OGH 4Ob85/23p

OGH4Ob85/23p31.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Familienrechtssache der Antragsteller 1. M*, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in Linz, und 2. M*, wegen Ehescheidung im Einvernehmen gemäß § 55a EheG, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Erstantragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts für Korneuburg als Rekursgericht vom 28. Februar 2023, GZ 20 R 41/23d‑6, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00085.23P.0531.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Familienrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

 

Begründung:

[1] (Nur) der Erstantragsteller beantragte die Scheidung seiner Ehe von der Zweitantragstellerin im Einvernehmen gemäß § 55a EheG. Er und die Zweitantragstellerin seien afghanische Staatsangehörige und hätten 1996 in Afghanistan vor einem Mullah die Ehe geschlossen. Die Ehe sei staatlich nicht registriert. Die Eheleute würden über keine Heiratsurkunde verfügen und könnten eine solche aufgrund der aktuellen politischen Lage auch nicht beschaffen. Der Ehe würden vier Kinder, davon zwei minderjährige, entstammen. Der letzte gemeinsame Wohnsitz der Eheleute liege im Sprengel des Erstgerichts.

[2] Die Vorinstanzen wiesen den Antrag ab. Gemäß § 16 Abs 2 IPRG sei die Gültigkeit der Ehe nach afghanischem Recht zu beurteilen. Nach Art 61 Abs 1 des afghanischen Zivilgesetzbuchs (afghZGB) sei die Registrierung der Eheschließung Gültigkeitsvoraussetzung. Damit liege schon nach dem Vorbringen des Erstantragstellers keine aufrechte Ehe vor, die geschieden werden könne.

[3] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Erstantragstellers zielt auf eine Sachentscheidung nach Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen ab.

[4] Die Zweitantragstellerin war am Verfahren bisher nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[5] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

[6] 1. Der Erstantragsteller zeigt eine im Sinn der Rechtssicherheit wahrzunehmende Abweichung von der Entscheidungspraxis in Afghanistan auf (vgl RS0042940 [T23]).

[7] 1.1. Grundsätzlich kommt dem Obersten Gerichtshof bei der Auslegung fremden Rechts keine Leitfunktion zu, sodass das Fehlen einer Rechtsprechung des österreichischen Höchstgerichts keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 AußStrG begründet (vgl RS0042948). Jedoch ist es im Dienste der Rechtssicherheit aufzugreifen, wenn die Vorinstanzen eine im ursprünglichen Geltungsbereich des maßgeblichen fremden Rechts in Rechtsprechung und Lehre gefestigte Ansicht hintangesetzt haben (RS0042940).

[8] 1.2. Das maßgebende fremde Recht ist nach § 3 IPRG nämlich von Amts wegen und wie in seinem ursprünglichen Geltungsbereich anzuwenden. Dabei kommt es in erster Linie auf die Anwendungspraxis der (höchstgerichtlichen) Rechtsprechung des betreffenden Auslandsstaats an (RS0042940 [T4, T5]).

[9] Der Erstantragsteller weist hier richtig darauf hin, dass seit der Machtübernahme der Taliban auch nur von einem Mullah getraute Paare als verheiratet angesehen würden. Es sei gar nicht mehr möglich, eine Eheschließung nachträglich behördlich registrieren zu lassen. Die Ehe der Antragsteller sei daher nach afghanischem Recht gültig.

[10] 2. Eine mögliche Ehe der Antragsteller ist nicht schon deshalb unwirksam, weil sie nicht registriert wurde.

[11] 2.1. Wie die Vorinstanzen richtig erkannt haben, ist die Form einer Eheschließung im Ausland gemäß § 16 Abs 2 IPRG nach dem Personalstatut jedes der Verlobten zu beurteilen; es genügt jedoch die Einhaltung der Formvorschriften des Orts der Eheschließung.

[12] Alle diese Kriterien führen dazu, dass bei Prüfung der Gültigkeit der Ehe der Antragsteller afghanisches Recht anzuwenden ist. Dieses ist nach § 4 Abs 1 IPRG von Amts wegen zu ermitteln.

