OGH 11Os12/21f

OGH11Os12/21f16.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. März 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen J***** wegen Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1, Abs 4 vierter Fall StGB (aF) und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 8. Oktober 2020, GZ 13 Hv 23/20z‑63, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0110OS00012.21F.0316.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde J***** zweier Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1, Abs 4 vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 (I), eines Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1, Abs 2 erster Fall StGB, jeweils mehrerer solcher Verbrechen nach § 201 Abs 1 StGB und nach § 201 Abs 1, Abs 2 vierter Fall StGB sowie mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (II), ferner jeweils mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (III) und der pornographischen Darstellungen Minderjähriger nach § 207a Abs 3 zweiter Satz StGB (V) sowie eines Vergehens der Tierquälerei nach § 222 Abs 3 StGB (IV) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in H*****

(I) vom 1. Juni 2009 bis zum 18. Jänner 2014, somit länger als ein Jahr, gegen jedes seiner in diesem Zeitraum unmündigen Enkelkinder

(1) S***** und

(2) J*****

auf im angefochtenen Urteil beschriebene Weise fortgesetzt Gewalt ausgeübt;

(II) von 2010 bis 2013 S***** mit Gewalt zur Duldung teils des Beischlafs, teils diesem gleichzusetzender Handlungen genötigt und mit dieser zur Tatzeit Unmündigen teils den Beischlaf, teils diesem gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, und zwar

in rund fünf Angriffen, indem er sie niederstieß, sie niederdrückte und festhielt und mit seinem Penis in ihre Scheide eindrang und

in einer Vielzahl von Angriffen, indem er sie an Kopf und Nacken ergriff und gewaltsam festhielt, während er mit seinem Penis ihren Mund penetrierte, in diesen ejakulierte und sie zwang, das Ejakulat zu schlucken, wodurch sie in besonderer Weise erniedrigt wurde,

wobei jede der Taten mitursächlich für eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) der S*****, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiven Symptomen war, sowie

(III) durch die zu II beschriebenen Taten mit einer mit ihm in absteigender Linie verwandten minderjährigen Person, nämlich seiner Enkeltochter, geschlechtliche Handlungen teils vorgenommen, teils an sich vornehmen lassen;

(IV) im Jahr 2009 ein Wirbeltier mutwillig getötet, indem er dem Hamster der S***** grundlos das Genick brach;

(V) bis zum 15. April 2019 pornographische Darstellungen unmündiger Minderjähriger, und zwar zwei wirklichkeitsnahe Abbildungen geschlechtlicher Handlungen einer unmündigen minderjährigen Person an einer anderen Person, besessen, indem er sie auf elektronischen Geräten abgespeichert hielt.

Rechtliche Beurteilung

 

[3] Dagegen wendet sich die aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

 

[4] Nach der Aktenlage war S***** vom 9. Mai 2014 bis zum 6. Juli 2015 im Kinder- und Jugend-Betreuungszentrum R***** in W***** untergebracht (ON 2 S 10; vgl US 6). Im Landesklinikum M***** habe sich die Genannte – einem Schreiben dieser Krankenanstalt zufolge (ON 6 S 13) – erstmals ab 22. November 2018 in stationärer Behandlung befunden (vgl US 18).

[5] Die vom Gericht beigezogene medizinische Sachverständige aus dem Fachgebiet der Frauenheilkunde befundete im Zuge einer am 18. April 2019 durchgeführten Exploration der S***** einen breiten Defekt deren Jungfernhäutchens. Sie gelangte zu dem Kalkül, dass jene Verletzung, die diesen Defekt verursacht habe, durch eine vaginale Penetration entstanden sei, die präpubertär – also vor dem Beginn der Geschlechtsreife, welche bei der Genannten im Alter von neun oder zehn Jahren (somit bis zum Jahr 2014) bereits eingetreten gewesen sei – erfolgt sein müsse (ON 18 S 9 f und ON 62 S 7 ff).

