OGH 6Ob26/22z

OGH6Ob26/22z17.10.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Istjan, LL.M.,als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Stadt Wien – Wiener Wohnen, 1030 Wien, Rosa-Fischer-Gasse 2, vertreten durch Dr. Armin Bammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei H* R*, vertreten durch Mag. Andrea Zapotoczky, Rechtsanwältin in Wien, wegen Aufkündigung, über dieaußerordentlicheRevision der beklagten Partei gegen dasUrteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 29. Dezember 2021, GZ 39 R 202/21a‑23, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Liesing vom 9. August 2021, GZ 2 Cg 533/20f‑19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0060OB00026.22Z.1017.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die auf den Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 3 Fall 2 MRG (unleidliches Verhalten) gestützte Aufkündigung des Mietvertrags des Beklagten.

[2] Der Beklagte ist seit dem Jahr 2006 Mieter der im Eigentum der Klägerin stehenden, auf der Stiege 5 einer Wohnhausanlage gelegenen Wohnung. Seit dem Jahr 2018 ist sein Sohn Mieter einer auf der Nebenstiege (Stiege 4) gelegenen Wohnung in derselben Anlage. Der Sohn geht immer wieder zwischen seiner Wohnung und der Wohnung des Beklagten hin und her; er isst und übernachtet jedoch in der Wohnung des Beklagten.

[3] Seit dem Jahr 2018 bestehen Spannungen zwischen dem Sohn des Beklagten und der auf der Stiege 4 wohnhaften A* M* sowie der auf der Stiege 5 wohnhaften K* W*. Der Sohn des Beklagten lauerte A* M* wiederholt im Stiegenhaus auf, stellte sich ihr gezielt in den Weg, verfolgte sie und fotografierte sie ohne ihre Zustimmung, dies zum Teil mehrmals täglich. A* M* erwirkte deshalb eine einstweilige Verfügung vom 22. 1. 2020 gegen ihn. Ab diesem Zeitpunkt verstellte der Sohn des Beklagten ihr nicht mehr den Weg, verfolgte sie nicht mehr und lauerte ihr auch nicht mehr auf.

[4] Am 5. 11. 2019 fügte der Sohn des Beklagten A* M* vorsätzlich eine Verletzung am Körper zu, indem er sie packte, am Sweater riss und gegen die Wand drückte. Der Vorfall fand im Keller der Wohnhausanlage statt. Der Sohn des Beklagten wurde dafür und aufgrund des Auflauerns und Fotografierens wegen Körperverletzung und beharrlicher Verfolgung strafgerichtlich verurteilt. Der Beklagte wurde in der Hauptverhandlung am 25. 6. 2020 mit den Vorwürfen konfrontiert, sein Sohn lauere A* M* auf und habe sie am 5. 11. 2019 angegriffen. Er sieht keine Schuld bei seinem Sohn.

[5] Der Sohn des Beklagten passte wiederholt zwei Mitbewohnerinnen der Stiege 5 im Stiegenhaus ab und ging einer von ihnen, K* W*, nach. Auch im Beurteilungszeitpunkt passte er K* W* an den Wochenenden weiterhin ab. Er klopfte darüber hinaus öfters in seiner eigenen Wohnung an die Decke, wenn A* M* nicht zu Hause war, und brachte dadurch in der darüber gelegenen Wohnung von A* M* deren Hunde zum Bellen. Der Beklagte wusste bzw weiß, dass sein Sohn wiederholt andere Hausparteien im Haus abpasst.

[6] Die Klägerin brachte am gleichen Tag wie die hier zu beurteilende Kündigung gegen den Sohn des Beklagten eine auf die Kündigungsgründe des § 30 Abs 2 Z 1 und 6 MRG, nicht aber auf den Kündigungsgrund des unleidlichen Verhaltens gestützte Kündigung ein. Diese wurde rechtskräftig für unwirksam erklärt und aufgehoben (* des Erstgerichts).

[7] Die Klägerinkündigte am 19. 8. 2020 beim Erstgericht den Mietvertrag des Beklagten auf. Es liege der Kündigungsgrund des unleidlichen Verhaltens vor, weil der Sohn des Beklagten den anderen Bewohnern das Zusammenleben verleide. Der Beklagte müsse sich das Verhalten seines Sohnes zurechnen lassen, weil der Sohn bei ihm wohne, der Beklagte von dessen Verhalten Kenntnis gehabt und es nicht unterbunden, sondern durch die Erstattung einer unrichtigen Strafanzeige sogar unterstützt habe.

