OGH 12Os59/23b

OGH12Os59/23b22.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Juni 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Mair in der Strafsache gegen * M* wegen Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB, AZ 34 Hv 13/22m des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 31. Jänner 2023, GZ 34 Hv 13/22m‑25, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Geymayer, und des Angeklagten zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0120OS00059.23B.0622.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 31. Jänner 2023, GZ 34 Hv 13/22m-25, verletzt, soweit der Antrag des Angeklagten auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers abgelehnt wurde, § 61 Abs 2 zweiter Satz Z 3 StPO.

Dieser Beschluss wird in diesem Umfang aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien aufgetragen, neuerlich über den Antrag des Angeklagten auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu entscheiden.

 

Gründe:

[1] Mit dem Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. November 2022, GZ 34 Hv 13/22m‑18, wurde * M* der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer (bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafe verurteilt.

[2] Die dagegen angemeldete (ON 20) und zum Nachteil des Angeklagten ausgeführte Berufung der Staatsanwaltschaft wegen des Ausspruchs über die Strafe (ON 22) wurde dem Angeklagten am 28. Dezember 2022 zur Gegenäußerung zugestellt (ON 1.18; Zustellnachweis).

[3] Mit seinen Eingaben vom 22. Dezember 2022 (ON 23) und vom 19. Jänner 2023 (ON 24) begehrte der Angeklagte (unter anderem) die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers.

[4] Soweit hier von Bedeutung, gab der Einzelrichter des Landesgerichts dem erwähnten Antrag mit Beschluss vom 31. Jänner 2023, GZ 34 Hv 13/22m-25, nicht Folge.

[5] Dabei wurden die Angaben des Angeklagten zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen (§ 61 Abs 2 erster Satz StPO) weder erörtert noch in Zweifel gezogen.

[6] Betreffend § 61 Abs 2 zweiter Satz Z 3 StPO ging das Gericht davon aus, dass „ein Rechtsmittel“ vom Angeklagten „nicht fristgerecht angemeldet“ wurde. Da „lediglich eine Gegenäußerung zur Strafberufung der Staatsanwaltschaft einzubringen“ wäre, sei die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers weder im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung noch im Interesse der Rechtspflege insgesamt erforderlich (BS 3 f).

[7] Über die Berufung der Staatsanwaltschaft wegen des Ausspruchs über die Strafe hat das Oberlandesgericht Wien (AZ 23 Bs 65/23m) noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht dieser Beschluss mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[9] Gemäß § 61 Abs 2 erster Satz StPO hat das Gericht auf Antrag des Beschuldigten, wenn dieser außer Stande ist, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie, für deren Unterhalt er zu sorgen hat, zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhalts die gesamten Kosten der Verteidigung zu tragen, zu beschließen, dass diesem ein Verteidiger beigegeben wird, dessen Kosten er nicht oder nur zum Teil (§ 393 Abs 1a StPO) zu tragen hat, wenn und soweit dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist.

[10] Der dem Gericht bei der darauf bezogenen Beurteilung eingeräumte Ermessensspielraum wird durch § 61 Abs 2 zweiter Satz StPO (ua) dadurch eingeschränkt, dass (gemäß Z 3) die Beigebung eines Verteidigers „für das Rechtsmittelverfahren auf Grund einer Anmeldung einer Berufung“ jedenfalls erforderlich ist.

[11] Solcherart hat der wirtschaftlich bedürftige Angeklagte für das gesamte Rechtsmittelverfahren Anspruch auf Verfahrenshilfe, sobald im bezirksgerichtlichen oder im einzelrichterlichen Verfahren Berufung angemeldet wurde, gleich ob durch ihn oder durch die Staatsanwaltschaft (Soyer/Schumann, WK-StPO § 61 Rz 64). Im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts verbleibt dann nur die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Angeklagten, nicht aber der „Erforderlichkeit“ der Verteidigung; dies trägt der Garantie des Art 6 Abs 3 lit c MRK Rechnung (RIS-Justiz RS0074894).

[12] Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 31. Jänner 2023, GZ 34 Hv 13/22m-25, verstößt damit gegen § 61 Abs 2 zweiter Satz Z 3 StPO.

[13] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung wie im Spruch ersichtlich zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

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