OGH 1Ob44/21h

OGH1Ob44/21h23.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei U*, vertreten durch Dr. Alois Eichinger, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 15.980,32 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 5.829,72 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 21. Dezember 2020, GZ 14 R 148/20t‑16, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 25. August 2020, GZ 33 Cg 6/20z‑11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131430

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger befand sich unter anderem wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Raubs (§§ 142 f StGB) für – nach Anrechnung von verwaltungsstrafrechtlichen Ersatzfreiheitsstrafen – 222 Tage in Untersuchungshaft. Er wurde rechtskräftig freigesprochen.

[2] Mit seinem auf das StEG gestützten Begehren fordert er unter anderem den Ausgleich des ihm während der Haft entstandenen „Verdienstentgangs“. Da er vor seiner Festnahme arbeitssuchend gewesen sei und Notstandshilfe bezogen habe, sei ihm zumindest diese (in Höhe von 6.606,72 EUR für 222 Tage) zu ersetzen.

[3] Das Erstgericht sprach dem Kläger den begehrten Ersatz für die ihm während der Haft entgangene Notstandshilfe teilweise – im Umfang von 5.829,72 EUR – zu. Es stellte fest, dass der Kläger vor seiner Inhaftierung Anspruch auf Notstandshilfe hatte, dass er zusammen mit seiner Familie in einer Mietwohnung wohnte (und nach der Haft weiterhin wohnt), er die Notstandshilfe „für das Familienleben“ verwendete und er diese während der über ihn verhängten Untersuchungshaft nicht mehr bezog. Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass der Entgang der Notstandshilfe einen ersatzfähigen Schaden darstelle. Da die Kosten der (Familien-)Wohnung während der Haft unverändert anfielen, sich der Kläger aber eigene Verpflegungskosten von insgesamt rund 777 EUR erspart habe, stehe ihm ein Ersatz für die entgangene Notstandshilfe nur abzüglich der zuletzt genannten Kostenersparnis zu.

[4] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Ersatzfähig sei jeder materielle Nachteil, soweit er durch die ungerechtfertigte Haft adäquat verursacht wurde. Dies treffe auch auf den Entgang der Notstandshilfe zu. Da die Kosten des Klägers für seine Wohnung, in der auch seine Frau sowie seine Kinder wohnen, unverändert anfielen (Gegenteiliges habe auch die Beklagte nicht behauptet), habe sich der Kläger durch die Haft keine Wohnkosten erspart.

[5] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, ob der entgangene Bezug von Notstandshilfe nach dem StEG ersatzfähig ist.

[6] Die von der Beklagten erhobene Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[7] 1.1. Bei der Beurteilung, ob der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der ihm aufgrund der unberechtigten Haft entgangenen Notstandshilfezahlungen als (in den Materialien zum StEG ausdrücklichals „ersatzfähiger“ Schaden genannter [vgl ErläutRV 618 BlgNR 22. GP  10]) Verdienstentgang berechtigt ist, ist zunächst davon auszugehen, dass der Begriff „Verdienst“ nach ständiger Rechtsprechung nicht eng auszulegen ist (RIS‑Justiz RS0030628 [T1]). Ganz allgemein wird unter Verdienstentgang der Entgang dessen verstanden, was dem Geschädigten durch die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entgeht (RS0030675); mitunter wird er –in Anlehnung an die Formulierung in § 13 Z 2 EKHG –auch als jener Vermögensnachteil beschrieben, den der Geschädigte durch die zeitweise oder dauernde Aufhebung seiner Erwerbsfähigkeit erleidet (8 Ob 7/79). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs stellt etwa auch der Entgang von Sozialversicherungsleistungen (8 Ob 7/79; 2 Ob 62/89) oder der Familienbeihilfe (vgl 2 Ob 49/90) einen „ersatzfähigen“ Verdienstentgang dar. Auch Arbeitslosengeldbezug wird dem Arbeitseinkommen gleichgehalten (2 Ob 380/69), was im Wesentlichen damit begründet wird, dass darauf ein unbedingter Rechtsanspruch besteht. Letzteres trifft – nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs (vgl 97/01/0898; 98/01/0194; 2000/01/0151) – auch auf die Notstandshilfe nach § 33 AlVG zu, bei der es sich um eine Sozialversicherungsleistung handelt, der eine „Gegenleistung“ (Beitragsleistung) des Anspruchsberechtigten gegenübersteht (vgl VfGH G 363/97 ua).

[8] 1.2. Voraussetzung für die Gewährung von Notstandshilfe ist nach § 33 Abs 2 AlVG unter anderem, dass der Arbeitslose der (Arbeits‑)Vermittlung zur Verfügung steht. Die genannte Bestimmung verweist in diesem Zusammenhang auf § 7 Abs 2 AlVG, wonach der Arbeitsvermittlung nur eine Person zur Verfügung steht, die eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf, arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist. Eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf nach § 7 Abs 3 AlVG nur jemand, der sich zur Aufnahme und Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotenen, den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorschriften entsprechenden zumutbaren versicherungspflichtigen Beschäftigung bereithält. Diese Voraussetzung wird von einer Person, die sich in Untersuchungshaft befindet, nicht erfüllt, weshalb die ihr (im Übrigen schon aufgrund des in § 7 Abs 2 enthaltenen Verweises auf § 12 AlVG, nach dessen Abs 3 lit e nicht als arbeitslos gilt, wer eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten wird) entgangenen Notstandshilfezahlungen als durch die ungerechtfertigte (hier: Untersuchungs‑)Haft verursachter „Verdienstentgang“ – nach den Materialien zum StEG handelt es sich dabei um den nach diesem Gesetzpraktisch „vornehmlich“ zu ersetzenden Schaden (vgl ErläutRV 618 BlgNR 22. GP  10) – angesehen werden können (vgl idS auch OLG Köln 7 U 137/99, openJur 2011, 82936, zur vergleichbaren Rechtslage nach dem deutschen Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen).

