OGH 10ObS13/21s

OGH10ObS13/21s26.2.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Strohmayer Heihs Strohmayer Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Oktober 2020, GZ 7 Rs 88/20 t‑15, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 28. Juli 2020, GZ 27 Cgs 101/20v‑11, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131154

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten der Revision selbst zu tragen.

Die beklagte Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 2.439,36 EUR für den Zeitraum von 7. 11. 2018 bis 17. 1. 2019.

[2] In diesem Zeitraum – 72 Tage lang – betreute die Klägerin als Krisenpflegeperson ein Krisenpflegekind. Im Zeitpunkt der Übergabe des Kindes wusste sie nicht, wie lange die Krisenpflege dauern würde. Sie fand sich dazu bereit, das Kind so lange wie nötig in ihrem Haushalt aufzunehmen. Von 8. 11. 2018 bis 23. 1. 2019 waren die Klägerin und das Kind am selben Hauptwohnsitz gemeldet. Im Dezember 2018 und im Jänner 2019 bezog die Klägerin für das Krisenpflegekind Familienbeihilfe.

[3] Mit Bescheid vom 13. 5. 2020 widerrief die beklagte Partei die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes und verpflichtete die Klägerin zum Rückersatz der unberechtigt empfangenen Leistung in Höhe von 2.439,36 EUR.

[4] Die Klägerin brachte in ihrer Klage zusammengefasst vor, die Übernahme eines Kindes in Krisenpflege habe es von Natur aus in sich, dass im Zeitpunkt der Übernahme des Kindes die Dauer der Krisenpflege nicht bekannt sei. Da sie bereit gewesen sei, das Kind so lange wie nötig in ihrem Haushalt zu betreuen, sei die Voraussetzung des gemeinsamen Haushalts iSd § 2 Abs 6 KBGG auch bei einer unter 91‑tägigen Betreuungsdauer (ex post gesehen) erfüllt.

[5] Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren und wendete ein, der Krisenpflege sei immanent, dass sie niemals auf Dauer ausgerichtet sei. Die in § 2 Abs 6 KBGG normierte Voraussetzung einer mindestens 91‑tägigen Betreuungsdauer sei nicht erfüllt.

[6] Das Erstgericht stellte fest, dass der Anspruch der Beklagten auf Rückersatz des an die Klägerin geleisteten Kinderbetreuungsgeldes nicht zu Recht bestehe. Rechtlich ging es davon aus, der Gesetzgeber habe in § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24 einen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für jene Krisenpflegepersonen, die Krisenpflegekinder kürzer als 91 Tage betreuen, nicht ausdrücklich vorgesehen. Die sich daraus ergebende Lücke sei durch teleologische Reduktion des sich als überschießend erweisenden Wortlauts des § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG zu schließen. Die Klägerin habe daher zu Recht Kinderbetreuungsgeld bezogen.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte die Entscheidung des Erstgerichts dahin ab, dass das Feststellungsbegehren, der Anspruch auf Rückersatz des Kinderbetreuungsgeldes bestehe nicht zu Recht, abgewiesen und die Klägerin zum Rückersatz des bezogenen Kinderbetreuungsgeldes binnen 4 Wochen verpflichtet wurde. Rechtlich ging das Berufungsgericht davon aus, dass eine Krisenpflegeperson nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24 Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für das Krisenpflegekind nur dann habe, wenn sie es zumindest 91 Tage lang durchgehend in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft betreut. Diese Regelung stelle Krisenpflegeeltern den anderen Elternteilen in Bezug auf die Dauer der für die Begründung eines gemeinsamen Haushalts nötigen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft gleich. Der Gesetzeswortlaut sei eindeutig; auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich nichts anderes. Mangels Vorliegens einer planwidrigen Lücke sei für eine teleologische Reduktion kein Platz.

[8] Das Berufungsgericht ließ die Revision unter Hinweis darauf zu, dass noch keine Rechtsprechung zu § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG idF BGBl I 2019/24 bestehe.

[9] Die beantwortete Revision der Klägerin ist zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1. Nach § 2 Abs 1 Z 2 KBGG idF BGBl I 2019/24 haben ein Elternteil (Adoptivelternteil, Pflegeelternteil) für sein Kind (Adoptivkind, Pflegekind) bzw eine Krisenpflegeperson für ein Krisenpflegekind Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern der Elternteil mit diesem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt.

[11] 2. Zur Entwicklung der Rechtslage und der Rechtsprechung zum Erfordernis des gemeinsamen Haushalts:

[12] 2.1 Nach § 2 Abs 6 KBGG in der hier nicht mehr anwendbaren Fassung BGBl I 2016/53 lag ein gemeinsamer Haushalt nur dann vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse lebten und beide an dieser Adresse hauptwohnsitzlich gemeldet waren. Der gemeinsame Haushalt galt bei mehr als 91‑tätiger tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer einer Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes jedenfalls als aufgelöst (§ 2 Abs 6 Satz 1 und 3 KBGG idF BGBl I 2016/53).

