OGH 2Ob13/21g

OGH2Ob13/21g26.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I* H*, vertreten durch Hock & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei M* R*, vertreten durch Schaffer Sternad Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 73.846,11 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 26. November 2020, GZ 11 R 164/20y‑30, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. August 2020, GZ 22 Cg 25/19m‑23, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132053

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 12.215,98 EUR (darin enthalten 915,16 EUR USt und 5.725 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Lebensgefährte der Klägerin und Vater des Beklagten verstarb am 19. 3. 2018. Sein Testament vom 14. 2. 2017 lautet auszugsweise wie folgt:

„ [...]

1. Zum Erben meines Vermögens setze ich meinen Sohn M[...] gemäß den nachfolgenden Verfügungen ein. Mein Sohn A[...] erhält den Pflichtteil.

2. Meine Lebensgefährtin I[...] soll nach ihrer Wahl Wertpapiere oder Bargeld im Wert von EURO 350.000 [...] erhalten. Weiters soll sie ein unentgeltliches, nicht übertragbares Wohnrecht für einen Gesamtzeitraum ihrer Wahl von insgesamt vier Monaten pro Jahr in meinem Haus in [...] erhalten. [...] Mein Kraftfahrzeug soll ebenfalls an Frau I[…] gehen. [...]

[…]

5. Die Frau I[…] zustehenden Beträge sind wertgesichert [...]“

[2] Das Inventar der Verlassenschaft stellten die Parteien mit einem reinen Nachlass im Betrag von 2.520.890,79 EUR außer Streit. Dieser Betrag wurde vom Beklagten der Pflichtteilsberechnung zugrunde gelegt, die die Klägerin ebenfalls außer Streit stellt.

[3] Der Beklagte hat der Klägerin bisher 278.917,61 EUR, 10.438,86 EUR sowie 11.936,28 EUR (an Wertsicherung) gezahlt.

[4] Der Nachlass wurde dem Beklagten mit rechtskräftigem Einantwortungsbeschluss vom 22. 11. 2018 infolge unbedingter Erbantrittserklärung zur Gänze eingeantwortet.

[5] Die Klägerin begehrte zuletzt noch die Zahlung von 73.846,11 EUR sA. Der Beklagte habe auf das ihr zugedachte Barvermächtnis nur einen Teil geleistet und behaupte, es bestehe ein Anspruch auf Kürzung des Vermächtnisses. Das nach Abzug des Vermächtnisses verbleibende Vermögen sei aber ausreichend, um die Pflichtteilsansprüche abzudecken.

[6] Der Beklagte bestritt und erwiderte, dass neben dem Beklagten als Erben auch die Klägerin als Vermächtnisnehmerin zur Aufbringung des von ihm an den pflichtteilsberechtigten Bruder nach Abzug der Vorempfänge geleisteten Geldpflichtteils anteilig beizutragen habe. Das gelte auch dann, wenn das verbleibende Vermögen zur Pflichtteilsdeckung ausreiche. Die Klägerin sei mit insgesamt 15,42 % am Nachlassvermögen beteiligt, woraus sich ihre Beitragspflicht in Höhe des Kürzungsbetrags ergebe.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Vermächtnisnehmer hätten auch dann anteilig zur Pflichtteilsdeckung beizutragen, wenn die Verlassenschaft zur Deckung der Pflichtteilsansprüche ausreiche.

[8] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im klagsstattgebenden Sinn ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Es gelangte zu der Auffassung, dass der dem Beklagten nach Leistung des Geldpflichtteils an seinen Bruder verbleibende Nachlass ausreiche, um seinen eigenen Pflichtteil zu decken und der Klägerin das Vermächtnis in unstrittiger Höhe ungekürzt auszuzahlen.

[9] Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil vom Obersten Gerichtshof nach Inkrafttreten des Erbrechtsänderungsgesetzes – soweit überblickbar – noch keine Entscheidung zu § 764 Abs 2 ABGB ergangen sei.

