OGH 2Ob231/22t

OGH2Ob231/22t21.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. S*, 2. J*, 3. minderjährige N*, 4. minderjährige S*, und 5. N*, alle vertreten durch Dr. Anton Weber, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen die beklagten Parteien 1. B*, 2. E*, und 3. G*, alle vertreten durch Advokaten Keckeis Fiel Scheidbach OG in Feldkirch, wegen 1. (erstklagende Partei) 54.568,08 EUR sA und Feststellung, 2. (zweitklagende Partei) 29.770,81 EUR sA und Feststellung, 3. (drittklagende Partei) 29.770,81 EUR sA und Feststellung, 4. (viertklagende Partei) 8.020,81 EUR sA und Feststellung und 5. (fünftklagende Partei) 40.000 EUR sA und Feststellung, über die (teils außerordentliche) Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 14. April 2022, GZ 1 R 33/22w‑71, mit welchem infolge Berufungen der erst- bis dritt- sowie fünftklagenden Partei und der beklagten Parteien das Teilzwischenurteil des Landesgerichts Feldkirch vom 21. September 2021, GZ 29 Cg 32/21v‑61, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00231.22T.0221.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der (teils außerordentlichen) Revision wird, soweit sie Ansprüche der erst- bis dritt- sowie fünftklagenden Partei betrifft, Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die im Ausspruch über das Zurechtbestehen der Zahlungsansprüche der erst- bis dritt- sowie fünftklagenden Partei im Umfang von jeweils zwei Dritteln dem Grunde nach sowie im Ausspruch über das Zurechtbestehen des Zahlungsanspruchs der viertklagenden Partei zur Gänze dem Grunde nach in Rechtskraft erwachsen sind, werden im verbliebenen Umfang (Zurechtbestehen der Zahlungsansprüche der erst- bis dritt- sowie fünftklagenden Partei im Umfang eines weiteren Drittels dem Grunde nach) aufgehoben.

Die Rechtssache wird insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Am 24. 1. 2017 ereignete sich auf der Arlbergpassstraße um 22:45 Uhr ein Verkehrsunfall, an dem der Ehemann der Erstklägerin (zugleich Vater der Zweit- bis Viertklägerin und Sohn der Fünftklägerin) mit einem Renault mit bosnisch-herzegowinischem Kennzeichen und der Erstbeklagte als Lenker eines von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten BMW mit deutschem Kennzeichen beteiligt waren. Der Lenker des Renault verstarb noch an der Unfallstelle. Die Arlbergpassstraße weist in beide Fahrtrichtungen jeweils einen Fahrstreifen mit einer Breite von zumindest 3,66 Metern auf.

[2] Der Erstbeklagte überholte einen vor ihm mit rund 30 km/h Richtung Tirol fahrenden PKW (in der Folge: Drittfahrzeug) mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h. Aufgrund der rutschigen, teils schneeverwehten Fahrbahn gelang es dem Erstbeklagten nach dem Überholen des Drittfahrzeugs nicht, den BMW wieder auf den Richtung Tirol führenden Fahrstreifen zu lenken, sodass er eine längere, aber nicht genau feststellbare Strecke auf dem (aus seiner Sicht) linken Fahrstreifen weiterfuhr. Dem Erstbeklagten wäre ein Zurücklenken auf den (aus seiner Sicht) rechten Fahrstreifen vor der Kollision möglich gewesen.

[3] Der Lenker des Renault näherte sich aus der Gegenrichtung, „spurte nach links“ und geriet noch vor der späteren Kollision mit seinem Fahrzeug zur Gänze auf den (aus seiner Sicht) linken Fahrstreifen. Der BMW nahm im Kollisionszeitpunkt eine Schrägfahrt nach rechts vor und befand sich zu Teilen auf beiden Fahrstreifen. Die Fahrzeuge kollidierten frontal mit ihrer jeweils rechten Front miteinander. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Renault betrug 31 km/h, jene des BMW „durchschnittlich 55 km/h“.

[4] Die Klägerinnen begehren (mit Ausnahme der Fünftklägerin) entgangenen Unterhalt gemäß § 1327 ABGB für einen bestimmten Zeitraum sowie (mit Ausnahme der Viertklägerin) Trauerschmerzengeld von jeweils 20.000 EUR. Die Erstklägerin fordert weiters den Ersatz von Begräbniskosten, die Erstklägerin und die Fünftklägerin begehren zudem Schmerzengeld für aufgrund des Unfalls erlittene seelische Schmerzen mit Krankheitswert. Sämtliche Klägerinnen erheben ein Feststellungsbegehren. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Erstbeklagten. Dieser habe grob schuldhaft gehandelt, indem er bei Dunkelheit mit überhöhter Geschwindigkeit ein Überholmanöver auf einer teils schneebedeckten und rutschigen Fahrbahn durchgeführt habe. Als der Lenker des Renault den BMW erstmals gesehen habe, habe er darauf vertrauen dürfen, dass der Erstbeklagte wieder nach rechts zurücklenken werde. Als er erkennen habe können, dass dies nicht der Fall sei, habe er die Kollision nicht mehr verhindern können.