[13] 2.2. Nach der zu § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2016/53 ergangenen Rechtsprechung war der Begriff „dauerhaft“ ein unbestimmter Gesetzesbegriff, dessen Inhalt im Wege der Auslegung ermittelt werden musste (10 ObS 65/19k SSV‑NF 33/47 = DRdA 2020/35, 371 [R. Müller]). Die Ansicht, über einen Umkehrschluss aus § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG sei ein gemeinsamer Haushalt nur bei einer Dauer von mindestens 91 Tagen gegeben (Weißenböck in Holzmann/Windhofer/Weißenböck,Kinderbetreuungsgeldgesetz [2017] § 2 KBGG Anm 2.2.1), wurde von der Rechtsprechung abgelehnt (10 ObS 17/19a SSV-NF 33/17 = DRdA 2020/12, 144 [Kmenta‑Spalovsky]).

[14] 2.3 Die Anspruchsberechtigung von Krisenpflegepersonen wurde nach der „alten“ Rechtslage vom ersten Tag der Betreuung an bejaht, dies unabhängig von der Dauer des gemeinsamen Haushalts. Eine Ex‑post‑Differenzierung danach, wie lange diese Betreuung tatsächlich dauerte, wurde als nicht relevant erachtet (10 ObS 3/13h SSV‑NF 27/12 und 10 ObS 14/13a ua zur Rechtslage vor der Novelle BGBl I 2016/53; 10 ObS 65/19k SSV‑NF 33/47 zu § 2 Abs 6 KBGG idF der Novelle BGBl I 2016/53).

[15] 2.4.1 Rückwirkend mit 1. 7. 2018 (§ 50 Abs 23 KBGG) trat die KBGG‑Novelle BGBl I 2019/24 in Kraft, die (unstrittig) im vorliegenden Fall anwendbar ist. Diese Novelle ließ die Voraussetzung eines gemeinsamen Haushalts von Elternteil und Kind unverändert. Die Definition des gemeinsamen Haushalts in § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG wurde aber dahin präzisiert, dass eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft mindestens 91 Tage durchgehend dauern muss. Mit der Normierung einer Mindestdauer von 91 Tagen zur Begründung einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft stellte der Gesetzgeber für den Anwendungsbereich des KBGG klar, dass zusätzlich zur Absicht, eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zu begründen und zu deren tatsächlicher Begründung ein weiteres Element, nämlich eine (Mindest‑)Dauer einer solchen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft getreten ist.

[16] 2.4.2 Mit der KBGG‑Novelle BGBl I 2019/24 wurde in § 2 Abs 1 KBGG erstmals auch der Anspruch einer Krisenpflegeperson auf Kinderbetreuungsgeld für ein Krisenpflegekind geregelt. Zugleich wurde in § 2 Abs 6 KBGG eine Sonderregelung für Krisenpflegeeltern getroffen, indem dem Abs 6 ein fünfter Satz hinzugefügt wurde. Nach diesem besteht für eine Krisenpflegeperson unabhängig davon, dass nie eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Krisenpflegekind vorliegt, Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für das Krisenpflegekind, sofern sie es mindestens 91 Tage durchgehend in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft betreut. Nach § 2 KBGG wurde § 2a KBGG eingefügt, nach dem Krisenpflegepersonen im Sinn dieses Bundesgesetzes Personen sind, die im Auftrag des zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträgers ausgebildet und von diesem mit der vorübergehenden Pflege und Erziehung eines Kindes für dieDauer der Gefährdungsabklärung betraut wurden. Weiters ordnet § 2a KBGG an, dass auf Krisenpflegepersonen – wenngleich sie keine Pflegeeltern im Sinn dieses Gesetzes sind – die auf Pflegeeltern anzuwendenden Bestimmungen sinngemäß anzuwenden sind, es sei denn, das KBGG sieht abweichende Bestimmungen für Krisenpflegepersonen vor. In § 2a Abs 2 KBGG findet sich eine entsprechende Definition des Begriffs „Krisenpflegekind“.

