OGH 2Ob105/22p

OGH2Ob105/22p6.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda, und Dr. Kikinger in der Rechtssache der wiederaufnahmsklagenden Partei P*, vertreten durch Mag. Mehmet Munar, Rechtsanwalt in Wien, gegen die wiederaufnahmsbeklagte Partei R*, vertreten durch Appiano & Kramer Rechtsanwälte Gesellschaft m.b.H. in Wien, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 12 Cg 37/17m des Handelsgerichts Wien (Streitwert: 45.000 EUR), über den Rekurs der wiederaufnahmsklagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 5. April 2022, GZ 2 R 36/22m‑25, mit dem aus Anlass der Berufung der wiederaufnahmsklagenden Partei das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 25. Februar 2021, GZ 12 Cg 64/19k‑17, samt vorangegangenem Verfahren als nichtig aufgehoben und die Klage zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00105.22P.0906.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die wiederaufnahmsklagende Partei ist schuldig, der wiederaufnahmsbeklagten Partei die mit 2.221,20 EUR (darin 370,20 EUR USt) bestimmten Rekursbeantwortungskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Im Hauptverfahren, dessen Wiederaufnahme angestrebt wird, begehrte die wiederaufnahmsklagende Immobilienmaklerin (Klägerin) gestützt auf die Behauptung eines am 15. 10. 2013 mündlich zustande gekommenen Kaufvertrags über den Erwerb einer Liegenschaft und eine anschließend treuwidrige Vereitelung der Kaufvertragsabwicklung durch die wiederaufnahmsbeklagte Käuferin (Beklagte) die Zahlung ihrer Maklerprovision. Mangels festgestellten Vertragsabschlusses wurde das Klagebegehren abgewiesen.

[2] In ihrer am 15. 10. 2019 eingebrachten Wiederaufnahmsklage bringt die Klägerin vor, am 17. 9. 2019 die Kopie einer – im Hauptverfahren trotz umfangreicher Suche nicht aufgefundenen – E-Mail vom 18. 12. 2013 erhalten zu haben, die mit der Zeugenaussage des Geschäftsführers der Beklagten im Hauptverfahren diametral in Widerspruch stehe. Bei Berücksichtigung auch dieses Beweismittels wäre von einem Vertragsabschluss spätestens am 26. 11. 2013 auszugehen gewesen.

[3] Die Beklagte wendet ein, eine Wiederaufnahme sei nicht zulässig. Die Klägerin treffe ein Verschulden an der Nichtverwendung der Urkunde im Hauptverfahren. Diese sei auch nicht geeignet, zu einer anderen Beweiswürdigung zu führen.

[4] Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklage ab. Die Klägerin habe nicht beweisen können, dass sie die Urkunde erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung im Hauptverfahren erhalten habe und sie daher an deren späteren Auffindung kein Verschulden treffe. Das E-Mail sei bei einer Gesamtschau der Beweiswürdigung des Hauptverfahrens auch nicht konkret geeignet, eine abweichende Interpretation der Beweislage herbeizuführen.

[5] Das Berufungsgericht hob mit dem angefochtenen Beschluss aus Anlass der Berufung der Klägerin das Urteil des Erstgerichts und das diesem vorangegangene Verfahren als nichtig auf und wies die Wiederaufnahmsklage zurück. Im Hauptverfahren habe die Klägerin ihren Provisionsanspruch auf einen mündlichen Abschluss des Kaufvertrags am 15. 10. 2013 gestützt. Das neue Beweismittel enthalte aber überhaupt keine Anhaltspunkte in diese Richtung, sodass es bereits abstrakt nicht geeignet sei, zu einer günstigeren Entscheidung im Hauptverfahren zu führen. Das Fehlen dieser für die Wiederaunahmsklage notwendigen Zulässigkeitsvoraussetzung sei in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen, das Verfahren für nichtig zu erklären und die Klage zurückzuweisen.

