OGH 8ObA32/21w

OGH8ObA32/21w3.8.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden,die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Wessely‑Kristöfel als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Johanna Biereder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Betriebsrat der Angestellten des B*, gegen die beklagte Partei Gemeindeverband B*, vertreten durch Dr. Markus Orgler, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. März 2021, GZ 13 Ra 12/21v‑34, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132656

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Hängt die Entscheidung von der Lösung einer Frage des Gemeinschaftsrechts ab, so ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Nachprüfung dessen Anwendung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nur zulässig, wenn der zweiten Instanz bei Lösung dieser Frage eine gravierende Fehlbeurteilung unterlief (RIS‑Justiz RS0117100). Das ist hier nicht der Fall.

[2] 2.1 Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich der Einzelne dem Staat gegenüber auf eine Richtlinie berufen, unabhängig davon, in welcher Eigenschaft – als Arbeitgeber oder als Hoheitsträger – der Staat handelt. In dem einen wie dem anderen Fall muss nämlich verhindert werden, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen ziehen kann. Eine Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen, gehört zu den Rechtssubjekten, denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können (C‑282/10 , ECLI:EU:C:2012:33, Rn 38 und 39, je mwN).

[3] 2.2 Die RL 97/81/EG kommt daher gegenüber dem beklagten Gemeindeverband unmittelbar zur Anwendung. Nach § 4 Abs 1 der Teilzeit-Rahmenvereinbarung dürfen Teilzeitbeschäftigte in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt.

[4] 3. Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind zur Erreichung eines rechtmäßigen Ziels angemessen und notwendig (vgl Art 2 Abs 1 lit b der RL 2006/54/EG ; 8 ObA 70/18d). Das Vorliegen eines besonderen Nachteils kann ua festgestellt werden, wenn nachgewiesen wird, dass sich die betreffende Regelung auf einen signifikant höheren Anteil von Personen eines Geschlechts im Vergleich zu Personen des anderen Geschlechts ungünstig auswirkt. Dies kann mit allen Mitteln, ua anhand statistischer Beweise, festgestellt werden (C‑274/18 , ECLI:EU:C:2019:828, Rn 45 und 46, je mwN).

[5] 4.1 Nach den Feststellungen beschäftigt der Beklagte etwa gleich viele Vollzeit- wie Teilzeitbeschäftigte im Pflegedienst. Durchschnittlich 90 % der Teilzeitbeschäftigten sind weiblich, bei Vollzeitbeschäftigten sind es etwa 80 %. Für ungeplante Sonn- und Feiertagsdienste bei Krankheitsfällen werden in 55 %–66 % der Fälle Teilzeitmitarbeiter herangezogen, wobei der Großteil dieser Dienste von weiblichen Mitarbeitern verrichtet wird. Für ungeplante Nachtdienste bei Krankheitsfällen werden zumindest seit 2019 in 55 %–64 % der Fälle Teilzeitmitarbeiter herangezogen. Auch dabei wird ein Großteil der Dienste von weiblichen Mitarbeitern übernommen.

[6] 4.2 Davon ausgehend gelangten die Vorinstanzen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine unionsrechtswidrige Diskriminierung vorliegt, weil nach §§ 29, 53 und 55 Tiroler G‑VBG 2012 Teilzeitbeschäftigte bei sogenannten Einspringdiensten an Sonn- und Feiertagen lediglich einen Zuschlag von einem Viertel des Zuschlags Vollzeitbeschäftigter und in der Nacht überhaupt keinen erhöhten Zuschlag erhalten, während Vollzeitbeschäftigte einen erhöhten Zuschlag von 100 % bekommen.

[7] 5.1 Dieser Beurteilung vermag der Revisionswerber nichts Stichhältiges entgegenzusetzen, zumal er die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Regelungen dem in § 4 Abs 2 der Teilzeit-Rahmenvereinbarung festgelegten Pro-rata-temporis-Grundsatz widerstreiten, wonach Ansprüche von Teilzeitbeschäftigten im Verhältnis zum Arbeitszeitausmaß zu bemessen sind, nicht bekämpft (vgl RS0118709). Schon deshalb ist von einer (unmittelbaren) Diskriminierung der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, die vom Beklagten noch dazu überproportional oft zu Einspringdiensten herangezogen wird, gegenüber der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten auszugehen.

[8] Der gegen die Annahme einer (mittelbaren) Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gerichtete Einwand des Beklagten, dass angesichts des Verhältnisses zwischen dem Frauenanteil bei den teil- und bei den vollzeitbeschäftigten Dienstnehmern (90 % Frauen zu 80 % Frauen) statistische Unschärfenrelationen nicht überschritten würden, kann daher auf sich beruhen. Nur der Vollständigkeit halber ist darauf zu verweisen, dass von den benachteiligenden Regelungen – und darauf ist nach der Rechtsprechung des EuGH abzustellen – vornehmlich Frauen (nämlich 90 % Frauen zu 10 % Männern) betroffen sind (vgl C‑274/18 , ECLI:EU:C:2019:828, Rn 57; C-527/13 , ECLI:EU:C:2015:215, Rn 32).

[9] 5.2 Eine sachliche Rechtfertigung für die Benachteiligung der Teilzeitbeschäftigten lässt sich aus den Feststellungen nicht ableiten. Die nicht weiter substantiierte Behauptung des Beklagten, dass ein ungeplanter Dienst in der 41. Wochenstunde im Regelfall mehr Belastung als in der 21. Wochenstunde darstelle, findet darin jedenfalls insoweit keine Deckung, als der Zuschlag gar nicht unmittelbar darauf abstellt.

[10] 5.3 Bei klaren Regelungen oder einer eindeutigen Rechtsprechung des EuGH erübrigt sich schon im Sinne der „acte clair“‑Theorie eine Anrufung des EuGH (RS0082949 [T3]). In seiner diesbezüglichen Anregung formuliert der Beklagte auch gar keine Fragen zum Unionsrecht. Vielmehr steht ihm offenbar die Lösung der konkreten Fallkonstellation durch den EuGH vor Augen.

[11] 6. Da der Beklagte keine Rechtsfragen von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO anspricht, war die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

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