[9] 2.1. Der Anspruch des Klägers auf Ersatz der ihm durch die Haft entgangenen Notstandshilfe ergibt sich im Übrigen aber unabhängig davon, ob man dies als schadenersatzrechtlichen „Verdienstentgang“ ansieht, schon daraus, dass der Schädiger den Geschädigten ganz allgemein so zu stellen hat, wie er ohne die schädigende Handlung stünde. Demnach sind auch nach dem StEG sämtliche adäquat verursachten Schäden (soweit sie – wie hier – aus einer ungerechtfertigten Haft resultieren, verschuldensunabhängig; [vgl 1 Ob 197/19f mwN]) zu ersetzen.

[10] 2.2. Dass der Entfall des Bezugs von Notstandshilfe durch die Inhaftierung des Klägers verursacht wurde, ergibt sich aus § 33 Abs 2 iVm § 7 Abs 2 sowie § 12 Abs 3 lit e AlVG. Es handelte sich bei dieser Rechtsfolge schon aufgrund des Gesetzes um eine adäquate Auswirkung der Inhaftierung und somit um einen grundsätzlich ersatzfähigen Schaden nach dem StEG. Dass die notwendigen Grundbedürfnisse des Klägers während seiner Haft (jedenfalls größtenteils) gedeckt waren und daher – wie die Beklagte argumentiert –keine durch die Notstandshilfe auszugleichende Notlage bestand, ändert nichts daran, dass es sich bei deren Entfall um einen durch die Haft adäquat verursachten Vermögensnachteil handelt. Inwieweit die Deckung seiner Grundbedürfnisse während der Haft als vermögenswerter (und daher sachlich kongruenter: vgl RS0122868) Vorteil berücksichtigt werden kann, ist im Rahmen des – von der Beklagten hilfsweise angestrebten – Vorteilsausgleichs (vgl dazu 3.) zu prüfen. Dass die mit der Haft verbundene „Sicherung“ der Grundbedürfnisse des Klägers in ihrer Wirkung dem Bezug von Notstandshilfe (gänzlich) entsprach und als vergleichbare „Unterstützungsleistung“ an deren Stelle trat, kann schon deshalb nicht angenommen werden, weil die Notstandshilfe als Versicherungsleistung in Geld ausgestaltet ist, die das Risiko der Einkommenslosigkeit wegen des Verlusts einer Beschäftigung abdecken soll (Sdoutz/Zechner in Sdoutz/Zechner, Praxiskommentar zum Arbeitslosen-versicherungsgesetz [2017] § 33 AlVG Rz 645 mwN), wohingegen die Deckung der notwendigen Lebensbedürfnisse eines Häftlings eine bloße „Nebenwirkung“ der Haft ist, die der Fürsorgepflicht des Staats hinsichtlich der in seiner Obhut befindlichen Häftlinge entspringt.

[11] 3.1. Bei der Beurteilung des durch das schädigende Ereignis verursachten Vermögensschadens sind Vermögensvorteile des Geschädigten, die ohne dieses Ereignis nicht entstanden wäre, grundsätzlich zugunsten des Schädigers zu berücksichtigen (RS0022834). Dies entspricht dem Wesen des Schadenersatzrechts, dem Geschädigten nicht mehr und nicht weniger als die (insgesamt) erlittenen Nachteile zu ersetzen (RS0023600 [T10]).

[12] 3.2. Dass die Vorinstanzen für die Verpflegung des Klägers während der Haft einen Vermögensvorteil anrechneten (vgl auch OLG Köln 7 U 137/99), blieb unbekämpft, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist. Die Beklagte strebt darüber hinaus auch eine Anrechnung des in ersparten Wohnkosten des Klägers gelegenen Vorteils an. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass sie in erster Instanz nur eine pauschale Anrechnung der „in Verpflegung und Unterbringung“ gelegenen Vorteile des Klägers begehrte, ohne darzulegen, ob sich der Kläger überhaupt Kosten für die gemeinsam mit seiner Familie bewohnte Wohnung – die auch während der Haft von der Frau und den Kindern bewohnt wurde – erspart habe. Damit kam sie der ihr obliegenden Pflicht zur Behauptung jener Umstände, die einen Vorteilsausgleich rechtfertigen, nicht nach (vgl RS0036710 [T3, T4]), sodass eine Anrechnung des in der „Wohnversorgung“ gelegenen (Vermögens‑)Vorteils schon aus diesem Grund scheitert (im Übrigen ging das Erstgericht davon aus, dass die Kosten des Klägers für seine Wohnung auch während der Haft unverändert anfielen). Soweit die Revisionswerberin auf dem Standpunkt steht, der geschädigte Kläger hätte behaupten müssen, dass er sich keine (Wohn‑)Kosten erspart habe, widerspricht dies der dargestellten Judikatur.

[13] 4. Der Revision kommt somit keine Berechtigung zu.

[14] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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