[5] Die Beklagten bestreiten. Der Erstbeklagte habe lediglich zu Beginn des Überholvorgangs die Straßenverhältnisse falsch eingeschätzt; er habe daher nicht grob schuldhaft gehandelt, sodass den Klägerinnen kein Anspruch auf Trauerschmerzengeld zustehe. Den Lenker des Renault treffe ein erhebliches Mitverschulden, weil er auf den Umstand, dass der Erstbeklagte nach dem eigentlichen Überholvorgang noch 200 Meter auf dem (aus dessen Sicht) linken Fahrstreifen weitergefahren sei, nicht reagiert habe. Erst als der Erstbeklagte wieder nach rechts gelenkt habe, habe der Lenker des BMW nach links gelenkt, sodass es zur Kollision gekommen sei. Der mit relativ überhöhter Geschwindigkeit fahrende Lenker des Renault hätte den Unfall durch eine rechtzeitige Bremsung oder ein Auslenken nach rechts vermeiden können. Seine Fehlreaktion sei nicht entschuldbar.

[6] Das Erstgericht sprach – ohne zwischen den einzelnen geltend gemachten Ansprüchen zu differenzieren – mit Teilzwischenurteil aus, dass das Leistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe. Es ging in den Entscheidungsgründen davon aus, dass den Erstbeklagten das Alleinverschulden am Unfall treffe, dieser aber nicht grob fahrlässig gehandelt habe.

[7] Die Erst- bis Dritt- sowie Fünftklägerin wandten sich in ihrer Berufung gegen die Beurteilung des Erstgerichts im Hinblick auf die Nichtannahme grober Fahrlässigkeit.

[8] Die Beklagten strebten in ihrer Berufung die Abweisung eines Drittels der Zahlungsbegehren an, weil dem beim Unfall Getöteten ein Mitverschulden von einem Drittel anzulasten sei.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge, jener (eines Teils) der Klägerinnen hingegen Folge. Es bestätigte das angefochtene Teil- und Zwischenurteil mit der Maßgabe, dass es den Umfang der Zahlungsbegehren in den Spruch aufnahm. Es ging vom Alleinverschulden des Erstbeklagten aus und bejahte das Vorliegen grober Fahrlässigkeit.

[10] Die Revision der Beklagten wendet sich gegen dieses Urteil, soweit „das Leistungsbegehren dem Grund nach in einem zwei Drittel übersteigenden Ausmaß als zurecht bestehend erkannt und das Überholmanöver des Erstbeklagten als äußerst gefährlich und daher als grob fahrlässig beurteilt wird“. Die Beklagten beantragen die Abänderung im Sinn der Abweisung eines Drittels des Zahlungsbegehrens; hilfsweise stellen sie Aufhebungsanträge.

[11] Der Senat hat die Revision, soweit sie Ansprüche der Viertklägerin betrifft, in der Entscheidung 2 Ob 120/22v als jedenfalls unzulässig zurückgewiesen.

[12] Das Berufungsgericht ließ die Revision, soweit sie Ansprüche der Zweit-, Dritt- und Fünftklägerin betrifft, nachträglich zur Vermeidung allenfalls divergierender Entscheidungen zu.

[13] Die Erst- bis Dritt- sowie Fünftklägerin beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, ihr hilfsweise nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die (im Hinblick auf Ansprüche der Erstklägerin außerordentliche) Revision ist wegen einer aufzugreifenden Fehlbeurteilung zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[15] 1. Zutreffend haben die Vorinstanzen den Sachverhalt in Anwendung des Art 3 HStVÜ nach österreichischem Recht beurteilt.

[16] 2. Die Beklagten streben mit ihrer Revision die Abweisung (nur) eines Drittels des (gesamten) Zahlungsbegehrens an und lassen damit den Spruch des Berufungsurteils, mit dem dieses das gesamte Zahlungsbegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte, im Ausmaß von zwei Dritteln ausdrücklich unbekämpft (vgl 7 Ob 107/00m).

[17] Es ist damit im Revisionsverfahren unstrittig, dass den Erstbeklagten ein mit mindestens zwei Dritteln zu gewichtendes Verschulden am Verkehrsunfall trifft.

[18] 3. Die vorliegenden Feststellungen reichen für die Beurteilung der Frage, ob den Lenker des Renault ein Mitverschulden am Verkehrsunfall trifft, aus folgenden Erwägungen nicht aus.

[19] 3.1. Von einem entgegenkommenden Fahrzeug ist selbst dann, wenn es zunächst aus irgendeinem Grund nicht die ihm zukommende Fahrbahnhälfte benützt, die Rückkehr auf „seine“ Fahrbahnhälfte zu erwarten, sofern sich nicht aus besonderen Gründen das Gegenteil ergibt (RS0073503). Eine Reaktion ist daher grundsätzlich erst erforderlich, wenn erkennbar ist, dass der Entgegenkommende nicht auf seine Fahrbahnhälfte zurückkehrt (2 Ob 146/19p Punkt 2.1. mwN).