[6] In der Hauptverhandlung am 8. Oktober 2020 beantragte der Angeklagte durch seinen Verteidiger

‑ die „Einholung sämtlicher medizinischer und Betreuungsunterlagen vom R***** W*****“ und „vom Klinikum M*****“ zum Beweis dafür, „dass S***** Geschlechtsverkehr während des Aufenthalts im R***** durchgeführt hatte und das zu den entsprechenden Verletzungen geführt hat, die die Sachverständige […] festgestellt hat“, sowie

[7] ‑ die „Einvernahme der Petra W*****, Sonderkindergartenbetreuerin“ zum Beweis dafür, „dass das Verhalten der S***** insbesondere im inkriminierten Zeitraum als äußerst auffällig zu bewerten ist, insbesondere, was den Umgang mit fremden Männern anlangt“ (ON 62 S 34).

[8] Der Beschwerde zuwider verfielen beide Anträge zu Recht der Abweisung (ON 62 S 35 f):

[9] Der erste Antrag ließ nicht erkennen, warum die begehrte Beweisaufnahme zum behaupteten Ergebnis führen sollte, und zielte solcherart – im Stadium des Hauptverfahrens unzulässig – auf Erkundungsbeweisführung ab (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 330; RIS-Justiz RS0118444).

[10] Der zweite Antrag wiederum machte nicht klar, inwieweit das Beweisthema für die Schuld‑ oder die Subsumtionsfrage von Bedeutung sein sollte (zum Erfordernis Ratz, WK-StPO § 281 Rz 321; erneut RIS-Justiz RS0118444).

[11] Das die Anträge ergänzende Beschwerdevorbringen hat mit Blick auf das aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierende Neuerungsverbot auf sich zu beruhen (RIS-Justiz RS0099618).

 

[12] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits nach nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Über die Berufung hat das Oberlandesgericht zu entscheiden (§ 285i StPO).

[13] Mit Blick auf § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO sei hinzugefügt:

[14] Bei den von den Schuldsprüchen II und III umfassten Taten handelt es sich zwar um „wiederholt“ begangene Straftaten gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung der S*****, doch wurden diese – auf der Basis des Urteilssachverhalts – nicht „im Rahmen“ (§ 107b Abs 4 zweiter Fall StGB idF BGBl I 2009/40; § 107b Abs 3a Z 3 StGB idgF) der vom Schuldspruch I 1 umfassten fortgesetzten Gewaltausübung gegenüber demselben (damals unmündigen) Opfer verübt. Demzufolge steht ihre Zusammenfassung mit den vom Schuldspruch I 1 umfassten Taten zu einer (gemeinsamen) Subsumtionseinheit nach § 107b StGB – und damit die Frage von Spezialität (RIS‑Justiz RS0128942) oder von Subsidiarität (§ 107b Abs 5 StGB) desselben gegenüber den durch sie verwirklichten strafbaren Handlungen nach dem 10. Abschnitt des StGB (dazu eingehend 11 Os 99/18w; 11 Os 125/19w) – hier von vornherein nicht in Rede.

[15] Nach dem Urteilssachverhalt wurden die vom Schuldspruch I umfassten Taten allesamt im zeitlichen Geltungsbereich des § 107b StGB idF BGBl I 2009/40 begangen (zur Vornahme des Günstigkeitsvergleichs für jede Tat gesondert siehe RIS-Justiz RS0089011 [insbesondere T3, T4]). Sie erfüllen – in Bezug auf jedes der beiden Opfer – die Tatbestandselemente des § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1, Abs 4 vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 ebenso wie jene des zum Zeitpunkt der Urteilsfällung in erster Instanz in Geltung stehenden § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1, Abs 4 zweiter Fall StGB idgF (BGBl I 2019/105). Der Strafsatz der strengsten erfüllten Qualifikationsnorm ist in beiden Gesetzesfassungen gleich streng (Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren sowohl nach Abs 4 vierter Fall aF als auch nach Abs 4 zweiter Fall idgF). Hiervon ausgehend sind Tat- und Urteilszeitgesetze in ihrer fallkonkreten Gesamtauswirkung (RIS-Justiz RS0119085 [T1]) gleichgünstig. Gemäß § 61 zweiter Satz StGB wären diese Taten daher rechtsrichtig (zwei Verbrechen nach) § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1, Abs 4 zweiter Fall StGB idgF zu unterstellen gewesen.

