OGH 9ObA19/21s

OGH9ObA19/21s29.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs  Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer), als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei S* K*, vertreten durch Mag. Petra Laback, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei A* GmbH, *, vertreten durch Schneider & Schneider Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen 21.208,70 EUR netto sA und 208,70 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. November 2020, GZ 9 Ra 38/20d‑93, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 30. September 2019, GZ 21 Cga 41/16a‑82, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131780

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Berufungsurteil wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die Kostenaussprüche der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die Fällung einer neuen Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz aufgetragen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.264,88 EUR (darin 138,98 EUR USt und  1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin war bei der Beklagten von 13. 7. 2015 bis 15. 3. 2016 als Teilzeitangestellte beschäftigt. Sie hat das Dienstverhältnis mit Schreiben vom 26. 1. 2016 gekündigt.

[2] Bei der beklagten Gesellschaft mbH handelt es sich um ein Familienunternehmen, das von F* im Jahr 1985 gegründet worden war. F* war bis 2014 handelsrechtlicher Geschäftsführer dieser Gesellschaft. Seit 2015 ist A*, Sohn der Ehegatten F* und C*, alleiniger Geschäftsführer der Beklagten.

[3] Am Vorstellungsgespräch der Klägerin, das am 10. 7. 2015 stattfand, nahmen sowohl der handelsrechtliche Geschäftsführer A*, als auch seine Eltern F* und C* teil. Der Klägerin wurde gesagt, dass es sich um ein Familienunternehmen handle, das die Eltern aufgebaut hätten. F* sei der langjährige Geschäftsführer gewesen. Sein Sohn A* solle nun in diese Tätigkeit hineinwachsen. F* habe weiterhin leitende Aufgaben und sei es gewohnt, eine Chefsekretärin zu haben. Diese Tätigkeit solle die Klägerin ausüben.

[4] F* war in dieser Zeit jeden Tag im Unternehmen anwesend. Er prüfte täglich die Rechnungen, die ihm von der Buchhaltung vorgelegt wurden, prüfte auch die Lieferungen mit dem Salesteam und gab Geld und Rechnungen frei. F* führte auch Telefonate mit Kunden und nahm Kundentermine wahr, wobeierebenfalls als Geschäftsführer auftrat. F* hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungsbefugnis seines Sohnes A* und damit auf die Geschäftsführung der Beklagten.

[5] F* war auch bei den regelmäßigen Besprechungen mit den Mitarbeitern anwesend. Er maßregelte immer wieder Mitarbeiterund trat auch dabei als Geschäftsführer auf. Die Mitarbeiter der Beklagten betrachteten ihn als „Seniorchef“. Der Klägerin machte F* klar, dass er jederzeit dafür sorgen könne, dass sie gekündigt werde. Für die Klägerin war F* auch „offizieller Geschäftsführer“.

[6] Die Klägerin begehrt (soweit für das Revisionsverfahren noch relevant) von der Beklagten infolge einer – im Revisionsverfahren nicht mehr strittigen – erlittenen sexuellen Belästigung durch F*, gestützt auf §§ 6, 12 GlBG, Schadenersatz von 10.000 EUR. Der „Seniorchef“ F* sei der Beklagten als faktischer Geschäftsführer zuzurechnen.

[7] Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, dass ihr das Verhalten von F* nicht zuzurechnen sei. F*sei zum Zeitpunkt der sexuellen Belästigungen nicht mehr Geschäftsführer der Beklagten gewesen, sondern lediglich deren Gesellschafter. Bei Ausspruch der Kündigung am 27. 1. 2016 habe der Geschäftsführer der Beklagten von den Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen seinen Vater nichts gewusst.

[8] Das Erstgerichtgab dem Klagebegehren mit 10.000 EUR sA statt. Das von F* gegenüber der Klägerin über mehrere Monate gesetzte Verhalten sei als sexuelle Belästigung im Sinne des § 6 Abs 2 Z 1 GlBG zu qualifizieren. Der immaterielle Schadenersatzanspruch der Klägerin sei mit global 10.000 EUR auszumitteln.

