OGH 1Ob142/22x

OGH1Ob142/22x14.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache des W*, geboren am * 1959, *, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Betroffenen, vertreten durch MMag. Dr. Georg Janovsky, Rechtsanwalt in Schwaz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 27. Juni 2022, GZ 54 R 34/22d‑76, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom 25. Februar 2022, GZ 55 P 213/17h‑73, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00142.22X.0914.000

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos behoben. Das Verfahren wird eingestellt.

Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Der Betroffene ist Beklagter in mehreren zivilgerichtlichen Verfahren. In einem gegen ihn vor einem Bezirksgericht geführten Verfahren – in dem mittlerweile „ewiges Ruhen“ vereinbart wurde – legte er ein ärztliches Attest vor, wonach er aufgrund seiner körperlichen und psychischen Verfassung „bis auf weiteres“ nicht in der Lage sei, an einer Gerichtsverhandlung teilzunehmen. Dies nahm der Vorsteher dieses Gerichts zum Anlass, die Einleitung eines Verfahrens zur Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters für den Betroffenen anzuregen.

[2] Mit Beschluss vom 15. 5. 2019 wurde für den Betroffenen ein Rechtsanwalt zum Rechtsbeistand gemäß § 119 AußStrG sowie zum einstweiligen gerichtlichen Erwachsenenvertreter für die Vertretung in Gerichtsverfahren bestellt. Dem dagegen erhobenen Rekurs des einstweiligen Erwachsenenvertreters wurde nicht Folge gegeben.

[3] Mit Beschluss vom 30. 7. 2021 bestellte das Erstgericht diesen Rechtsanwalt zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter des Betroffenen für die Vertretung in rechtlichen Belangen, insbesondere vor Ämtern, Behörden und Gerichten.

[4] Das Rekursgericht hob diesen Beschluss aufgrund von Verfahrensfehlern sowie fehlender Feststellungen zu den für den Betroffenen zu erledigenden Angelegenheiten und zur Gefahr einer daraus resultierenden Selbstschädigung auf.

[5] Mit Schriftsatz vom 14. 12. 2021 beantragte der einstweilige Erwachsenenvertreter seine Enthebung, weil nicht erkennbar sei, inwieweit sich der Betroffene durch sein Verhalten selbst Nachteile zufügen könne.

[6] Mit Beschluss vom 25. 2. 2022 wies das Erstgericht den Enthebungsantrag ab und bestellte den Rechtsanwalt neuerlich zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter zur Vertretung des Betroffenen in gerichtlichen Verfahren.

[7] Es bestehe bei ihm „bezüglich der Justiz und Exekutive eine private und unkorrigierbare Wirklichkeitsüberzeugung“. Es liege eine paranoide Persönlichkeitsstörung vor, die sich im Laufe der Zeit zu einer anhaltenden wahnhaften Störung im Sinne eines querulatorischen Wahns entwickelt habe. Der Betroffene zeige keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Positionen, weise keine Korrigierbarkeit seiner Denkinhalte auf und sei uneinsichtig. Seine wahnhafte Störung konzentriere sich auf die Justiz und die Exekutive. So sei er etwa davon überzeugt, dass die Richterin in einem gegen ihn geführten Strafverfahren den dort bestellten Sachverständigen zur Erstattung eines falschen Gutachtens (zu seiner Zurechnungsfähigkeit) angehalten habe. Er verlange diesbezüglich eine „Aufklärung“. Er akzeptiere auch nicht, dass die Staatsanwaltschaft von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ein von ihm angezeigtes Justizorgan abgesehen habe. Der Betroffene versuche, seine subjektive Wahrheit mit allen Mitteln durchzusetzen und sei nicht in der Lage, Entscheidungen von Behörden und/oder Gerichten zu akzeptieren. Er sei daher nicht fähig, seine Interessen vor Gericht zu seinem Vorteil zu vertreten. Es bestehe die Gefahr kostenaufwändiger, mutwilliger und/oder offenbar aussichtsloser Prozessführungen, wenn Entscheidungen getroffen würden, die nicht seiner subjektiven Wahrheit entsprächen.

[8] Rechtlich gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass der Betroffene an einer psychischen Krankheit leide und daher nicht in der Lage sei, gerichtliche Verfahren ohne Nachteil für sich selbst zu führen. Insoweit bestünde auch die konkrete Gefahr einer Selbstschädigung.