[20] 3.2. Ein (§ 10 StVO widersprechendes) Ausweichen nach links ist selbst dann unzulässig, wenn ein Fahrzeug auf seiner linken Fahrbahnhälfte entgegenkommt. Ein Abweichen von dieser Regel ist nur dann entschuldbar, wenn der Ausweichende von dem plötzlich in bedrohlicher Weise in seiner Fahrlinie entgegenkommenden Fahrzeug überrascht wird und infolgedessen eine an sich unrichtige Schreckreaktion setzt (RS0073536; vgl auch RS0073624).

[21] 3.3. Eine entschuldbare Schreckreaktion liegt vor, wenn das ihr zugrunde liegende Ereignis plötzlich und völlig überraschend in einer derartig bedrohlichen Nähe eintritt, dass ein überstürztes Handeln erforderlich ist (RS0022393, RS0023292, RS0027217). In solchen Fällen kann eine unter dem Eindruck der Gefahr – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme nicht als (Mit‑)Verschulden angerechnet werden.

[22] Gerät ein Fahrzeug auf die andere Fahrbahnseite, hat dessen Lenker – im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen zur Beweislast bei Schutzgesetzverletzungen (RS0112234) – zu beweisen, dass ihn daran kein Verschulden trifft; allfällige Unklarheiten gehen insoweit zu seinen Lasten (2 Ob 111/20t Rz 17; 2 Ob 2030/96k).

[23] 3.4. Das Erstgericht stellte eine „gegenseitige Sicht“ von 400 Metern aufgrund des geraden Straßenverlaufs fest, ging jedoch gleichzeitig davon aus, dass die Arlbergpassstraße (offenkundig gemeint im Nahebereich der Kollisionsstelle) über Kuppen, leichte Kurven, Hügeln und Senken verfüge. In diesem Punkt liegt daher ein widersprüchlicher Sachverhalt vor. Gleiches gilt im Hinblick auf den Zustand der Straße, den das Erstgerichtmit „schneebedeckt“, „trocken“, „aufgrund von Schneeverfrachtungen teilweise schneebedeckt“ sowie „rutschig“ beschrieb. Unklar bleibt auf Tatsachenebene auch, ob das Erstgericht die Fahrtstrecke des BMW auf der anderen Fahrbahnhälfte überhaupt nicht näher eingrenzen konnte (Seite 7: „längere, nicht genau bekannte Wegstrecke“) oder vielmehr von 150 bis 250 Metern Fahrtstrecke ausging, worauf die Erwägungen im Rahmen der Beweiswürdigung (Seite 11 f) hindeuten.

[24] Feststellungen zur Annäherungsgeschwindigkeit des Renault fehlen. Die Feststellungen zum Zeitpunkt der erstmaligen wechselseitigen Sicht sind – wie bereits dargestellt – widersprüchlich, zumal das Erstgericht davon ausging, dass der Erstbeklagte am Beginn seines Überholmanövers weder den Renault noch die Schneeverwehungen in der Senke gesehen hat.

[25] Unklar bleibt auch, in welchem Zeitpunkt der Lenker des Renault den BMW als Gefahr wahrnehmen, also erkennen musste, dass dieser nicht rechtzeitig auf die rechte Fahrbahnhälfte zurückkehren werde.

[26] Die vom Erstgericht festgestellten unterschiedlichen „Varianten“ zu den Reaktionsmöglichkeiten des Lenkers des Renault lassen keinen verlässlichen Rückschluss auf den Zeitpunkt der erstmaligen Gefahrenerkennung zu und vermögen daher die Annahme des Berufungsgerichts, der Lenker des Renault sei im Rahmen einer entschuldbaren Schreckreaktion auf die andere Fahrbahnseite gelangt, nicht zu tragen.

[27] 3.5. Die Ausführungen der Beklagten zum Fehlen grober Fahrlässigkeit sollen erkennbar ausschließlich die von ihnen angestrebte Verschuldensteilung stützen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Frage der Verschuldensteilung kann jedoch im Hinblick auf die noch nicht gesicherte Sachverhaltsgrundlage unterbleiben.

[28] 4. Insgesamt erweist sich damit im Hinblick auf die Ansprüche der Erst- bis Dritt- sowie Fünftklägerin die Aufhebung des Zwischenurteils im Umfang der Anfechtung als unumgänglich. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren widerspruchsfreie Feststellungen zu treffen und die Sachverhaltsgrundlage zu verbreitern haben. Erst danach kann beurteilt werden, ob dem Lenker des Renault, der vor der Kollision auf die andere Fahrbahnhälfte gelangte, ein Mitverschulden anzulasten ist oder er im Rahmen einer entschuldbaren Schreckreaktion handelte, und wie dieses allfällige Mitverschulden zu gewichten ist.

[29] Ob das Erstgericht vor neuerlicher Entscheidung eine weitere Beweisaufnahme für erforderlich erachtet, bleibt seiner Beurteilung vorbehalten.

[30] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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