[9] F* sei als faktischer Geschäftsführer der Beklagten und Arbeitgeber im Sinne des § 6 Abs 1 Z 1 GlBG anzusehen. Die Beklagte hafte daher schon nach allgemeinen Grundsätzen für dessen deliktisches Handeln, das F* in dieser Funktion gesetzt habe, umso mehr für seine Belästigungshandlungen gemäß § 6 Abs 1 Z 1 iVm § 12 GlBG. Zwar sei F*nicht mehr vertretungsbefugtes Organ der Beklagten, es wäre jedoch nach Lage des Falls abwegig, F* als einen außenstehenden Dritten ohne Beziehung zum Dienstverhältnis der Klägerin zu betrachten. Vielmehr sei er faktischer Geschäftsführer der Beklagten gewesen, und sowohl nach innen als auch nach außen erkennbar als Geschäftsführer der Beklagten aufgetreten. F* habe Dienstgeberbefugnisse gegenüber der Klägerin ausgeübt. Er habe in seiner Rolle als „Seniorchef“ Mitarbeiter gemaßregelt und sei in der Unternehmensführung tätig geworden. Aufgrund dieser wirtschaftlichen und familiären Verflechtungen sei F*auch der Klägerin als Bestandteil der Geschäftsführung erschienen.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Als Dienstgeber würden bei juristischen Personen nur die vertretungsbefugten Organe, also diejenigen, die die Verantwortung für das gesamte Unternehmen tragen, gelten. Diesen gleichgestellt seien jene Personen, die Kraft ihrer Befugnisse und ihrer Stellung gegenüber den anderen Dienstnehmern als zur selbständigen Geschäftsführung berufene Stellvertreter anzusehen seien. Eine Haftung der Beklagten für den von der Klägerin geltend gemachten Schadenersatz bestünde nur dann, wenn F*, der nicht vertretungsbefugtes Organ der Beklagten gewesen sei, maßgeblich zur selbständigen Ausübung von Unternehmer- und insbesondere Arbeitgeberfunktionen berechtigt gewesen sei. Dies sei hier nicht der Fall. Nach den Feststellungen könne F*nicht als Arbeitgeber der Klägerin im Sinne des § 6 Abs 1 Z 1 GlBG angesehen werden.

[11] Gegen die Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12] Die Beklagte beantragt in ihrer vom Senat freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision der Klägerin mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision der Klägerin ist zulässig und berechtigt.

[14] 1. Das Berufungsgericht hat sich mit der Beweisrüge der Beklagten auf den Seiten 17 bis 21 des Urteils eingehend befasst und die bekämpften Feststellungen als Ergebnis einer nicht beanstandeten Beweiswürdigung des Erstgerichts seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Der in der Revisionsbeantwortung „vorsichtsweise“ gerügte Mangel des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Zudem hat der Oberste Gerichtshof kein vom Berufungsgericht abweichendes Verständnis der erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen.

[15] 2. Gemäß § 6 Abs 1 Z 1 GlBG liegt eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor, wenn eine Person vom Arbeitgeber selbst sexuell belästigt wird. In diesem Fall hat die betroffene Person gegenüber dem Belästiger nach § 12 Abs 11 erster Satz GlBG Anspruch auf Ersatz des erlittenen Schadens.

[16] 3. Nach herrschender Rechtsprechung hat die juristische Person für die sexuelle Belästigung durch ihr Vertretungsorgan (zB den Geschäftsführer einer GmbH) gemäß § 6 Abs 1 Z 1 GlBG einzustehen (RS0123580). Sie haftet als Arbeitgeber für eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 6 Abs 1 Z 1 GlBG aber auch dann, wenn der Belästiger, ohne Organ zu sein, kraft seiner Befugnisse und seiner Stellung gegenüber den anderen Dienstnehmern als zur selbständigen Ausübung von Unternehmer‑ und insbesondere Arbeitgeberfunktionen berechtigt ist (vgl 9 ObA 118/11k = DRdA 2013/7 [Mayr]; RS0029091) und die sexuelle oder geschlechtsbezogene Belästigung damit in einem inneren Zusammenhang steht (Hopf/Mayr/Eichinger/Erler, GlBG² [2021] § 6 E.5; 9 ObA 66/20a; RS0127723). Diese Rechtsprechung wird auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen.