[13] 2.2. Zwar haben die Vorinstanzen die Formvorschriften für eine Eheschließung nach Art 61 afghZGB wiedergegeben: Muslimische Religionsgelehrte sind durch eine Erlaubnis des Obersten Gerichts befugt, die Eheschließung auf der Grundlage einer offiziellen Eheurkunde durchzuführen. Jedoch ist jede Eheschließung verpflichtend vor den zuständigen Behörden zu registrieren und bei der Nationalen Behörde zur Registrierung des Personenstandes in Evidenz zu halten. Dies gilt auch für bisher nicht registrierte Ehen (Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht – Afghanistan [244. Lfg 2021] 29 f).

[14] Die Vorinstanzen haben aber die davon eklatant abweichende Auslegungspraxis außer Acht gelassen: Das Zivilgesetzbuch trat 1977 in Kraft, also während der kurzen Phase von Afghanistan als Republik (Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe‑ und Kindschaftsrecht – Afghanistan [244. Lfg 2021] 4). Es hat bereits die Taliban-Herrschaft von 1992 bis 2001 überdauert und steht auch trotz der erneuten Machtübernahme der Taliban nach dem Rückzug der NATO-Truppen 2020 noch formal in Kraft (Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe‑ und Kindschaftsrecht – Afghanistan [244. Lfg 2021] 4, 8).

[15] Insbesondere das Eherecht basiert aber neben dem kodifizierten Recht auf Bestimmungen des islamischen Rechts und dem örtlichen Gewohnheitsrecht (Rechtspluralismus, vgl Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht – Afghanistan [244. Lfg 2021] 26). Große Teile der Bevölkerung sind nicht bereit, Behörden durch die Registrierung von Ehen in vermeintlich rein private und zum Teil ungesetzliche Praktiken wie Kinder‑, Zwangs‑, Austauschehen und Ehen zur Schuldentilgung Einblick nehmen zu lassen. Daher sind nur 5 % aller Ehen in Afghanistan registriert (Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe‑ und Kindschaftsrecht – Afghanistan [244. Lfg 2021] 30).

[16] 2.3. Zusammengefasst sind die Formvorschriften des afghZGB über die Registrierung der Ehe praktisch totes Recht, sodass der Antrag auf einvernehmliche Scheidung nicht mangels Registrierung der Ehe abgewiesen werden kann.

3. Die Vorinstanzen werden im fortgesetzten Verfahren insbesondere folgende Punkte zu beachten haben:

[17] 3.1. Zur Frage, ob die Antragsteller eine (unregistrierte) Ehe geschlossen haben, gibt es bisher nur das Vorbringen des Erstantragstellers. Die Zweitantragstellerin wurde bisher nicht am Verfahren beteiligt, Urkunden nicht vorgelegt, sonstige Beweise noch nicht aufgenommen.

[18] 3.2. Nach § 20 Abs 1 iVm § 18 Abs 1 Z 1 IPRG werden wegen des gemeinsamen Personalstatuts der Eheleute auch die Voraussetzungen und Wirkungen der Ehescheidung in erster Linie nach afghanischem Recht zu beurteilen sein.

[19] 3.3. Selbst falls für die Scheidung aus bisher nicht erkennbaren Gründen österreichisches Recht zur Anwendung gelangen sollte, wäre zu beachten, dass eine einvernehmliche Scheidung nach § 55a Abs 1 EheG einen gemeinsamen Antrag beider Eheleute oder zumindest die Zustimmung des zweiten Ehepartners voraussetzt (Hopf/Kathrein, Eherecht3 § 55a EheG [2014] Rz 2).

[20] 4. Im Außerstreitverfahren sind Kosten gemäß § 78 Abs 2 AußStrG nur zu ersetzen, wenn eine Partei mit ihrer Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung gegenüber anderen Parteien Erfolg hatte, die entgegengesetzte Interessen verfolgt haben.

[21] Bei der hier beantragten einvernehmlichen Scheidung kann eine Kostenersatzpflicht mangels Verfolgung entgegengesetzter Interessen nur dann eintreten, wenn ein Ehegatte oder Partner zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint oder wenn er nachher seinen Scheidungs‑ oder Auflösungsantrag zurückzieht (Obermaier in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 [2019] § 78 Rz 105).

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