[17] 3. Nach den Gesetzesmaterialien zur KBGG‑Novelle BGBl I 2019/24 (IA 584/A 26. GP  3) besteht das Wesen der Krisenpflege darin, die betroffenen Kleinkinder (in der Regel unter drei Jahren) für die Dauer der Gefährdungsabklärung (Kindeswohlgefährdung, Ausfall der Betreuungsperson etc) zur vorübergehenden Pflege und Erziehung von Krisenpflegepersonen (in der Regel einige Wochen) versorgen zu lassen, bis entweder über die Rückkehr des Kindes in die Familie oder dessen Übergabe in Dauerpflege entschieden werden könne. Jene Krisenpflegepersonen, die Krisenpflegekinder länger als 91 Tage betreuen, seien zwar ebenfalls keine Pflegeeltern im Sinn des ABGB und damit auch keine Eltern im Sinn des KBGG, gehörten aber auch nicht der Gruppe der typischen Kurzzeitpflegepersonen (Betreuung nur für einige Wochen) an. Zur besseren Lesbarkeit und zum leichteren Verständnis sollen all jene Bestimmungen, die auf Pflegeeltern und Pflegekinder anzuwenden seien, auch auf Krisenpflegepersonen und Krisenpflegekinder angewendet werden. Vereinzelt erscheine es erforderlich, Sonderbestimmungen bzw explizite Klarstellungen im KBGG ausdrücklich vorzusehen.

[18] 4. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu einem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld einer Krisenpflegeperson nach der KBGG‑Novelle BGBl I 2019/24 erging bisher nicht. In der Entscheidung 10 ObS 65/19k SSV‑NF 33/47 wurde zur Novelle BGBl I 2019/24 aber bereits festgehalten, dass damit Krisenpflegeeltern anderen Elternteilen in Bezug auf die Dauer einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft, die notwendig ist, um die gesetzliche Voraussetzung des gemeinsamen Haushalts zu erfüllen, gleichgestellt werden. Auch in der Entscheidung 10 ObS 119/19a (zur Voraussetzung der dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft bei getrennt lebenden Elternteilen im Fall der Inanspruchnahme der Bezugsvariante „365 Tage + 61 Tage“) wurde auf die Sonderregelung des § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG idF BGBl I 2019/24 für Krisenpflegepersonen Bezug genommen und unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien festgehalten, der Gesetzgeber verfolge mit der neuen Regelung den Zweck, der Gruppe der „typischen Kurzzeitpflegepersonen“ keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld einzuräumen.

[19] 5.1 Im Schrifttum wird zur Sonderregelung in § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG für Krisenpflegepersonen ausgeführt, dass auch der Anspruch von Krisenpflegepersonen auf Kinderbetreuungsgeld vom Gesetzgeber von einer 91 Tage dauernden durchgehenden Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft abhängig gemacht wird. Hinsichtlich Krisenpflegeeltern liege damit eine Sonderregelung zur 61‑tätigen Mindestbezugsdauer nach § 3 Abs 5 KBGG vor (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG3 [2020] § 2 Rz 29; § 3 Rz 13d).

[20] 5.2 Nach R. Müller (Kinderbetreuungsgeld für Krisenpflegeeltern? DRdA 2020/35, 371 [375])brachte die KBGG‑Novelle BGBl I 2019/24 erstmals die ausdrückliche Verankerung des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld von Krisenpflegeeltern im KBGG (§ 2a KBGG), zugleich wurde dieser Anspruch jedoch erstmals an eine Mindestpflegedauer von mehr als 91 Tagen gebunden (§ 2 Abs 6 letzter Satz KBGG).

[21] 6. § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG idF der Novelle BGBl I 2019/24 ist somit zusammenfassend so zu verstehen, dass eine Krisenpflegeperson Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für das Krisenpflegekind nur dann hat, wenn sie es mindestens 91 Tage durchgehend in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft betreut.

[22] Die Ansicht des Berufungsgerichts, im vorliegenden Fall einer kürzeren als 91‑tägigen Betreuungsdauer des Krisenpflegekindes sei der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zu verneinen, steht somit im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut des § 2 Abs 6 KBGG idF der Novelle BGBl I 2019/24, den Gesetzesmaterialien, den bisher dazu in der Rechtsprechung getroffenen Aussagen sowie dem Schrifttum. Dem Standpunkt der Revisionswerberin, der Gesetzgeber habe auch nach der neuen Rechtslage in § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24 bei kurzzeitiger Krisenpflege einen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld gewähren wollen, weshalb diese Regelung teleologisch dahin zu reduzieren sei, dass bei Krisenpflegepersonen bereits ab dem ersten Tag der Krisenpflege ein gemeinsamer Haushalt begründet werde, kann nicht gefolgt werden.

[23] 7. Die Revision erweist sich daher als nicht berechtigt.

[24] 8. Zur Kostenentscheidung:

[25] Anhaltspunkte für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit im Sinn des § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG ergeben sich weder aus dem Vorbringen noch aus der Aktenlage. Der beklagte Versicherungsträger hat die Kosten, die ihm durch das Verfahren erwachsen sind, ohne Rücksicht auf dessen Ausgang selbst zu tragen (§ 77 Abs 1 Z 1 ASGG).

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