OGH 4Ob199/22a

OGH4Ob199/22a31.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, MMag. Matzka und die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M. und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Kosesnik‑Wehrle & Langer Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei E*, Frankreich, vertreten durch petsche‑demmel pollak rechtsanwaelte gmbh in Wien, wegen 34.305,09 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Juni 2022, GZ 4 R 36/22a‑47.2, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des HandelsgerichtsWienvom 20. Dezember 2021, GZ 63 Cg 13/21p‑42, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00199.22A.0131.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.119,14 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 353,19 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte ist ein in Frankreich ansässiges Unternehmen, deren Unternehmensgegenstand die Herstellung und der Vertrieb von Brustimplantaten ist.

[2] Am 15. 2. 2011 wurden der Klägerin im Wilhelminenspital in Wien von der Beklagten hergestellte und in Verkehr gebrachte Silikon-Brustimplantate eingesetzt.

[3] Die Klägerin begehrte mit ihrer am 22. 2. 2021 eingebrachten Klage Schadenersatz nach dem Produkthaftungsgesetz (PHG) von der Beklagten. Sie habe durch die Fehlerhaftigkeit der Implantate gesundheitliche Schäden davongetragen.

[4] DieBeklagte wendete – soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse – ein, sie habe die Implantate bereits am 8. 2. 2011 in Verkehr gesetzt, sodass allfällige Ansprüche der Klägerin infolge Ablaufs der zehnjährigen Frist des § 13 PHG bei Klagseinbringung bereits erloschen gewesen seien.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bereits ausgehend von der unstrittig am 15. 2. 2011 erfolgten Einsetzung des Produkts der Beklagten sei die absolute Frist des § 13 PHG bei Klagseinbringung abgelaufen gewesen. Die von der Klägerin ins Treffen geführte Fristenhemmung gemäß § 2 1. COVID‑19‑JuBG sei auf die absolute Frist des § 13 PHG nicht anzuwenden.

[6] Das Berufungsgerichtbestätigte diese Entscheidung. § 13 PHG setze Art 11 der Produkthaftungs‑RL um. Dem Art 11 Produkthaftungs‑RL liege nach der Rechtsprechung des EuGH die Absicht der vollständigen Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene bei der Verjährung der dem Geschädigten aus dieser Richtlinie erwachsenden Ansprüchen zugrunde. Es sei keine Befugnis für die Mitgliedstaaten begründet, von den Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft abweichende Vorschriften beizubehalten oder einzuführen. Selbst wenn § 2 1. COVID‑19‑JuBG eine Fortlaufshemmung auch für Präklusivfristen wie jene des § 13 PHG anordnen sollte, sei diese Bestimmung daher in richtlinienkonformer Interpretation durch teleologische Reduktion dahin auszulegen, dass in Ansehung der Frist des § 13 PHG jedenfalls dann keine Fortlaufshemmung normiert werde, wenn die Ausnahmesituation längst weggefallen sei.

[7] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Anwendbarkeit der Bestimmung des § 2 1. COVID‑19‑JuBG auf § 13 PHG fehle.

[8] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht bezeichneten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

[11] 1. Vorauszuschicken ist, dass die Anwendbarkeit österreichischen Rechts aufgrund Art 5 Abs 1 lit a Rom II‑VO von den Parteien zu Recht nicht in Zweifel gezogen wird.

[12] 2. § 2 1. COVID‑19‑JuBG lautet: Die Zeit vom Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes [22. 3. 2020] bis zum Ablauf des 30. April 2020 wird in die Zeit, in der bei einem Gericht eine Klage oder ein Antrag zu erheben oder eine Erklärung abzugeben ist, nicht eingerechnet.

[13] 2.1. Die Gesetzesmaterialien (397/A XXVII. GP , 35) führen dazu aus:

Nicht nur innerhalb eines anhängigen Verfahrens laufen Fristen, sondern es wird in einer Vielzahl von Gesetzen eine Frist für das Anhängigmachen eines Verfahrens vor Gericht festgelegt. Dies betrifft etwa Verjährungsfristen, die Frist für die Besitzstörungsklage nach § 454 ZPO, die Anrufung des Gerichts gegen einen Bescheid des Sozialversicherungsträgers nach § 67 Abs 2 ASGG oder die Anrufung der Schlichtungsstelle nach § 40 MRG. Auch in arbeitsrechtlichen Gesetzen finden sich solche Fristen, etwa für die Kündigungsanfechtung nach § 105 ArbVG. In solchen und vergleichbaren Fällen soll die Frist für die Anrufung des Gerichts gehemmt werden.

[14] 3. § 13 PHG lautet: Sofern nach diesem Bundesgesetz bestehende Ersatzansprüche nicht früher verjähren, erlöschen sie zehn Jahre nach dem Zeitpunkt, zu dem der Ersatzpflichtige das Produkt in den Verkehr gebracht hat, es sei denn, der Geschädigte hat seinen Anspruch inzwischen gerichtlich geltend gemacht.

