichbehandlungsrahmenRL 2000/78/EG in Zusammenhang (9 ObA 45/21i Rz 5).

[5] Zur Frage nach der Abgrenzung von Krankheit und Behinderung stellte der EuGH zunächst fest (C-13/05 Chacón Navas), dass Krankheit von Behinderung zu unterscheiden ist und Krankheit per se nicht als Diskriminierungsgrund nach der RL 2000/78/EG zu qualifizieren ist. In der Folge hielt er differenzierend fest, dass der Begriff „Behinderung“ im Sinne der RL 2000/78/EG dahin auszulegen ist, dass er einen Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist (EuGH C-335/11 , 337/11 Ring und Werge).

[6] 3. Eine „Funktionsbeeinträchtigung“ bzw eine „Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen“ im Sinne des § 3 BEinstG ist nach herrschender Ansicht eine Einschränkung jener Funktionen, die bei einem gesunden Gleichaltrigen in der Regel vorhanden sind. Nicht jede Funktionsbeeinträchtigung ist allerdings auch eine Behinderung. Zusätzlich ist erforderlich, dass die Auswirkung der Beeinträchtigung die Teilhabe des Betroffenen am Arbeitsleben erschweren kann (8 ObA 66/18s Pkt 3.1 mwN; 9 ObA 45/21i Rz 21 mwN). Bei dieser Beurteilung ist nicht (nur) auf die konkrete Arbeitsplatzsituation, sondern auf den abstrakten Arbeitsmarkt abzustellen (8 ObA 66/18s Pkt 3.2 mwN).

[7] Die Funktionsbeeinträchtigung darf zudem nicht nur vorübergehend sein, sondern sie muss nach § 3 BEinstG voraussichtlich für mehr als sechs Monate bestehen (9 ObA 45/21i Rz 21). Die „Langfristigkeit“ der Beeinträchtigung ist nicht nach deren Eintritt, sondern erst ausgehend vom (potenziellen) Diskriminierungszeitpunkt zu beurteilen (C‑395/15 Daouidi, Rn 53; C‑397/18 Nobel Plastiques Ibérica SA Rn 44). Dabei ist (im Zweifel) eine Prognoseentscheidung zu treffen (Auer-Mayer in Widy, Behinderteneinstellungsgesetz9, § 3 Rz 8; vgl K. Mayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 3 BEinstG Rz 3).

[8] 4. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH zur Frage nach der Abgrenzung von Krankheit und Behinderung (C‑13/05 Chacón Navas; C‑335/11 , 337/11 Ring und Werge) hat auch der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass Krankheit und Behinderung nicht ohne weiteres miteinander gleichgesetzt werden können. Krankheit kann als solche nicht als ein weiterer Grund neben den Gründen angesehen werden, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der RL 2000/78/EG verboten ist. Läuft eine undifferenzierte Berechnung krankheitsbedingter Fehlzeiten eines Arbeitnehmers aber darauf hinaus, dass Fehlzeiten wegen mit einer Behinderung im Zusammenhang stehenden Krankheit Zeiten allgemeiner „schlichter“ Krankheiten gleichgesetzt werden, so kann dies aber eine mittelbare Diskriminierung eines Arbeitnehmers bewirken (vgl auch Hopf/Mayr/Eichinger/Erler, GlBG [2021] § 7b BEinstG Rz 2). Ein behinderter Arbeitnehmer hat nämlich aufgrund seiner Behinderung typischerweise ein zusätzliches Risiko von mit seiner Krankheit zusammenhängenden Krankenständen und ist auf diese Weise einem höheren Risiko im Zusammenhang mit der Beendigung seines Dienstverhältnisses ausgesetzt als ein nicht behinderter (RS0129453).

[9] 5. Von diesen Grundsätzen ausgehend, haben die Vorinstanzen übereinstimmend eine unmittelbare Diskriminierung der Klägerin verneint. Nach den Feststellungen wurde die Klägerin nicht wegen einer Behinderung (Funktionsbeeinträchtigung), sondern wegen ihrer erheblichen massiven Krankenstände gekündigt. Eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zeigt die außerordentliche Revision der Klägerin nicht auf. Insbesondere mangelt es nicht an Rechtsprechung zur Frage der mittelbaren Diskriminierung (vgl 9 ObA 165/13z; 9 ObA 45/21i). Die Frage, ob eine Funktionsbeeinträchtigung und der daraus resultierende Krankenstand als Behinderung im Sinne des § 3 BEinstG anzusehen ist, kann regelmäßig nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Eine vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts liegt nicht vor.

[10] 6. Nach den Feststellungen konnte die bei der Beklagten als Zustellerin beschäftigt gewesene Klägerin aufgrund einer Schulterproblematik ab 18. 6. 2020 keine Tätigkeiten über Kopfhöhe mehr verrichten. Vom Zeitpunkt der Schulteroperation am 5. 8. 2020 bis Ende September 2020 war die Klägerin gänzlich arbeitsunfähig. Im Anschluss daran erfolgten physikalische Therapien und von 2. 12. 2020 bis 30. 12. 2020 ein stationärer Rehabilitationsaufenthalt. Seit Beendigung der Rehabilitation sind der Klägerin leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen unter Einhaltung der gesetzlichen Pausen zumutbar. Tätigkeiten mit dem linken Arm über Kopfhöhe sind drittelzeitig diskontinuierlich pro Arbeitstag mit leichter Gewichtsbelastung möglich.

[11] Von 20. 4. 2020 bis 4. 3. 2021 befand sich die Klägerin aufgrund ihrer Schulterproblematik, den daher notwendigen – aufgrund der Covid-19-Pandemie aber schwer zu erlangenden – Physiotherapien und einem Rehabilitationsaufenthalt im Krankenstand.

[12] Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung am 5. 8. 2020 war ex ante von einem achtwöchigen Krankenstand aufgrund der Art des geplanten operativen Eingriffs und des durchschnittlichen Regelverlaufs auszugehen.

[13] 7. Ausgehend vom Kündigungszeitpunkt (dem von der Klägerin behaupteten Diskriminierungszeitpunkt) war ex ante gesehen nicht davon auszugehen, dass es sich bei der Schulterproblematik der Klägerin unter Bedachtnahme auf die notwendige Operation und den erforderlichen Nachbehandlungen um eine Behinderung im Sinne des § 3 BEinstG handelt. Der sich im Wesentlichen aus dem postoperativen Heilungsverlauf der Klägerin ergebende Krankenstand ist mit den innerstaatlich und unionsrechtlich geforderten langfristigen Auswirkungen auf die Teilhabe am Berufsleben, wie sie bei einer Behinderung vorliegt, nicht gleichzusetzen. Auch konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin aufgrund ihrer Schulterverletzung typischerweise ein zusätzliches Risiko von Krankenständen gehabt hätte.

[14] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Klägerin zurückzuweisen.

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