OGH 11Os37/21g

OGH11Os37/21g29.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. April 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter im Verfahren zur Unterbringung der Udosen E* in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB bzw in der Strafsache gegen diese wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Betroffenen und Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 18. Jänner 2021, GZ 62 Hv 115/20i-89, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019 zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131623

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in Ansehung des Schuldspruchs wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB und demzufolge im Strafausspruch aufgehoben und die Strafsache in diesem Umfang an das Bezirksgericht Floridsdorf mit dem Auftrag verwiesen, nach den Bestimmungen des 11. Hauptstücks der StPO vorzugehen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen wird ebenso zurückgewiesen wie die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.

Mit ihrer Berufung wegen des Strafausspruchs wird die Angeklagte auf dessenKassation verwiesen.

Zur Entscheidung über die (verbleibende) Berufung werden die Akten vorerst dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde Udosen E* des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie am 3. Jänner 2020 in W* Gewahrsamsträgern der M* GmbH eine fremde bewegliche Sache mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz weggenommen, indem sie Kopfhörer im Wert von 3,99 Euro in ihre Tasche steckte und die Geschäftsräumlichkeiten ohne zu bezahlen verließ.

[3] Überdies wurde die Unterbringung der E* in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB angeordnet (vgl zur Zulässigkeit einer Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB neben einem Strafausspruch bei Aburteilung mehrerer selbstständiger Taten Ratz in WK² StGB § 21 Rz 5 sowie 11 Os 90/19y), weil sie am 10. Oktober 2018 in W* unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer paranoiden Schizophrenie beruht, zwei Exekutivbeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich ihrer Anhaltung nach dem Unterbringungsgesetz und ihrer Fixierung zu hindern versucht hat, indem sie sich aus der Fixierung loszureißen versuchte und mit den Beinen in Richtung der Beamten trat, somit eine Tat begangen hat, die als Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Strafsatz StGB mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die dagegen aus § 281 Abs 1 Z 5, 9 lit a, 10, 10a und 11 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde richtet sich sowohl gegen den Schuldspruch als auch das Einweisungserkenntnis.

 

[5] Zum auf den Schuldspruch bezogenen Teil der Nichtigkeitsbeschwerde:

[6] Indem die Rechtsrüge (Z 9 lit b) die festgestellte Diskretions- und Dispositionsfähigkeit der Beschwerdeführerin zum Tatzeitpunkt (US 5) negiert, ist sie prozessordnungswidrig nicht an den Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts orientiert (RIS-Justiz RS0099810) und war in diesem Umfang zurückzuweisen.

[7] Im Ergebnis zutreffend kritisiert die Diversionsrüge (Z 10a), dass die Urteilskonstatierungen die Nichtanwendung der Diversion betreffend den Schuldspruch nicht zu tragen vermögen (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 659).

[8] Ein Vorgehen nach dem 11. Hauptstück der Strafprozessordnung setzt neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt und dem Fehlen spezial- und generalpräventiver Notwendigkeit der Bestrafung (§ 198 Abs 1 StPO) unter anderem eine als nicht schwer anzusehende Schuld der Angeklagten voraus (§ 198 Abs 2 Z 2 StPO).

[9] Für die Schuldabwägung kommt der vom Gesetzgeber in der Strafdrohung zum Ausdruck gebrachten Vorbewertung des deliktstypischen Unrechts- und Schuldgehalts Indizwirkung zu (RIS-Justiz RS0116021 [T8]; Schroll/Kert, WK‑StPO § 198 Rz 28). Mit Blick auf die Strafdrohung des § 127 StGB ist ein diversionsausschließender Schuldgehalt nach dem Urteilssachverhalt hier nicht anzunehmen (vgl RIS‑Justiz RS0122090 [T7]).

[10] Nach den Feststellungen zeigte sich die unbescholtene (US 9) Angeklagte geständig (US 6); eine Diversion aus spezialpräventiven Gründen hindernde Umstände sind nicht festgestellt.

[11] Schließlich stehen fallbezogen einem diversionellen Vorgehen auch keine generalpräventiven Erfordernisse entgegen, denen durch eine Diversionsmaßnahme nicht ausreichend Rechnung getragen werden könnte.

[12] Die im gegenständlichen Verfahren erfolgte Anordnung der Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB steht einem solchen Vorgehen auch unter dem Aspekt des Verbots einer Sanktions- und Reaktionskumulierung bei Deliktsmehrheit (vgl Schroll/Kert, WK-StPO § 198 Rz 49) nicht entgegen. Da § 28 Abs 1 StGB auf strafbare Handlungen abstellt, über die „gleichzeitig erkannt“ – sohin eine Strafe ausgesprochen (§ 260 Abs 1 Z 3 StPO; vgl Ratz in WK² StGB § 28 Rz 4) – wird, hat die durch die Anlasstat für die Einweisung begründete mit Strafe bedrohte Handlung bei Beurteilung der Präventionsvoraussetzungen des § 198 Abs 1 StPO außer Betracht zu bleiben.