[6] Dagegen richtet sich der Rekurs der Klägerin an den Obersten Gerichtshof wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und der Wiederaufnahme stattzugeben, in eventu das Verfahren an eine der beiden Vorinstanzen zurückzuverweisen.

[7] Die Beklagte beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Rekurs ist nicht berechtigt.

[9] Die Klägerin argumentiert, aus der Urkunde ergebe sich, dass bei der Besprechung am 26. 11. 2013 nicht erstmalig, sondern nochmals – und daher wie bereits bei der einzig vorangegangenen Besprechung am 15. 10. 2013 – das Gefühl der grundsätzlichen Handelseinigkeit vermittelt worden sei. Dem Beweismittel könne daher eine abstrakte Eignung, zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung im Hauptverfahren zu führen, nicht abgesprochen werden.

[10] 1. Wenn das Berufungsgericht unter Nichtigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens und des Urteils die Klage zurückweist, ist sein Beschluss gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO stets, also unabhängig vom Streitwert und vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage, anfechtbar (RS0043882). Das Rekursverfahren ist zweiseitig, die Rekurs-(beantwortungs‑)frist beträgt 14 Tage (RS0043882 [T14]).

[11] 2. Die neuen Tatsachen und Beweismittel, auf die sich eine Wiederaufnahmsklage stützt, müssen nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung von Einfluss sein. Es genügt vielmehr, dass sie geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen (RS0044411; RS0044510). Besteht die Möglichkeit einer für den Wiederaufnahmskläger günstigen Beeinflussung der Gesamtwürdigung durch das neue Beweismittel, ist die Wiederaufnahme zu bewilligen (RS0124562). Dasselbe gilt für Beweismittel zur Dartuung oder Widerlegung von Hilfstatsachen; hier reicht das Vorbringen von Beweismitteln aus, die, wenn sie im Vorprozess bekannt gewesen wären, zu einer anderen Würdigung der streitentscheidenden Beweismittel geführt hätten oder die den Nachweis einer objektiv unrichtigen Zeugenaussage erbringen (RS0044411 [T12]; RS0044510 [T21]).

[12] 3. Bereits im Vorprüfungsverfahren (§ 538 ZPO) ist abstrakt (RS0036544 [T2]) zu prüfen, ob die als Wiederaufnahmsgrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO geltend gemachten Umstände von vornherein keinen Einfluss auf die Entscheidung in der Hauptsache haben können und daher absolut ungeeignet sind, eine maßgebliche Änderung der Tatsachengrundlagen herbeizuführen. Ist dies der Fall, ist die Klage – in jeder Lage des Verfahrens auch von Amts wegen (vgl RS0044527) – mit Beschluss zurückzuweisen (RS0044620). Bei der abstrakt vorzunehmenden (Schlüssigkeits‑)Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen im Vorprüfungsverfahren lässt sich daher nur beurteilen, ob sich aus dem Klagsvorbringen selbst ergibt, dass die vorgebrachten Tatsachen oder die aus den neuen Beweismitteln abzuleitenden Tatsachen sogar dann, wenn man sie als richtig unterstellt, zu keiner Änderung der (früheren) Entscheidung führen können (RS0044631). Eine über eine solche „eingeschränkte Beweiswürdigung“ hinausgehende Beurteilung des Beweiswerts der neuen Beweismittel hat hingegen im Vorprüfungsverfahren nicht stattzufinden (RS0044510 [T9, T14]; RS0036544 [T2, T3, T4]). Es darf im Vorprüfungsverfahren also (noch) nicht entschieden werden, ob die behaupteten Tatsachen oder Beweismittel im Hinblick auf ihren faktischen Gehalt konkret geeignet sind, eine andere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen, insbesondere eine andere Würdigung der vorliegenden Beweise zu bewirken (RS0044510 [T6, T9]).