[9] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es schloss sich der Begründung des Erstgerichts an, wonach für den Betroffenen die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters geboten sei, weil er aufgrund seiner psychischen Erkrankung Gefahr laufe, sich durch sein uneinsichtiges und rational nicht steuerbares Verhalten in gegen ihn geführten Gerichtsverfahren am Vermögen zu schädigen. Es seien auch weitere kostenaufwändige, mutwillige und/oder offenbar aussichtslose Prozessführungen zu erwarten.

[10] Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels erheblicher Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[11] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen ist entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch zulässig, weil den Vorinstanzen eine zu korrigierende Fehlbeurteilung unterlief; er ist auch berechtigt.

[12] 1. Die in § 271 ABGB (idF des 2. ErwSchG) verwendeten Begriffe der psychischen Krankheit oder vergleichbaren Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit sind Rechtsbegriffe, die nicht unbedingt mit medizinischen Definitionen übereinstimmen müssen. Sie umfassen jede geistige Störung, welche die gehörige Besorgung eigener Angelegenheiten hindert (RS0049003). Auch eine weit über das gewöhnliche Maß hinausgehende Uneinsichtigkeit in Rechtsstreitigkeiten kann die Bestellung eines Erwachsenenvertreters erfordern (1 Ob 125/07z).

[13] Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt besteht beim Betroffenen eine paranoide bzw wahnhafte Persönlichkeitsstörung als Beeinträchtigung iSd § 271 ABGB. Dies stellt der Revisionsrekurswerber nicht in Abrede.

[14] 2. Er wendet sich jedoch dagegen, dass ihm ohne Erwachsenenvertreter konkrete Vermögensnachteile drohen.

[15] 2.1. Die Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters müssen konkret und begründet sein und sich neben der psychischen Krankheit oder vergleichbaren Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit auch auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen beziehen (RS0008526; 5 Ob 204/15h). Ein Interesse Dritter, der Allgemeinheit oder des Staats rechtfertigen die Bestellung eines Erwachsenenvertreters nicht (1 Ob 20/21d; 5 Ob 224/21h).

[16] 2.2. Eine generelle „Unbelehrbarkeit“, die fehlende Akzeptanz von Entscheidungen, das „Beharren auf eigenen Rechtspositionen“, ein ständiges Wiederholen gleichartigen Vorbringens sowie eine „weit über das gewöhnliche Maß hinausgehende Uneinsichtigkeit“ (insbesondere) in Rechtsstreitigkeiten erachtet der Obersten Gerichtshof im Allgemeinen zwar als Indiz für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters (1 Ob 20/21d mwN). Zusätzlich ist aber erforderlich, dass sich der Betroffene durch ein solches „Querulieren“ selbst einen Schaden zufügt (RS0072687). Für die Annahme eines relevanten Nachteils reicht dabei nicht schon jeder drohende Prozessaufwand (RS0072687 [T1]), eine bloß potenzielle künftige Gefährdung (RS0072687 [T3]) oder ein unschlüssiges, aber nicht absurdes Prozessvorbringen (RS0110325; 1 Ob 20/21d) aus. Vielmehr ist konkret zu prüfen, in welchem Zusammenhang sich der Betroffene in einer seinen Interessen objektiv zuwiderlaufenden Weise verhalten hat und/oder aufgrund welcher besonderen Umstände zu befürchten ist, er werde sich auch in Zukunft Schaden zufügen (RS0008526 [T2, T4]). Dies gilt besonders nach der Rechtslage aufgrund des 2. ErwSchG, dessen erklärte Absicht es ist, auch Personen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit die möglichst selbständige Besorgung ihrer Angelegenheiten zu ermöglichen (1 Ob 195/19m; 1 Ob 20/21d).

[17] 2.3. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen ist der Betroffene Beklagter in zwei von seiner – durch einen Erwachsenenvertreter vertretenen – Mutter gegen ihn eingeleiteten Gerichtsverfahren. In einem Fall wurde er auf Räumung einer Liegenschaft geklagt, im anderen Verfahren (in diesem ist der Betroffene durch einen Rechtsanwalt vertreten) auf Rückzahlung behaupteter unberechtigter Behebungen vom Konto der Mutter. Beide Verfahren sind seit deren Tod am 21. 6. 2019 unterbrochen und wurden bis dato nicht fortgesetzt. In einem weiteren Verfahren wurde der Betroffene – wie sich aus dem elektronischen Register ergibt – von seiner Zahnärztin auf Zahlung offenen Werklohns geklagt. Weitere zivilgerichtliche Verfahren, in denen der Betroffene Partei ist, sind nach den Feststellungen nicht (mehr) anhängig. Vor einem Landesverwaltungsgericht wird gegen ihn ein Verfahren in einer abfallwirtschaftsrechtlichen Angelegenheit geführt. Ein Strafverfahren gegen den Betroffenen wurde eingestellt.