[8] Konkret sei der Beklagte bei dem Vorfall am 5. 11. 2019 – der Verletzung von A* M* – anwesend gewesen. Er sei danach mit seinem Sohn zur Polizei gegangen und habe eine auf falschen Anschuldigungen beruhende Strafanzeige wegen gefährlicher Drohung gegen A* M* erhoben. Das von der Staatsanwaltschaft darüber eingeleitete Ermittlungsverfahren sei bereits am 7. 11. 2019 eingestellt worden. In dem wegen des Vorfalls vom 5. 11. 2019 gegen seinen Sohn geführten Strafverfahren habe der Beklagte zugunsten seines Sohnes unrichtig ausgesagt.

[9] Der Beklagte trat dem Klagebegehren mit dem wesentlichen Vorbringen entgegen, der Sohn wohne in seiner eigenen Wohnung. Ein allfälliges unleidliches Verhalten des Sohnes könne gegenüber dem Beklagten nicht geltend gemacht werden.

[10] Die Vorinstanzen erklärten die Aufkündigung für rechtswirksam und verpflichteten den Beklagten zur Räumung.

[11] Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu, weil der Frage, ob der Kündigungsgrund im konkreten Fall verwirklicht sei, keine über den vorliegenden Fall hinausgehende Bedeutung zukomme.

[12] Rechtlich führte es aus, der Mieter habe das Verhalten anderer Personen, die mit seinem Willen den Mietgegenstand benutzen, zu verantworten. Eine Ausnahme bestehe nur, wenn er von deren Verhalten keine Kenntnis habe, was hier nicht der Fall sei. Der Beklagte habe im erstinstanzlichen Verfahren weder zu einer positiven Zukunftsprognose noch dazu, dass er keine Abhilfe gegen das Verhalten seines Sohnes schaffen könne, Vorbringen erstattet.

[13] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Beklagten, mit der er die Abänderung der angefochtenen Entscheidung und die Klageabweisung beantragt; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[14] Der Beklagte macht zusammengefasst geltend, der Zweck der Zurechnung unleidlichen Verhaltens von Mitbewohnern zum Mieter könne nicht erreicht werden, wenn der Mitbewohner eine eigene Wohnung in der selben Wohnhausanlage bewohne. Die Zurechnung sei daher nicht gerechtfertigt. Dazu liege keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision ist aus dem vom Beklagten angeführten Grund zulässig; sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[16] 1. Dem Mieter soll die Verantwortung für das unleidliche Verhalten (§ 30 Abs 2 Z 3 Fall 2 MRG) der mit ihm in Hausgemeinschaft lebenden Personen (nur) dann nicht auferlegt werden, wenn er davon keine Kenntnis hatte und infolge dessen dagegen auch nicht einschreiten konnte. War der Mieter aber in der Lage einzuschreiten, kann er sich nicht auf sein Unvermögen oder etwa darauf berufen, dass er alle ihm zu Gebote stehenden bzw ihm nach der Sachlage zumutbaren Abwehrmittel ausgeschöpft habe (RS0070371). Wollte man dem Mieter den Einwand zugestehen, dass er alle zumutbaren Abwehrmittel ausgeschöpft habe, ihm aber subjektiv tatsächlich die Abhilfe nicht gelungen sei, wäre der Schutzzweck des Kündigungsgrundes unterlaufen, der primär darin liegt, die übrigen Hausbewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen (2 Ob 152/18v, immolex 2019, 52 [Neugebauer‑Herl]; 6 Ob 189/13g).

[17] Das Gesetz gewährt den in ihrem Hausfrieden bedrohten Mietern Schutz (vgl 9 Ob 41/20z; RS0070371 [T3]) und lässt die „Verewigung“ eines untragbaren Zustands nicht zu, mag dieser durch das Verhalten eines Mieters selbst oder durch das seiner Familienangehörigen hervorgerufen sein (RS0070371 [T3]). Die Verantwortung des Mieters für das unleidliche Verhalten der Personen, die mit seinem Willen den Mietgegenstand benutzen, beruht erkennbar auf der Erwägung, dass durch die Beendigung des Mietverhältnisses auch erreicht wird, dass die Mitbewohner oder Gäste des Mieters die Hausgemeinschaft verlassen, sodass sie die Störungen des Hausfriedens nicht fortsetzen können.