[15] 3.1. § 13 PHG setzt Art 11 der Richtlinie 85/374/EWG vom 25. 7. 1985 (PH-RL) um, der lautet:

Die Mitgliedstaaten sehen in ihren Rechtsvorschriften vor, dass die dem Geschädigten aus dieser Richtlinie erwachsenden Ansprüche nach Ablauf einer Frist von zehn Jahren ab dem Zeitpunkt erlöschen, zu dem der Hersteller das Produkt, welches den Schaden verursacht hat, in den Verkehr gebracht hat, es sei denn, der Geschädigte hat in der Zwischenzeit ein gerichtliches Verfahren gegen den Hersteller eingeleitet.

[16] 3.2. Art 10 PH‑RL regelt in seinem Abs 1 die Verjährung produkthaftungsrechtlicher Ansprüche nach drei Jahren wie folgt:

Die Mitgliedstaaten sehen in ihren Rechtsvorschriften vor, dass der aufgrund dieser Richtlinie vorgesehene Ersatzanspruch nach Ablauf einer Frist von drei Jahren ab dem Tage verjährt, an dem der Kläger von dem Schaden, dem Fehler und der Identität des Herstellers Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen.

[17] Im Abs 2 ist ausdrücklich vorgesehen, dass die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung durch diese Richtlinie nicht berührt werden. Im Gegensatz dazu sieht Art 11 eine Möglichkeit der Hemmung oder Unterbrechung (abgesehen von der Klagseinbringung) nicht vor.

[18] 3.3. Dazu führen die Erwägungsgründe 10 und 11 der PH‑RL aus:

Eine einheitlich bemessene Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche liegt sowohl im Interesse des Geschädigten als auch des Herstellers. Produkte nutzen sich im Laufe der Zeit ab, es werden strengere Sicherheitsnormen entwickelt, und die Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik schreiten fort. Es wäre daher unbillig, den Hersteller zeitlich unbegrenzt für Mängel seiner Produkte haftbar zu machen. Seine Haftung hat somit nach einem angemessenen Zeitraum zu erlöschen, wobei ein rechtshängiger Anspruch jedoch nicht berührt wird.

[19] 3.4. Dem Art 11 PH‑RL liegt nach der Rechtsprechung des EuGH die Absicht der vollständigen Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene bei der Verjährung der dem Geschädigten aus dieser Richtlinie erwachsenden Ansprüche zugrunde (EuGH C‑358/08 Rn 37). Es ist keine Befugnis für die Mitgliedstaaten begründet, von den Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft abweichende Vorschriften beizubehalten oder einzuführen. Insbesondere sind die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt, in den durch die Richtlinie geregelten Punkten strengere Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten (EuGH 25. 4. 2002 C‑52/00 Rn 14, 18; C‑358/08 Rn 45).

[20] 3.5. Durch das „EWR‑Anpassungsgesetz“ erfolgte mit Wirkung ab 1. 1. 1994 eine richtlinienkonforme Umgestaltung der in der ursprünglichen Fassung des § 13 PHG vorgesehenen zehnjährigen Verjährungsfrist zu einer „Erlöschensfrist“, die mehr bedeutet als eine bloße Anpassung in terminologischer Hinsicht. Selbst wenn es beim Begriff „Verjährung“ geblieben wäre, hätte dieser ab 1. 1. 1994 richtlinienkonform im Sinne von „Erlöschen“ interpretiert werden müssen. Was unter dem (angeblichen) Synonym der „Ausschlussfrist“ nach österreichischem Recht verstanden wird und dass auch bei einer solchen eine Hemmung und Unterbrechung anerkannt sei, hat gegenüber einem europäischen Begriffsverständnis von „Erlöschen“ zurückzutreten. Diesem wird aber offenbar nur eine solche Interpretation gerecht, welche die Zehnjahresfrist in Art 11 PH‑RL als eine absolute begreift, bei der – sieht man von der zwischenzeitigen Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens ab – grundsätzlich keine Hemmung oder Unterbrechung der Frist in Betracht kommt (vgl Posch/Terlitza in Schwimann/Kodek, ABGB Praxiskommentar5 [2022] zu § 13 PHG Rz 5 mwN).

[21] 3.6. Die Richtlinie unterscheidet zwischen der Verjährung und dem Erlöschen der Haftung. Gemäß Art 10 Abs 1 PH‑RL haben die Mitgliedstaaten vorzusehen, dass ein nach der Richtlinie bestehender Anspruch in drei Jahren ab dem Tage verjährt, an dem der Kläger von dem Schaden, dem Fehler und der Identität des Herstellers „Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen“. Die Regelung der Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung wird den Mitgliedstaaten überlassen (Art 10 Abs 2 PH‑RL). Hingegen sieht Art 11 PH‑RL vor, dass Schadenersatzansprüche zehn Jahre nach Inverkehrbringen des Produkts erlöschen. Ein nach der Richtlinie bestehender Schadenersatzanspruch soll damit jedenfalls mit zehn Jahren begrenzt sein. Diese Frist ist absolut, eine Hemmung oder Unterbrechung kommt mit Ausnahme der gerichtlichen Geltendmachung nicht in Betracht (vgl Rabl, Produkthaftungsgesetz [2016] Rz 1 ff mwN; zur gleichlautenden Ansicht in der deutschen Lehre vgl etwa Graf v. Westphalen in Foerste/Westphalen, Produkthaftungshandbuch3 § 53 Rn 15).

[22] 4. Bereits aus der Formulierung „in solchen und vergleichbaren Fällen“ in den Gesetzesmaterialien zu § 2 1. COVID‑19‑JuBG ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber Fristen wie die in den Materialien erwähnten (etwa § 454 ZPO) vor Augen hatte. Bei all diesen Fristen handelt es sich um Wochenfristen, deren Ablauf naturgemäß durch die pandemiebedingten Einschränkungen im Frühjahr 2020 unmittelbar drohen hätte können. Dass der Gesetzgeber eine Zehnjahresfrist – die noch dazu im Fall der Klägerin im März 2020 überhaupt nicht akut abgelaufen wäre – damit einer Hemmung unterwerfen hätte wollen, lässt sich den Materialien nicht ausdrücklich entnehmen (aA offenbar Kolmasch, Unterbrechung und Hemmung von Fristen aufgrund der COVID‑19‑Krise Zak 2020/193 [117]). Diese Frage braucht hier jedoch nicht abschließend geklärt werden:

[23] 4.1. Grundsätzlich haben sich die Gerichte bei der Auslegung der nationalen Vorschrift soweit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie zu orientieren und Rechtsbegriffe, die in der Richtlinie und dem innerstaatlichen Recht übereinstimmen, entsprechend der gemeinschaftsrechtlichen Begriffe auszulegen (RS0075866). Die Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation reicht grundsätzlich bis zur Grenze der äußersten Wortlautschranke, erstreckt sich aber zudem auf die nach dem innerstaatlichen interpretativen Methodenkatalog zulässige Rechtsfortbildung durch Analogie oder teleologische Reduktion im Fall einer planwidrigen Umsetzungslücke (RS0114158 [T8]; RS0111214). Wollte man dem Gesetzgeber daher ein anderes Verständnis, als jenes, die Frist des § 13 PHG ohnehin als eine „Erlöschensfrist“ nicht von der Bestimmung des § 2 1. COVID‑19‑JuBG erfasst anzusehen, unterstellen, wäre in richtlinienkonformer Interpretation im Wege einer teleologischen Reduktion § 2 1. COVID‑19‑JuBG auf die in § 13 PHG normierte Frist nicht anzuwenden.

[24] 4.2. Soweit die Klägerin in ihrer Revision die Anwendung der österreichischen COVID-19-Fristenregelungen auf das EU‑Mahnverfahren (Schlussanträge des Generalanwalts zu C‑18/21 Uniqa Versicherungen) als Argument für den gegenteiligen Standpunkt ins Treffen führt, übersieht sie, dass die EuMahnverfVO lediglich Mindestvorschriften festlegen will und damit gerade nicht vollharmonisierend ist. Der EuGH führt in der mittlerweile ergangenen Entscheidung vom 15. 9. 2022 (C‑18/21 Rn 34) dazu aus: Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1896/2006 nicht alle Aspekte des Europäischen Mahnverfahrens vollständig harmonisiert. Sie sieht nämlich gemäß ihrem Art 26 vor, dass sich sämtliche verfahrensrechtlichen Fragen, die in ihr nicht ausdrücklich geregelt sind, nach dem Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten richten. Eine mit Art 26 EuMahnverfVO vergleichbare Bestimmung, wonach sich sämtliche verfahrensrechtlichen Fragen, die in dieser Verordnung nicht ausdrücklich geregelt sind, nach den nationalen Rechtsvorschriften richten und daher einer Ausgestaltung durch den nationalen Gesetzgeber zugänglich sind, lässt sich der vollharmonisierenden PH‑RL nicht entnehmen. Es hat daher – unabhängig von § 2 1. COVID‑19‑JuBG – bei der zehnjährigen Erlöschensfrist des § 13 PHG zu bleiben.

[25] 4.3. Mit Blick auf die bereits dargelegte Rechtsprechung des EuGH zu Art 11 PH‑RL besteht kein Anlass zu einer Vorlage nach Art 267 AEUV („acte clair“; RS0082949).

[26] 5. Der Revision der Klägerin war damit keine Folge zu geben.

[27] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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