[10] Dagegen richtet sich die Revision des Beklagten mit dem Antrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Die Klägerin beantragt in ihrerRevisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zulässig im Sinn der Ausführungen des Berufungsgerichts, aber auch, weil zu § 761 Abs 2 ABGB nF noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung besteht; sie ist auch berechtigt.

[13] Der Beklagte macht geltend, § 764 Abs 2 ABGB nF regle wie schon § 783 ABGB aF die Beitragspflicht von Erben und Vermächtnisnehmern bei der Pflichtteilsdeckung im Innenverhältnis unabhängig davon, ob der Nachlass zur Pflichtteilsdeckung bzw zur Befriedigung aller Beteiligten zureiche. Aus der Auslegungsregel des § 761 Abs 2 ABGB nF folge, dass der im Testament des Erblassers „auf den Pflichtteil gesetzte“ Bruder des Beklagten Anspruch auf den Geldpflichtteil habe, zu dem die Klägerin im Verhältnis ihrer Beteiligung am Nachlassvermögen beitragen müsse. Das Berufungsgericht habe daher das Kürzungsrecht des Beklagten zu Unrecht verneint.

[14] Hiezu wurde erwogen:

[15] 1. Unstrittig ist, dass aufgrund des Todeszeitpunkts des Verstorbenen die Rechtslage nach dem ErbRÄG 2015 anzuwenden ist (§ 1503 Abs 7 Z 1 und 2 ABGB).

[16] 2. Das österreichische Erbrecht kannte und kennt weiterhin zwei verschiedene, voneinander unabhängige Formen der Legatsreduktion, nämlich einmal das Recht nach § 692 ABGB, wenn die Vermächtnisse den Reinnachlass übersteigen, und zum anderen § 764 Abs 2 ABGB nF (§ 783 ABGB aF), wenn dem Noterben der gebührende Pflichtteil nicht oder nicht vollständig ausgemessen wurde (RS0012649).

[17] Zum zweiten Fall bestimmt § 764 Abs 2 ABGB nunmehr, dass dann, wenn der Pflichtteil durch eine Zuwendung oder Schenkung im Sinn der §§ 780 und 781 ABGB nicht oder nicht voll gedeckt wird, neben den Erben auch die Vermächtnisnehmer höchstens bis zum Wert der Verlassenschaft zu seiner Bedeckung verhältnismäßig beizutragen haben, nicht jedoch der Ehegatte oder eingetragene Partner mit dem gesetzlichen Vorausvermächtnis, der Lebensgefährte mit einem solchen gesetzlichen Vermächtnis und der Begünstigte aus einem Pflegevermächtnis.

[18] 3. Bereits zur Vorgängerbestimmung des § 783 ABGB aF wurde ausgesprochen, dass die Beitragspflicht der Legatare auch dann besteht, wenn der Nachlass an sich ausreicht, um die Pflichtteilsansprüche zu befriedigen (vgl 2 Ob 96/14b; 10 Ob 6/14a; obiter bereits 4 Ob 235/06x; vgl auch 1 Ob 652/92). Insoweit ging § 783 ABGB aF über die Legatsreduktion nach § 692 ABGB hinaus (2 Ob 96/14b).

[19] 4. In den Materialien zum ErbRÄG 2015 (688 BlgNR 25. GP  26) wird zu § 764 Abs 2 ABGB ua ausgeführt, dass diese Bestimmung keine Änderungen des bisherigen § 783 ABGB herbeiführen wolle, sodass der Meinungsstand zu dieser Bestimmung – etwa was die Berechnung der Beitragslasten anbelange – unangetastet bleibe.

[20] 5. Dementsprechend wird in der Lehre zur neuen Rechtslage vertreten, dass § 764 Abs 2 ABGB die materielle Beitragspflicht der Erben und Vermächtnisnehmer bei der Pflichtteilsdeckung im Innenverhältnis regelt, die unabhängig davon ist, ob der Nachlass zur Pflichtteilsdeckung zureicht (Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 764 Rz 3; Nemeth in Schwimann/Kodek 5 § 764 Rz 3). Nicht zutreffend ist hingegen die vom Berufungsgericht geteilte Ansicht der Klägerin, dass die Beitragspflicht der Legatare nur dann eingreift, wenn der Nachlass zur Befriedigung der Pflichtteilsansprüche nicht ausreicht.

