OGH 14Os62/22g

OGH14Os62/22g24.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. August 2022 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Turner in der Strafsache gegen * H* wegen des Vergehens der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB, AZ 50 Hv 9/22h (vormals AZ 36 Hv 94/20b) des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 1. Februar 2022, AZ 32 Bs 352/21f (ON 24), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Artner, und des Verteidigers Mag. Dr. Havlik zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0140OS00062.22G.0824.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 50 Hv 9/22h (vormals AZ 36 Hv 94/20b) des Landesgerichts Wiener Neustadt verletzt das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 1. Februar 2022, AZ 32 Bs 352/21f (ON 24), § 178 StGB.

Dieses Urteil wird aufgehoben und es wird dem Oberlandesgericht Wien aufgetragen, über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 8. September 2021, GZ 36 Hv 94/20b‑19, neu zu entscheiden.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 8. September 2021 (ON 19) wurde * H* von der wider sie erhobenen Anklage, sie habe am 10. September 2020 in P* eine Handlung begangen, die geeignet war, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren anzeigepflichtigen Krankheit, nämlich des „2019 neuartiges Corona Virus (2019‑nCoV)“ (der durch den Erreger SARS‑CoV‑2 ausgelösten Erkrankung COVID‑19 [Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz betreffend anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten 2020 BGBl II 2020/15]) unter Menschen herbeizuführen, indem sie trotz Kenntnis ihres positiven COVID‑19‑Testergebnisses ein Heurigenlokal besuchte und sich dort ca eineinhalb Stunden aufhielt, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

[2] Nach den Feststellungen des Erstgerichts (ON 19 S 2) machte H* am 8. September 2020 einen COVID‑19 PCR‑Test. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mit Ausnahme eines Kratzens im Hals keine Symptome. Am 10. September 2020 erfuhr sie per Mail, dass sie positiv auf COVID‑19 getestet worden war. Der Ct‑Wert lag bei 34. In der Folge fuhren H* und deren Mutter zu einem zu dieser Zeit kaum besuchten Heurigenlokal. Sie saßen etwa eineinhalb Stunden lang unter Einhaltung der Abstandsregeln und der Mund‑Nasen‑Schutzpflicht im Gastgarten.

[3] In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus (ON 19 S 4 f), dass die abstrakt potentielle Verbreitungsgefahr nur bei einer übertragbaren Krankheit, also bei Ansteckungsgefahr, gegeben sei. Die symptomlose Angeklagte sei aufgrund des festgestellten Ct‑Werts von 34 objektiv nicht mehr ansteckend und deren Verhalten daher nicht tatbildlich gewesen.Selbst wenn bei einem Ct‑Wert von größer als 30 doch noch ein Restrisiko einer Ansteckung bestünde, wäre dieses als sozial‑adäquat einzustufen. Da die Angeklagte zudem die üblichen Verhaltensregeln des sozialen Distanzhaltens für Gesunde eingehalten habe, könne ihr kein sozial-inadäquat gefährliches Verhalten angelastet werden.

[4] Gegen den Freispruch richtete sich die von der Staatsanwaltschaft erhobene Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe und wegen des Ausspruchs über die Schuld (ON 20). Mit Urteil vom 1. Februar 2022, AZ 32 Bs 352/21f (ON 24), gab das Oberlandesgericht Wien der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht.

[5] Nach den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts (ON 24 S 4 ff) sei die typische Gefährdungseignung eines Verhaltens beim (abstrakt‑)potentiellen Gefährdungsdelikt des § 178 StGB dann anzunehmen, wenn dadurch die Möglichkeit der Verbreitung der Krankheit in ernst zu nehmender Weise erhöht wird. Dies sei ex ante (zum Zeitpunkt der Tathandlung) zu prüfen. Erst nach der Tatbegehung bekannt gewordene Umstände (wie zB ein Ct‑Wert eines durchgeführten COVID‑19‑Tests von über 30, demzufolge von keiner Infektiosität auszugehen ist) hätten außer Betracht zu bleiben. Der Täter werde für ein Verhalten bestraft, weil er zumindest habe erkennen können, dass er in dem Moment eine Gefahr für andere darstellen könnte. Dass er tatsächlich mit einer anzeige- oder meldepflichtigen, übertragbaren Krankheit infiziert ist, werde hingegen nicht verlangt. Das Erstgericht sei nicht verhalten gewesen, weitere Beweise zur Viruslast und demnach zur Infektiosität der Angeklagten zum Tatzeitpunkt aufzunehmen. Bei der gebotenen Betrachtungsweise lägen Anhaltspunkte vor, dass das Verhalten der Angeklagten typischerweise geeignet gewesen sei, die Gefahr der Verbreitung einer unter Menschen übertragbaren Krankheit herbeizuführen. Der Freispruch sei – schon aufgrund des Verlassens der Wohnung und des Aufsuchens eines Gastgartens trotz des positiven PCR‑Tests – auch nicht dadurch begründbar, dass die Angeklagte kein sozial inadäquates Verhalten gesetzt habe. Nachdem das Erstgericht keine Feststellungen zur subjektiven Tatseite getroffen habe, erweise sich eine Verfahrenswiederholung als unumgänglich.