[18] 2.4. Der Revisionsrekurswerber weist zutreffend darauf hin, dass dieser Sachverhalt keine ausreichende Grundlage für die Annahme der konkreten Gefahr einer Selbstschädigung bietet. Es wurde auch im zweiten Rechtsgang kein schädigendes Prozessverhalten des Betroffenen in den gegen ihn geführten Gerichtsverfahren – soweit diese überhaupt noch anhängig sind – festgestellt. Insbesondere bestehen keine Hinweise darauf, dass seinen Prozessstandpunkten in diesen Verfahren keinerlei Erfolgsaussicht zukäme, diese mutwillig oder offenbar aussichtslos wären, und mit der Rechtsverteidigung daher die immanente Gefahr einer Selbstschädigung verbunden sei. Aufgrund welcher objektivierten Umstände zu befürchten wäre, der Betroffene werde sich in den gegen ihn geführten Verfahren aufgrund seiner psychischen Beeinträchtigung durch irrationale Prozesshandlungen in einer seinen Interessen zuwiderlaufenden Weise Schäden zufügen, ist daher nicht konkret ersichtlich. Hinsichtlich des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens steht auch nicht fest, ob der Betroffene dort überhaupt kostenersatzpflichtig werden könnte. Allein dass er Partei in mehreren Verfahren ist, lässt nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 271 Z 1 ABGB schließen (1 Ob 20/21d). Die bloße Bezugnahme des Rekursgerichts auf die „Persönlichkeitsstruktur“ des Betroffenen lässt noch keine Gefahr einer Selbstschädigung erkennen.

[19] 2.5. Dass beim Betroffenen in Zukunft (ohne Bestellung eines Erwachsenenvertreters) kostenaufwändige, mutwillige und/oder offenbar aussichtslose (aktive) Prozessführungen zu erwarten wären, findet keine ausreichende Deckung im Sachverhalt. Zwar will er nicht akzeptieren, dass die Staatsanwaltschaft von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ein von ihm angezeigtes Justizorgan absah. Dies lässt aber keine Vermögensnachteile für ihn erwarten. Dass er in Zukunft aktiv kostenaufwändige Gerichtsverfahren einleiten würde, liegt schon deshalb nicht besonders nahe, weil dies nach den Feststellungen auch bisher nicht der Fall war. An den von den Vorinstanzen genannten Verfahren war er jeweils als Beklagter bzw Antragsgegner beteiligt.

[20] 2.6. Auch die Feststellungen zum Verlassenschaftsverfahren nach seiner Mutter lassen nicht erkennen, dass sich der Betroffene dort wegen aussichtsloser Verfahrenshandlungen selbst schädigen könnte. An dem zwischen seiner Schwester und der Verlassenschaft geführten Vermächtnisprozess, ist er nicht beteiligt. Dass der Betroffene ein Testament seiner Mutter, in dem seine Schwester enterbt worden sein soll, dem Gerichtskommissär nicht im Original übergeben will, bietet noch keinen hinreichenden Grund für die Annahme, er könne sich dadurch am Vermögen schädigen.

[21] 3. Da sich derzeit aus dem von den Vorinstanzen angenommenen Sachverhalt insgesamt keine konkrete Gefahr einer Selbstschädigung des Betroffenen ableiten lässt, ist das Verfahren gemäß § 122 Abs 2 AußStrG einzustellen.

[22] 4. Ein Kostenzuspruch kommt im Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters grundsätzlich nicht in Betracht, da dieses Verfahren nicht für die Durchsetzung oder Abwehr widerstreitender Parteiinteressen konzipiert ist. Damit fehlt es an der im § 78 AußStrG vorausgesetzten kontradiktorischen Verfahrenssituation für eine Kostenersatzpflicht in diesem Verfahren (RS0120750).

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