[21] 6. Der erkennende Senat hält seine bisherige Rechtsprechung zu § 783 ABGB aF auch zur neuen Rechtslage aufrecht. Sie ist weiterhin zur Beurteilung der Frage heranzuziehen, unter welchen Umständen der Vermächtnisnehmer in welchem Ausmaß den Erben im Innenverhältnis bei der Pflichtteilsdeckung zu entlasten hat. Ob der Nachlass ausreicht, ist für die Beitragspflicht iSd § 764 Abs 2 ABGB irrelevant.

[22] 7. Hat der Verstorbene jemanden auf den Pflichtteil gesetzt, so bestimmt § 761 Abs 2 ABGB nunmehr, dass in diesem Fall vermutet wird, dass er ihm einen Geldanspruch und nicht ein Vermächtnis zuwenden wollte.

[23] Nach der früheren Rechtsprechung begründete dagegen die Formulierung, jemand werde „auf den Pflichtteil gesetzt“, ein Vermächtnis des entsprechenden Geldbetrags, weshalb insoweit die anderen Vermächtnisnehmer nicht nach § 783 ABGB aF zur Erfüllung beizutragen hatten (vgl 2 Ob 17/16p mwN).

[24] 8. Damit ist fraglich, wie dies nunmehr im Lichte des neuen § 761 Abs 2 ABGB zu sehen ist:

[25] 8.1. Nach den ErläutRV (688 BlgNR 25. GP  25) wird in § 761 Abs 2 ABGB geregelt, dass im Zweifel nicht von einem Vermächtnis der dem Geldpflichtteil entsprechenden Summe auszugehen ist, wenn der Verstorbene den Pflichtteilsberechtigten auf den Pflichtteil setzt.

[26] 8.2. Literatur:

[27] 8.2.1. Nemeth führt dazu (in Schwimann/Kodek 5 § 761 Rz 3 f) aus, die Gesetzesvermutung sei gegenläufig zur früheren Rechtslage, nach der die Beurteilung als Vermächtnis dazu führte, dass der Anspruch nicht der kurzen, sondern der langen Verjährungsfrist unterlegen sei. Auch sei die Beitragspflicht der anderen Vermächtnisnehmer zur Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs verhindert worden. § 761 Abs 2 ABGB habe den Charakter einer Auslegungsregel. Es sei zunächst die Frage zu stellen, was der Erblasser mit seiner Anordnung gewollt habe; denkbar sei ein schlichter Hinweis auf den bestehenden Geldanspruch, ein Geldvermächtnis oder auch ein Erbteil in Höhe der Pflichtteilsquote. Ein eindeutiger Wille des Erblassers gehe § 761 Abs 2 ABGB vor; lasse sich aber ein solcher nicht ermitteln, sei die Anordnung als Verweis auf den Pflichtteilsanspruch in Geld zu verstehen, der sich nach den allgemeinen Grundsätzen richte (ebenso wohl Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 761 Rz 3).

[28] In Schwimann/Neumayr (ABGB-TaKomm5 § 761 Rz 3), verweist Nemeth darauf, dass unter der erwähnten Bestimmung nach der überwiegenden Lehre kein neuer Anspruch sui generis, sondern nur ein Verweis auf den Pflichtteilsanspruch gemäß § 763 ABGB verstanden werden solle. Somit löse das „Setzen auf den Pflichtteil“ nach neuer Rechtslage die Beitragspflicht der Vermächtnisnehmer gemäß § 764 Abs 2 ABGB aus. Die Auslegung der konkreten Verfügung könne aber einen anderen Erblasserwillen ergeben.