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, verletzt die in dieser Begründung des Berufungsurteils vertretene, zur Stattgebung der Berufung „wegen des Ausspruchs über die Schuld“ (vgl aber zu den Bezugspunkten von Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe und jener wegen des Ausspruchs über die Schuld Ratz, WK‑StPO vor §§ 280–296a Rz 12 ff) führende Rechtsansicht das Gesetz:

[7] Nach § 178 StGB ist strafbar, wer eine Handlung begeht, die geeignet ist, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen herbeizuführen, wenn die Krankheit ihrer Art nach zu den wenn auch nur beschränkt anzeige‑ oder meldepflichtigen Krankheiten gehört.

[8] Die im Tatbestand beschriebene Gefahr ist jene der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen. Ob eine Tathandlung geeignet ist, eine solche Gefahr herbeizuführen, ist nach objektiven Gesichtspunkten und allenfalls auch unter Berücksichtigung von Umständen, die zeitlich nach der Tat liegen, zu beurteilen (EBRV 30 BlgNR 13. GP  316). Die (Verbreitungs‑)Gefahr muss zwar nicht tatsächlich eintreten, die Tathandlung muss aber typischerweise geeignet sein, sie herbeizuführen. Der Rechtsfrage nach der Gefährdungseignung logisch vorgelagert ist jedoch die – auf der Feststellungsebene angesiedelte – Frage nach dem Vorliegen einer übertragbaren Krankheit, also einer solchen, bei der ein Krankheitserreger unmittelbar oder mittelbar von einem Individuum auf ein anderes übergehen kann. Um in die Prüfung der Eignung der Tathandlung eintreten zu können, muss das Gericht daher jeweils fallbezogen das Vorhandensein eines entsprechenden Krankheitserregers feststellen (13 Os 130/21y, 131/21w mwN; vgl EBRV 30 BlgNR 13. GP  322). In Fällen, in denen es – wie hier – nicht um mittelbar eingesetzte Infektionsquellen, sondern um die Gefahr der unmittelbaren Übertragung vom Körper des mutmaßlichen Täters auf ein anderes Individuum geht, bedarf es demnach Konstatierungen dazu, dass jene Person, deren Verhalten strafrechtlich geprüft wird, Trägerin eines entsprechenden Krankheitserregers ist.

[9] Nicht anders als – bei solchen Fallkonstellationen – die tatsächlich vorliegende Infektion, ist auf der Sachverhaltsebene auch die Infektiosität im Tatzeitpunkt als Voraussetzung für die Beurteilung der Rechtsfrage nach der Eignung zu klären (vgl dazu Hajszan, Keine Gefährdung ohne Gefährlichkeit: Zur Frage der Strafbarkeit nach §§ 178 f StGB ohne Infektion, ÖJZ 2022, 216 [219]; ders, Husten einer nicht infizierten Person – Keine Strafbarkeit nach § 178 StGB; JSt 2022, 259 [263 f]; vgl auch Murschetz in WK2 StGB §§ 178, 179 Rz 6 mwN). Dabei ist– entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – durchaus auf nachträglich gewonnene Beweisergebnisse (etwa ein Sachverständigengutachten) mit Aussagekraft für den Tatzeitpunkt Bedacht zu nehmen.

[10] Da nicht auszuschließen ist, dass sich diese Gesetzesverletzung zum Nachteil der Angeklagten auswirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

[11] Mit Blick auf die Ausführungen des Erst‑ und des Berufungsgerichts zur Sozial(in)adäquanz des Verhaltens der Angeklagten (ON 19 S 5; ON 24 S 9 f) bleibt anzumerken, dass – ungeachtet verwaltungsstrafrechtlicher Konsequenzen der Missachtung einer bescheidmäßig verfügten Quarantäne – das Verhalten einer symptomlosen Person, das unter Einhaltung zur Tatzeit empfohlener Vorsichtsmaßnahmen Kontakt mit anderen Personen mit sich bringen kann, unter dem Aspekt einer Strafbarkeit nach §§ 178 f StGB dann nicht als sozialinadäquat anzusehen ist, wenn per Verordnung geregelt ist, dass (etwa) bei einer bestimmten Viruslast nicht von einer Ansteckungsgefahr auszugehen ist (vgl erneut Murschetz in WK2 StGB §§ 178, 179 Rz 6 [zu {bloßen} Empfehlungen des Bundesministeriums für Gesundheit entsprechendem Verhalten]; vgl auch Fuchs/Zerbes AT Ⅰ11 11/6). Solches sahen etwa § 9 Abs 3 Z 2, § 10 Abs 4 Z 2 der 4. COVID‑19‑SchuMaV BGBl Ⅱ 2021/58 vor, welche Bestimmungen aber erst nach der hier aktuellen Tatzeit in Kraft getreten und daher in der vorliegenden Strafsache nicht heranzuziehen sind (Fuchs/Zerbes AT Ⅰ11 10/5 [wonach Sozialadäquanz im Tatzeitpunkt feststehen muss]).

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