[13] 4. Das vom damaligen Geschäftsführer der Beklagten verfasste E-Mail vom 18. 12. 2013, auf das sie ihre Wiederaufnahmsklage stützt, lautet auszugsweise wie folgt:

„Sehr geehrter Herr Baumeister. [...],

wir nehmen Ihre Schreiben mit Verwunderung und Bedauern zur Kenntnis.

Mit Verwunderung, da wir bis zu ihrem unten angehängten Schreiben niemals darüber informiert wurden, dass Sie bereits mit einem anderen Kaufinteressenten eine rechtliche Bindung eingegangen sind. Im Gegenteil, wir sind seit dem ersten gemeinsamen Gespräch vom 15. 10. 2013 immer davon ausgegangen, dass es sich um ein faires Bieterverfahren handelt. Da wir bis zum Ablauf der ursprünglichen Anbotsfrist von Ihnen weder eine positive noch negative Rückmeldung erhalten haben, hat [...] mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Daraufhin haben wir den gemeinsamen Termin am 26. 11. 2013 wahrgenommen, bei dem wir mit Ihnen bereits mündlich eine Nachbesserung des Anbots besprochen haben, welches Sie von uns schriftlich (erfolgte vor der eigentlich vereinbarten Frist von unserer Seite bereits am 28. 11. 2013) bis 29. 11. 2013 nachgefordert haben. Bei diesem Termin haben Sie uns mit der Ankündigung, die Vertragsentwürfe mit Anfang der KW 49 an uns zur Bearbeitung zu schicken, nochmals das Gefühl der grundsätzlichen Handelseinigkeit vermittelt. Spätestens jedoch zum Zeitpunkt der gemeinsamen Besprechung am 26. 11. 2013 hätten Sie uns, fairerweise, auf eine rechtliche Bindung mit einem anderen Kaufinteressenten hinweisen können. Dadurch hätten Sie uns weitere Bemühungen und Aufwendungen erspart. Stattdessen haben Sie uns bis zuletzt im Glauben gelassen, dass Sie den Verkauf der Liegenschaft aufgrund der schwierig einzuholenden Zustimmungen noch nicht durchführen können. Dies war auch der Grund, wieso wir unsererseits die Fristen bis zuletzt verlängert haben.

Mit Bedauern, da wir überzeugt sind, Ihnen ein für Ihre Gesellschaft hervorragendes Angebot unterbreitet zu haben […]“

[14] Ein für die Klägerin günstigeres Ergebnis im Hauptverfahren wäre nur bei Bejahung eines bereits am 15. 10. 2013 erfolgten mündlichen Vertragsabschlusses möglich. Der Oberste Gerichtshof teilt im Ergebnis die Auffassung des Berufungsgerichts, das E-Mail dokumentiere unmissverständlich, dass die Gespräche am 15. 10. 2013 bloß der Beginn des Verhandlungsprozesses gewesen seien, wird doch explizit auf das Bieterverfahren und darauf verwiesen, nach Ablauf der Anbotsfrist weder eine positive noch negative Rückmeldung erhalten zu haben. Auch aus dem Hinweis, am 26. 11. 2013 nochmals – also wie bereits am 15. 10. 2013 – das bloße „Gefühl der Handelseinigkeit“ vermittelt bekommen zu haben, ist für die Klägerin nichts gewonnen, wird im E‑Mail doch genau zwischen dem bloßen „Gefühl der Handelseinigkeit“ und darüber hinausgehenden rechtlichen Bindungen gegenüber anderen Interessenten unterschieden und letztlich lediglich darauf hingewiesen, überzeugt zu sein, ein hervorragendes Anbot unterbreitet zu haben.

[15] Im Ergebnis ist die vorgelegte Urkunde mangels auch nur des geringsten Hinweises auf einen am 15. 10. 2013 bereits erfolgten Vertragsabschluss schon abstrakt nicht geeignet, zu einer maßgeblichen Änderung der Tatsachengrundlagen zu führen.

[16] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

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