[16] Die von den Schuldsprüchen II und III umfassten Taten hat das Erstgericht jeweils § 201 Abs 1 StGB, § 206 Abs 1 StGB und § 212 Abs 1 Z 1 StGB unterstellt. Eine dieser Taten hat es darüber hinaus – auf der Basis des Urteilssachverhalts rechtsrichtig (RIS-Justiz RS0120828; 11 Os 32/16i) – § 201 Abs 2 erster Fall StGB, mehrere weitere § 201 Abs 2 vierter Fall StGB subsumiert. § 201 Abs 2 StGB blieb – wie auch § 206 Abs 1 StGB (Strafuntergrenze: ein Jahr Freiheitsstrafe) und § 212 Abs 1 Z 1 StGB (keine Strafuntergrenze) – sowohl während des gesamten Tatzeitraums (2010 bis 2013) als auch seither bis zum Zeitpunkt der Urteilsfällung in erster Instanz unverändert. In § 201 Abs 1 StGB allerdings wurde die Strafuntergrenze mit BGBl I 2013/116 (Inkrafttreten mit 1. August 2013) von sechs Monaten auf ein Jahr und mit BGBl I 2019/105 (Inkrafttreten mit 1. Jänner 2020) von einem Jahr auf zwei Jahre Freiheitsstrafe angehoben. Soweit es jene Taten betrifft, die das Erstgericht (neben § 206 Abs 1 StGB und § 212 Abs 1 Z 1 StGB) nur § 201 Abs 1 StGB (und nicht auch einem der ohnedies eine höhere Mindeststrafdrohung normierenden Qualifikationstatbestände des § 201 Abs 2 StGB) subsumierte, waren – hiervon ausgehend – die Strafgesetze zur Tatzeit in ihrer fallkonkreten Gesamtauswirkung jeweils günstiger als das Urteilszeitregime (§ 61 zweiter Satz StGB; RIS-Justiz RS0119085 [T1]; aA offenbar Mitgutsch, Anmerkung zu 11 Os 125/19w, JSt 2020, 335 [336], soweit sie die Strafdrohung des § 201 Abs 1 StGB idgF für nicht strenger hält als eine solche von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe). Die betreffenden Taten wären daher § 201 Abs 1 StGB nicht in der geltenden Fassung, sondern in der jeweiligen Tatzeitfassung (BGBl I 2004/15 bzw BGBl I 2013/116) zu unterstellen gewesen.

[17] In gleicher Weise wurde die vom Schuldspruch IV umfasste Tat verfehlt § 222 Abs 3 StGB idgF (BGBl I 2015/112) anstatt § 222 Abs 3 StGB in der (infolge der geringeren Strafdrohung – § 222 Abs 1 StGB) fallkonkret günstigeren (Tatzeit‑)Fassung BGBl I 2002/134 subsumiert.

[18] Aufgrund dieses Hinweises besteht bei der Berufungsentscheidung keine Bindung des Oberlandesgerichts an die aufgezeigte, dem Angeklagten – mit Blick auf die zutreffend nach § 201 Abs 2 erster Strafsatz StGB (in Anwendung des § 28 StGB) vorgenommene Strafrahmenbildung – in concreto nicht zum Nachteil gereichende Fehlsubsumtion (RIS‑Justiz RS0118870).

[19] Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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