[29] 8.2.2. Rabl (Erbrechtsreform 2015 – Pflichtteilsrecht neu, NZ 2015, 321 [330]) deutet die Formulierung als bloßen Verweis auf die Pflichtteilsregelung und geht davon aus, dass die Änderung der Zweifelsregel, die er im Wesentlichen auf die Verjährung bezieht, im Vergleich zur alten Rechtsprechung weitgehend bedeutungslos sei.

[30] 8.2.3. Tschugguel vertritt hingegenin seiner Glosse zu 2 Ob 17/16p (inEF‑Z 2016/78, 160 [161 f])eine gegenteilige Auffassung. Er legtdar, dass sich der Gesetzgeber, weil die Anordnung der „Setzung auf den Pflichtteil“ in der Testamentspraxis weit verbreitet sei, dazu gehalten gesehen habe, darüber mit § 761 Abs 2 ABGB nF eine Zweifelsregel zu normieren. Wenn nun § 764 Abs 2 ABGB nF, der inhaltlich § 783 ABGB aF entspreche, noch deutlicher als bisher darauf abstelle, dass der Pflichtteil durch eine Zuwendung nicht oder nicht voll gedeckt werde, so scheine es zufolge § 761 Abs 2 ABGB nF geradezu zwingend, in der Setzung auf den Pflichtteil im Zweifel (wie bei einem Vermächtnis) eine den Pflichtteil deckende Zuwendung zu erblicken, sodass die Legatare nicht beitragspflichtig seien. Es möge sein, dass dies nicht der eigentlichen Absicht des Gesetzgebers entspreche, wobei überhaupt fraglich sei, was – wenn nicht ein Vermächtnis – unter der „Zuwendung eines Geldanspruchs“ iSd § 761 Abs 2 ABGB nF zu verstehen sein solle. Dass der Testator mit der Setzung oder Beschränkung auf den Pflichtteil gerade keinen positiven Zuwendungswillenausdrücken, sondern im Gegenteil – wenngleich unnötig und missverständlich – betonen wolle, dass er dem Pflichtteilsberechtigten nichts über das ihm gesetzlich Zustehende hinaus zuwenden wolle, sei ein in aller Regelnaheliegendes Auslegungsergebnis, das aber durch die Neuregelung künftig schwieriger zu erreichen sein werde.

[31] 8.2.4. Mondel bezeichnet in seiner Glosse zu 2 Ob 17/16p (in iFamZ 2016/113, 189 [190]) den Spielraum nach § 764 Abs 2 ABGB im Vergleich zur bisherigen Rechtslageals „enger“, weil er auf eine konkrete Zuwendung nach §§ 780 und 781 ABGB (nF) abstelle, während früher die „Ausmessung des Pflichtteils“ maßgeblich gewesen sei, wofür schon ein standardmäßiges „Auf-den-Pflichtteil-setzen“ genügt habe. Sofern die Rechtsprechung auch in Hinkunft einen derartigen Wortlaut als Vermächtnis ansehe, werde es daher im Ergebnis dabei bleiben, dass ein vergleichbarer Sachverhalt nach neuer Rechtslage ebenso zu beurteilen sei.

[32] 8.2.5. Binder/Giller (in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht und Vermögensnachfolge2 § 9 Rz 143) betonen, dass die Beitragspflicht iSd § 764 Abs 2 ABGB nicht gelte, wenn der Erblasser dem Pflichtteilsberechtigten den Pflichtteil vermacht oder in anderer Weise letztwillig zugewendet habe, weil dann die Benachteiligung des mit der Zuwendung belasteten Erben vom Erblasser offenbar gewollt gewesen sei. Nicht ausreichend für die alleinige Belastung des Erben sei aber eine bloße „Setzung auf den Pflichtteil“ (vgl FN 465).

