OGH 6Ob44/23y

OGH6Ob44/23y17.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B* Rechtsanwalt GmbH, *, wider die beklagte Partei C*, vertreten durch Ruggenthaler, Rest & Borsky Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 34.947,60 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. August 2022, GZ 1 R 113/22b‑21, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 3. Mai 2022, GZ 10 Cg 39/21x‑11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00044.23Y.0517.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird als nichtig aufgehoben.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Das Erstgericht wies die auf Zahlung von 34.947,60 EUR sA gerichtete Klage ab.

[2] Nach Erhebung der Berufung schlossen die Parteien einen Vergleich. Diesen übermittelte das Erstgericht dem Berufungsgericht. Die ungefähr eineinhalb Monate später von beiden unterfertigte und von der Rechtsvertretung der Beklagten im ERV‑Weg eingebrachte Ruhensanzeige übermittelte das Erstgericht dem Berufungsgericht jedoch nicht.

[3] Das Berufungsgericht behandelte die Berufung, gab ihr nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[4] Die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision der Klägerin macht als erhebliche Rechtsfrage die Nichtigkeit dieser (in Unkenntnis der Ruhensanzeige) gefällten Entscheidung geltend. Sie ist daher zulässig und auch berechtigt.

[5] Die Beklagte beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

[6] 1. Gemäß § 483 Abs 3 erster Satz ZPO kann das Ruhen des Verfahrens auch noch im Berufungsverfahren vereinbart werden. Ruhen des Verfahrens nach § 168 ZPO hat im Wesentlichen die Rechtswirkung einer Unterbrechung des Verfahrens. Wurde das Rechtsmittel – wie hier – vor Vereinbarung des Ruhens überreicht, hat die schriftliche Ruhensanzeige zur Folge, dass über das Rechtsmittel während des Ruhens nicht zu entscheiden ist (5 Ob 200/08k; RS0041994 [T2]). Eine dennoch während des Ruhens gefällte Entscheidung ist als nichtig zu beheben (RS0064476).

[7] 2. Rechtsmittel, mit denen Verstöße gegen die Ruhenswirkung aufgegriffen werden, sind auch während des Ruhens zulässig (Fink in Fasching/Konecny³ II/3 § 168 ZPO Rz 34).

[8] 3. Die Vereinbarung des Ruhens des Verfahrens ist erst von dem Zeitpunkt an wirksam, in welchem sie dem Gericht von beiden Parteien angezeigt wurde (§ 168 zweiter Halbsatz ZPO; zum Erfordernis der gemeinsamen Anzeige an das Gericht siehe auch RS0036676 und RS0036770).

[9] § 483 Abs 3 Satz 1 ZPO ermöglicht die Vereinbarung, dass „das Verfahren“ ruht, im Berufungsverfahren bis zum Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung oder bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts und verweist im Übrigen auf die §§ 168 bis 170 ZPO. § 168 zweiter Halbsatz ZPO ordnet an, dass eine solche Vereinbarung erst von dem Zeitpunkt an wirksam ist, in welchem sie „dem Gerichte“ von beiden Parteien angezeigt wurde.

[10] 4. Wenn bei Verankerung der Möglichkeit des Ruhens des Verfahrens in § 483 Abs 3 Satz 1 ZPO anlässlich der ZVN 1983 (BGBl 1983/135) die Bestimmung des § 484 Abs 1 Satz 2 ZPO, wonach die Zurücknahme der Berufung „mittels eines Schriftsatzes beim Berufungsgericht“ erfolgt, längst (und schon mit der Stammfassung) Bestandteil der ZPO gewesen war, der Gesetzgeber aber damals bloß auf die §§ 168 bis 170 ZPO verwies, ohne eine ausdrückliche und § 484 Abs 1 Satz 2 ZPO vergleichbare Regelung zur Einbringung vorzusehen, dann ist der in der verwiesenen Bestimmung (§ 168 Abs 1 ZPO) geforderten Voraussetzung für die Wirksamkeit der Vereinbarung des Ruhens des (gesamten) Verfahrens auch durch Einbringung der gemeinsamen Bekanntgabe bei dem in dieser Bestimmung angesprochenen Erstgericht Genüge getan; dieses hat die Anzeige weiterzuleiten.

[11] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO (RS0035870).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte