OGH 7Ob203/22m

OGH7Ob203/22m25.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter, in der Rechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch Zumtobel Kronberger Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei A*, vertreten durch Bollmann & Bollmann, Rechtsanwaltspartnerschaft in Wien, wegen 5.566,63 EUR sA, über die ordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 11. August 2022, GZ 1 R 81/22s‑42, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 22. März 2022, GZ 15 C 432/20v‑36, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00203.22M.0125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.094,52 EUR (darin enthalten 182,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

[1] Der Kläger schloss mit der Beklagten als Versicherer für seine im Oktober 2019 gebuchte Reise eine „All Risk Stornoversicherung“ mit den Allgemeinen Versicherungsbedingungen AVB – Fassung 1. 4. 2018 ab.

[2] Die eingangs des Klauselwerks geregelten Allgemeinen Bedingungen für alle umfassten Sparten lauten auszugsweise:

6. Nicht versicherte Ereignisse:

Neben den unten angeführten allgemeinen Ausschlüssen vom Versicherungsschutz gelten zusätzlich besondere Ausschlüsse in den jeweiligen Sparten.

6.1. Kein Versicherungsschutz besteht für Ereignisse, die -

[...]

6.1.11. infolge von Epidemien und Pandemien auftreten;

[…]

Im Abschnitt Stornoschutz lauten die Bedingungen auszugsweise:

1. Versicherte Kosten:

1.1. Die vertraglich geschuldeten Stornokosten aus dem versicherten Reisearrangement bei einer Stornierung zum Zeitpunkt des Beginnes des Eintritts des versicherten Ereignisses, sofern die Bezahlung in Geld erfolgte [...]

2. Versicherte Ereignisse:

2.1. Plötzliche, unerwartete, schwer(e) Krankheit, Bruch oder Lockerung von implantierten Gelenken, Unverträglichkeit oder Unfallverletzung des Versicherten, wenn sich daraus zwingend die Reiseunfähigkeit ergibt.

[…]“

[3] Der Kläger hatte einenHeliskiing-Urlaub in Alaska vom 28. 3. 2020 bis 4. 4. 2020 und einen Hin- und Rückflug von Seattle nach Alaska gebucht;Flüge von Salzburg nach Seattle und retour hatte er gesondert gebucht.

[4] Am 11. 3. 2020 sprach die WHO eine Pandemiewarnung aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19) aus. Am 13. 3. 2020 trat ein allgemeines Einreiseverbot in die Vereinigten Staaten von Amerika für Reisende aus dem Schengenraum in Kraft. Der Kläger erlangte davon Kenntnis und wartete die Ereignisse vorerst ab. Am 18. 3. 2020 überknöchelte der Kläger als er eine Stiege in seinem Wohnhaus hinunter ging. Dabei zog er sich eine Verletzung des rechten oberen Sprunggelenks zu, die zu seiner Reiseunfähigkeit führte. Am 20. 3. 2020 stornierte der Kläger seinen Heliskiing-Urlaub und kurz darauf auch den Hin- und Rückflug von Seattle nach Alaska; dafür musste er 100 % Stornokosten entrichten. Der Flug von Salzburg nach Seattle wurde später von der Fluglinie gestrichen; diesen Betrag erhielt der Kläger rückerstattet.

[5] Der Kläger begehrte den Ersatz der oben angeführten Stornokosten, weil er die Reise aufgrund eines versicherten Ereignisses – seiner Verletzung am Sprunggelenk – nicht habe antreten können und deshalb stornieren habe müssen.

[6] Die Beklagte wendete ein, nach den vereinbarten Allgemeinen Versicherungsbedingungen für Ereignisse infolge von Epidemien und Pandemien bestehe kein Versicherungsschutz. Aufgrund der von der WHO am 11. 3. 2020 ausgesprochenen Pandemiewarnung und des am 13. 3. 2020 von den USA für Reisende aus dem Schengenraum verhängten allgemeinen Einreiseverbots sei die behauptete Verletzung des Klägers für den Schadeneintritt nicht kausal gewesen. Der Schaden sei nämlich bereits durch die Verhängung dieses Einreiseverbots eingetreten.

[7] Das Erstgerichtgab dem Klagebegehren statt. Es habe sich das vertraglich vereinbarte und gedeckte Risiko der Unfallverletzung des Versicherten im Zusammenhang mit einer Stornierung verwirklicht. Für die Stornokosten seien nicht Ereignisse ursächlich gewesen, die infolge einer Pandemie aufgetreten seien.

[8] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die reale Kausalität gehe einer hypothetischen vor. Eine Reserveursache mache im Schadenersatzrecht weder haftbar noch könne sie den realen Schädiger entlasten. Eine Obliegenheitsverletzung dahin, die Reise nicht bereits vor seinem Unfall storniert zu haben, sei dem Kläger aufgrund der zum damaligem Zeitpunkt sehr unübersichtlichen Lage nicht vorzuwerfen.

[9] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil der Klärung der Berechtigung zum Vertragsrücktritt und einer damit einhergehenden Stornoversicherung bei individuell gebuchten Reisen für einen weiten Personenkreis Bedeutung zukomme.

[10] Mit ihrer ordentlichen Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung beantragt die Beklagte die Abänderung im Sinne einer Klagsabweisung; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

[11] Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

[13] 1. Zweck und Wesen einer Reiserücktritts- oder Stornoversicherung bestehen darin, einem Reisenden bei einem im Vertrag angegebenen Rücktrittsgrund den finanziellen Verlust abzudecken, sodass sich das Buchungsrisiko in einem solchen vom Vertrag erfassten Fall auf einen eventuell auf ihn entfallenden Selbstbeteiligungsbetrag (Selbstbehalt) beschränkt, der regelmäßig erheblich hinter der ansonsten anfallenden – und im Regelfall nach Reiseart und Rücktrittszeitpunkt gestaffelten – Stornopauschale zurückbleibt. Insoweit besteht nur Einzelgefahrendeckung (7 Ob 79/14i mwN).

[14] 2.1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen dabei zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

[15] 2.2. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung, mit der festgelegt wird, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind (vgl RS0080166 [T10]). Auf der zweiten Ebene (sekundäre Risikobegrenzung) kann durch einen Risikoausschluss ein Stück des von der primären Risikoabgrenzung erfassten Deckungsumfangs ausgenommen und für nicht versichert erklärt werden. Der Zweck liegt darin, dass ein für den Versicherer nicht überschaubares und kalkulierbares Teilrisiko ausgenommen und eine sichere Kalkulation der Prämie ermöglicht werden soll. Mit dem Risikoausschluss begrenzt also der Versicherer von vornherein den Versicherungsschutz, ein bestimmter Gefahrenumstand wird von Anfang an von der versicherten Gefahr ausgenommen (vgl 7 Ob 92/19h; RS0080166; RS0080068). Entscheidend für die Abgrenzung und Einordnung einer Bedingung ist ihr materieller Inhalt, nicht ihr äußeres Erscheinungsbild (RS0103965).

[16] 3. Das vorliegende Klauselwerk ist dadurch gekennzeichnet, dass es die jeweilige primäre Risikoumschreibung in den entsprechenden Spezialabschnitten enthält, wohingegen im allgemeinen Teil Risikoausschlüsse für alle Sparten angeführt werden, darunter auch jener des infolge einer Pandemie eintretenden Ereignisses.

[17] 3.1. In der zumStornoschutz in den dortigen Art 1.1.1. und 2.2.1. der AVBenthaltenen primären Risikoumschreibung wird festgelegt, welche – zur Reiseunfähigkeit führenden – Ereignisse von der Versicherungsdeckung umfasst sind. Danach tritt der Versicherungsfall dann ein, wenn durch plötzliche, unerwartete, schwere Krankheit, Bruch oder Lockerung von implantierten Gelenken, Unverträglichkeit oder Unfallverletzung des Versicherten die Reiseunfähigkeit bewirkt wird.

[18] 3.2. Die Beklagte bezweifelt in ihrer Revision zu Recht nicht mehr, dass beim Kläger ein versichertes Ereignis in Form eines zur Stornierung führenden Unfalls eingetreten ist. Sie führt lediglich ins Treffen, dass der in Punkt 6.1.11. der AVB enthaltene Risikoausschluss für infolge von Pandemien auftretende Ereignisse zum Tragen komme.

[19] 3.3. Zu prüfen ist daher, ob der Allgemeine Risikoausschluss des infolge einer Pandemie eintretenden Ereignisses hier verwirklicht ist. Das könnte etwa im Fall einer Stornierung aufgrund einer akuten Erkrankung an COVID-19 der Fall sein, was hier aber nicht zu beurteilen ist. Der hier von der Beklagten herangezogene Fall des Einreiseverbots ist dagegen schon von der primären Risikoumschreibung zum Storno nicht erfasst.

[20] Mit der Verhängung des Einreiseverbots hat sich daher kein im Rahmen der Stornoversicherung des Klägers versichertes Ereignis verwirklicht; vor der Verletzung des Klägers lag somit auch noch gar kein Versicherungsfall vor.

[21] 3.4. Ein Versicherungsfall ist erst mit der zur Reiseunfähigkeit führenden Verletzung des Klägers eingetreten. Da die Verletzung des Klägers aber nicht auf die Pandemie zurückzuführen war, ist der Risikoausschluss des Art 6.1.11. des allgemeinen Teils der AVB auf ihn nicht anwendbar. Für die Verletzung des Klägers besteht daher Versicherungsdeckung im Bereich Stornoschutz des Versicherungsvertrags.

[22] 4. Der Revision derBeklagtenwar daher keine Folge zu geben.

[23] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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