[17] 4.1. Im Anlassfall sind die von der Rechtsprechung entwickelten Zurechnungskriterien erfüllt. Nach den Feststellungen wurde F* der Klägerin schon beim Vorstellungsgespräch im Beisein des handelsrechtlichen Geschäftsführers der Beklagten als eine Person mit leitenden Aufgaben im Unternehmen präsentiert. Die Klägerin sollte als seine „Chefsekretärin“ fungieren. Damit war auch klargestellt, dass F* „der Chef“ oder zumindest „ein Chef“ bei der Beklagten war. Dass es sich bei der Bezeichnung von F* als „Seniorchef“ nicht nur um einen bloßen Ehrentitel handelte, zeigte sich auch an den weiteren Feststellungen. F* war nahezu täglich im Unternehmen präsent. Er prüfte die ihm von der Buchhaltung vorgelegten Rechnungen, gab – allenfalls nach Rücksprache mit seinem Sohn – Geld und Rechnungen frei und überprüfte mit dem Salesteam die Lieferungen. Der in der Revisionsbeantwortung hervorgehobene Umstand, dass bei aufgetretenen Unregelmäßigkeiten eine weitere Kontrolle oder Rücksprache mit dem Sohn erfolgt wäre, nimmt der Rolle als „Seniorchef“ nicht deren Bedeutung und Außenwirkung. F* trat auch gegenüber Kunden als Geschäftsführer der Beklagten auf.

[18] 4.2. F* trat auch nach innen gegenüber Mitarbeitern wie ein Chef und Arbeitgeber auf. Er nahm an den regelmäßig stattfindenden Mitarbeiterbesprechungen teil und maßregelte auch immer wieder Mitarbeiter. Er machte auch der Klägerin klar, dass er jederzeit dafür sorgen könne, dass sie gekündigt werde. Daran, dass er dies auch durchsetzen könne, bestand nach dem gelebten Arbeitsverhältnis kein Zweifel. Die Mitarbeiter der Beklagten betrachteten F* als „Seniorchef“, ohne dass dies von seinem Sohn jemals in Frage gestellt wurde. Die Tätigkeiten des F*, mit denen er im Alltag der Beklagten auch Arbeitgeberfunktionen ausübte, entsprachen den Vorstellungen seines Sohnes, der erklärtermaßen in diese Rolle erst hineinwachsen sollte.

[19] 5. Der Entscheidung 9 ObA 45/18k lag ein anders gelagerter Sachverhalt zugrunde. Daraus ist für die Beklagte nichts Entscheidendes zu gewinnen.

[20] Der Revision der Klägerin ist somit Folge zu geben und dem Klagebegehren in Abänderung der klagsabweisenden Berufungsentscheidung stattzugeben.

[21] Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren gründet sich auf §§ 5043 Abs 1 ZPO.

[22] Müsste der Oberste Gerichtshof infolge Abänderung der Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 50 Abs 1 Satz 1 ZPO auch über die Verfahrenskosten erster und zweiter Instanz entscheiden, kann er in sinngemäßer Anwendung des § 510 Abs 1 letzter Satz ZPO die Kostenentscheidung des Berufungsgerichts aufheben und diesem eine neuerliche Kostenentscheidung auftragen, wenn – wie hier – umfangreiche Einwendungen der Beklagten gegen die Kostennote der Klägerin und eineim Berufungsverfahren unerledigt gebliebene Kostenrüge der Beklagten im Zusammenhang mit einem im Berufungsverfahren zurückgewiesenen Kostenrekurs der Beklagten gegen einen nachträglichen Kostenbestimmungsbeschluss des Erstgerichts vorliegen (vgl 8 Ob 128/19k Pkt III.1.; RS0124588).

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