 

[13] Zum auf das Einweisungserkenntnis bezogenen Teil der Nichtigkeitsbeschwerde:

[14] Soweit das Vorbringen jeweils mehreren Ziffern des § 281 Abs 1 StPO unterstellt wird, vernachlässigt die Beschwerde den wesensmäßigen Unterschied der Nichtigkeitsgründe (vgl RIS-Justiz RS0115902). Diese Ausführungen entsprechen nur insoweit dem Gebot einzelner und bestimmter Bezeichnung der Nichtigkeitsgründe (§ 285 Abs 1 StPO) und eignen sich damit für eine sachliche Prüfung, als sie inhaltlich einem Nichtigkeitsgrund zugeordnet werden können (vgl RIS-Justiz RS0099108). Durch diese Art der Rechtsmittelausführung bedingte Unklarheiten gehen zu Lasten der Rechtsmittelwerberin (RIS‑Justiz RS0100183).

[15] Die Kritik, die Feststellungen zu gegen die Betroffene erstatteten Anzeigen (US 4) würden „im gesamten Akteninhalt keine Deckung finden“, ist keinem Nichtigkeitsgrund zuordenbar (vgl im Übrigen zu den Fundstellen US 6).

[16] Mit der gegen die in subjektiver Hinsicht getroffenen Konstatierungen gerichteten Behauptung, nach den Ausführungen des Zeugen Daniel J* habe die Betroffene die einschreitenden Polizeibeamten nicht als solche erkannt, bekämpft die Rüge bloß die Beweiswürdigung des Schöffengerichts (insbesondere US 7) nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht zulässigen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.

[17] Gleiches gilt für die Bestreitung der Sachverhaltsannahmen zum objektiven Tatbestand, weil diese in der Aussage des genannten Zeugen – die im Übrigen (mit Blick auf Z 5 zweiter Fall) durch den Schöffensenat ohnehin berücksichtigt wurde (US 7 f) – „in keinster Weise Deckung“ finden würden.

[18] Der auf Basis des Entfalls dieser erfolglos bekämpften Feststellungen erhobene Einwand (nominell „Z 9, 9a“, 10, 10a, 11, der Sache nach Z 9 lit a), die angenommene Anlasstat liege nicht vor, verfehlt den im Urteilssachverhalt gelegenen Bezugspunkt materieller Nichtigkeit (RIS-Justiz RS0099810).

[19] Weshalb die vorgenommene Subsumtion zusätzliche Konstatierungen dazu vorausgesetzt hätte, dass die Betroffene „gezielte Angriffe und gezielte Tritte“ gegen die Polizeibeamten gesetzt hat, „um sich einer Amtshandlung zu entziehen“, legt die Rechtsrüge (Z 9 lit a) nicht aus dem Gesetz abgeleitet dar (RIS-Justiz RS0116565).

[20] Sollte sich die Diversionsrüge (Z 10a) auch gegen die Anordnung der Unterbringung richten, macht sie nicht klar, inwiefern ein als Alternative zur Bestrafung (vgl § 198 Abs 1 StPO) vorgesehenes diversionelles Vorgehen bei einer vorbeugenden Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB in Betracht kommen sollte (RIS‑Justiz RS0126220; vgl auch Ratz in WK² StGB § 21 Rz 22).

[21] Indem die Sanktionsrüge (Z 11) eine Gefährlichkeit der Betroffenen bestreitet und die gegen sie erstatteten Anzeigen (unter anderem) wegen Körperverletzung als zur Fundierung der Gefährlichkeitsprognose ungeeignet erachtet, wird lediglich ein Berufungsvorbringen erstattet (RIS-Justiz RS0113980 [T1, T11]).

[22] Im Übrigen vernachlässigt die Beschwerde die sämtliche relevante Erkenntnisquellen (vgl RIS-Justiz RS0118581 [T7]) berücksichtigenden Ausführungen des Erstgerichts (US 4 ff, 8 f, 11) und verkennt, dass das in den Anzeigen beschriebene frühere Verhalten im Krankheitszustand (US 8 f) als wichtiger in der Person gelegener Umstand prognostisch zu berücksichtigen ist (vgl Ratz in WK² StGB § 21 Rz 25).

[23] Insgesamt war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, in teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde bereits nach nichtöffentlicher Beratung hinsichtlich des Schuldspruchs wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB und demzufolge im Strafausspruch aufzuheben und die Strafsache in diesem Umfang an das Bezirksgericht Floridsdorf (vgl ON 2 in ON 34 S 2) mit dem Auftrag zu verweisen, nach den Bestimmungen des 11. Hauptstücks der StPO vorzugehen (§ 288 Abs 2 Z 2a StPO).

[24] Im Übrigen war die Nichtigkeitsbeschwerde ebenso wie die im schöffengerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (ON 93; § 283 Abs 1 StPO) sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO; §§ 296 Abs 2, 294 Abs 4 StPO).

[25] Mit ihrer Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe war die Angeklagte auf dessen Kassation zu verweisen.

[26] Die Entscheidung über ihre gegen die Einweisung gerichtete Berufung kommt dem Oberlandesgericht Wien zu (§ 285i StPO).

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