[18] 2. Der vorliegende Fall zeichnet sich dadurch aus, dass dem Sohn des Beklagten aufgrund seines eigenen Mietvertrags der Zugang zur Wohnhausanlage unabhängig vom Mietverhältnis des Beklagten möglich ist. Die Wirkungen, die die Rechtsprechung mit der Zurechnung des unleidlichen Verhaltens der Mitbewohner des Mieters zum Mieter anstrebt, nämlich der Schutz der Hausgenossen vor den Störungen des Hausfriedens durch Mitbewohner des Mieters, können daher im vorliegenden Fall durch die Kündigung des Mietvertrags des Beklagten nicht oder jedenfalls nicht zur Gänze erreicht werden.

[19] Eine Fortsetzung des festgestellten unleidlichen Verhaltens des Sohnes des Beklagten durch das Abpassen, Verfolgen und Fotografieren von Hausparteien im Stiegenhaus sowie durch körperliche Übergriffe wie jenen vom 5. 11. 2019 kann durch die Kündigung des Mietvertrags des Beklagten nicht verhindert werden. Auch das Verhalten dessenSohnes, durch das Klopfen an den Plafond seiner eigenen Wohnung die Hunde in der darüber befindlichen Wohnung zum Bellen zu bringen, kann durch die Kündigung des Mietvertrags des Beklagten nicht beeinflusst werden.

[20] Bei dieser Sachlage fehlt es aber an einer Rechtfertigung dafür, dem Beklagten das unleidliche Verhalten seines Sohnes als Kündigungsgrund gemäß § 30 Abs 2 Z 3 Fall 2 MRG zuzurechnen.

[21] 3. Der Fall ist dennoch nicht entscheidungsreif im Sinn einer Klageabweisung. Die Klägerin behauptet nämlich auch ein eigenes unleidliches Verhalten des Beklagten, indem dieser nach dem Vorfall vom 5. 11. 2019 gemeinsam mit seinem Sohn eine unrichtige Anzeige gegen A* M* eingebracht und zugunsten seines Sohnes im Strafverfahren unrichtig ausgesagt habe, wodurch er den Sohn in dessen Verhalten unterstützt und bestärkt habe. Dazu haben die Vorinstanzen keine Feststellungen getroffen.

[22] Eine Kündigung wegen unleidlichen Verhaltens setzt eine Störung des friedlichen Zusammenlebens voraus, die durch längere Zeit fortgesetzt wird oder sich in häufigen Wiederholungen äußert und überdies nach ihrer Art das bei den besonderen Verhältnissen des einzelnen Falls erfahrungsgemäß geduldete Ausmaß übersteigt. Einmalige Vorfälle bilden den Kündigungsgrund nur, wenn sie schwerwiegend sind, jedoch können mehrere, an sich geringfügige Vorfälle den Kündigungstatbestand bilden (RS0070303). Schwerwiegend ist ein Vorfall, wenn er das Maß des Zumutbaren überschreitet und objektiv geeignet erscheint, auch nur einem Mitbewohner das Zusammenleben zu verleiden (RS0070303 [T3, T5, T8]). Entscheidend ist stets das Gesamtverhalten (RS0070303 [T12, T14]).

[23] Sollte sich im vorliegenden Fall erweisen, dass der Beklagte als Reaktion auf den körperlichen Angriff seines Sohnes auf eine Hausgenossin eine auf bewusst unrichtigen Angaben beruhende Anzeige gegen diese Hausgenossin einbrachte und zugunsten seines Sohnes Falschaussagen tätigte, obwohl er von dessen Nachstellungen wusste, kann darin ein eigenes, den Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 3 Fall 2 MRG erfüllendes Verhalten des Beklagten liegen, sofern die konkreten Handlungen des Beklagten nach den erst zu treffenden Feststellungen den erforderlichen Schweregrad erreichen.

[24] Da nach dem derzeit festgestellten Sachverhalt eine Beurteilung des geltend gemachten Kündigungsgrundes nicht möglich ist, ist die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Rechtssache zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht erforderlich.

[25] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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