[33] 8.2.6. Likar-Peer (in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2 Rz 10.52) erachtet bei einer „Setzung auf den Pflichtteil“ die Vermächtnisnehmer hinsichtlich des vom Erben an den Pflichtteilsberechtigten zu zahlenden Geldpflichtteils als beitragspflichtig. Die materielle Beitragspflicht des § 764 Abs 2 ABGB beruhe (wie schon § 783 ABGB aF) auf einer gesetzlichen Vermutung. Das Gesetz nehme an, dass der Verstorbene jene, die er in seinem Testament begünstige, gleichmäßig mit der Pflichtteilslast belasten wolle. Die Auslegung der letztwilligen Verfügung könne jedoch Gegenteiliges ergeben – in diesem Fall treffe die Vermächtnisnehmer keine Beitragspflicht, was freilich vom Vermächtnisnehmer dargetan werden müsse.

[34] 8.2.7. Insgesamt geht daher die Lehre überwiegend davon aus, dass aufgrund von § 761 Abs 2 ABGB iVm § 764 Abs 2 ABGB ein „auf den Pflichtteil Setzen“ im Testament nun im Zweifel zu einer Beitragspflicht der Vermächtnisnehmer führt, weil in dieser Verfügung kein Vermächtnis des Geldpflichtteils mehr zu sehen ist und damit auch keine letztwillige Zuwendung, sondern lediglich ein Verweis auf das gesetzliche Pflichtteilsrecht.

[35] 9. Schlussfolgerung:

[36] Der Gesetzgeber hat mit § 761 Abs 2 ABGB eine Zweifelsregelung geschaffen, die bei einer Setzung auf den Pflichtteil gegen die Annahme eines Vermächtnisses spricht. Der erkennende Senat folgt der Auffassung der überwiegenden Lehre, zumal das „Setzen auf den Pflichtteil“ in der Praxis eher einen beschränkenden als einen zuwendenden Zweck erfüllen soll. Daraus folgt, dass das „Setzen auf den Pflichtteil“ nun anders als nach altem Recht im Zweifel zu einer Beitragspflicht der Vermächtnisnehmer zur Erfüllung der vom Erblasser durch seine Verfügungen nicht (voll) gedeckten Pflichtteilsansprüche führt, auch wenn es zweifelhaft erscheint, ob diese Rechtsfolge dem typischen Erblasserwillen entspricht. Eine diese Vermutung widerlegende Auslegung des letzten Willens muss der sich darauf berufende Vermächtnisnehmer behaupten und beweisen.

[37] 10. Ergebnis:

[38] Die Zweifelsregel des § 761 Abs 2 ABGB würde im vorliegenden Fall nur dann nicht eingreifen, wenn sich aus dem Sachverhalt ergäbe, dass der Erblasser mit seiner Anordnung ein Vermächtnis vorsehen habe wollen und nicht lediglich einen Verweis auf den gesetzlichen Pflichtteil. Die Klägerin hat zwar vorgebracht, dass durch das Testament des Erblassers dem Pflichtteilsberechtigten ausdrücklich etwas zugewendet worden wäre, was als Aussetzung eines Vermächtnisses verstanden werden könne. Aus den Feststellungen ergibt sich aber kein Hinweis auf einen derartigen Erblasserwillen. Ein solcher ist auch aus der Wortfolge „erhält den Pflichtteil“ nicht ableitbar. Denn das „Setzen auf den Pflichtteil“ setzt nicht die Verwendung genau dieser oder sonstiger bestimmter Worte voraus. Da die Klägerin ihrer Beweislast somit nicht entsprochen hat,kommt die Zweifelsregel des § 761 Abs 2 ABGB zum Tragen. Daher ist die Verfügung im Testament lediglich als Verweis auf den gesetzlichen Pflichtteil und nicht als Zuwendung in Form eines Geldvermächtnisses zu verstehen. Daraus folgt, dass auch die klagende Vermächtnisnehmerin zur Deckung des hier nicht (voll) gedeckten Pflichtteils des zweiten Sohnes des Erblassers beizutragen hat, weshalb der Beklagte zur Kürzung des Vermächtnisses berechtigt war. Das diesem der Höhe nach unstrittigen Differenzbetrag entsprechende Klagebegehren besteht daher nicht zu Recht.

[39] In Stattgebung der Revision ist somit das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

[40] 11. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO.

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