OGH 7Ob192/20s

OGH7Ob192/20s27.1.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende sowie die Hofrätin und die Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** K*****, vertreten durch CHG Czernich Haidlen Gast und Partner Rechtsanwälte GmbH in Innsbruck, gegen die beklagte Partei W***** AG, *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 37.456,98 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 25. Juni 2020, GZ 2 R 176/18v‑21, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 16. Oktober 2018, GZ 55 Cg 49/17t‑14, bestätigt wurde, zu Recht erkannt und beschlossen:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00192.20S.0127.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

I. Das Ersturteil, das im Umfang der Abweisung von 1.732,81 EUR (Punkt 2. des Ersturteils) und des Rechnungslegungsbegehrens (Punkt 3. des Ersturteils) unbekämpft in Rechtskraft erwachsen ist, sowie das Berufungsurteil werden im Umfang des Zuspruchs von 35.724,17 EUR (Punkt 1. des Ersturteils) sowie des Zuspruchs von jeweils 4 % Zinsen aus jeweils 100 EUR seit 5. 12. 2014, 1. 1. 2015, 1. 2. 2015, 1. 3. 2015, 1. 4. 2015, 1. 5. 2015, 1. 6. 2015, 1. 7. 2015, 1. 8. 2015, 1. 9. 2015, 1. 10. 2015, 1. 11. 2015, 1. 12. 2015, 1. 1. 2016, 1. 2. 2016, 1. 3. 2016, 1. 4. 2016, 1. 5. 2016, 1. 6. 2016, 1. 7. 2016, 1. 8. 2016, 1. 9. 2016, 1. 10. 2016, 1. 11. 2016, 1. 12. 2016, 1. 1. 2017, 1. 2. 2017, 1. 3. 2017, 1. 4. 2017, 1. 5. 2017, 1. 6. 2017, 1. 7. 2017, 1. 8. 2017, 1. 9. 2017, 1. 10. 2017, 1. 11. 2017, 1. 12. 2017, 1. 1. 2018, 1. 2. 2018, 1. 3. 2018, 1. 4. 2018, 1. 5. 2018, 1. 6. 2018, 1. 7. 2018, 1. 8. 2018 und 1. 9. 2018 als Teilurteil bestätigt. Insoweit bleibt die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.

II. Im Umfang des Zuspruchs des restlichen Zinsenbegehrens, nämlich der monatlichen Zinsenstaffel von 4 % Zinsen aus jeweils 218 EUR ab 1. 11. 2000 bis einschließlich 1. 12. 2011 und aus jeweils 100 EUR ab 1. 12. 2011 bis einschließlich 4. 12. 2014 sowie hinsichtlich der Prozesskosten werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben. In diesem Umfang wird dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Insoweit sind die Kosten des Revisionsverfahrens weitere Verfahrenskosten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger hat als Verbraucher bei der Beklagten einen fondsgebundenen Lebensversicherungsvertrag mit Vertragsbeginn 1. 11. 2000 abgeschlossen. Die Beklagte hat den Kläger nie schriftlich über das ihm nach § 165a VersVG aF zustehende Rücktrittsrecht belehrt.

[2] Der Kläger bezahlte an die Beklagte von 1. 11. 2000 bis 1. 9. 2018 jeweils am Monatsersten die monatlichen Prämien von zunächst 218 EUR bis Dezember 2011 und jeweils 100 EUR ab Jänner 2012 inklusive der Versicherungssteuer.

[3] Insgesamt bezahlte der Kläger Prämien in Höhe von 37.456,98 EUR, darin 1.440,81 EUR an Versicherungssteuer. Die Risikokosten für den gewährten Versicherungsschutz betrugen 100 EUR.

[4] Der Kläger erlangte Anfang Oktober 2017 durch seinen derzeitigen Finanzberater Kenntnis vom Rücktrittsrecht. Er erklärte mit anwaltlichem Schreiben vom 11. 10. 2017 unter Berufung auf § 165a VersVG aF den Rücktritt vom Versicherungsvertrag mit der Behauptung, er sei nicht rechtsrichtig über das ihm zustehende Rücktrittsrecht aufgeklärt worden. Die Beklagte wies den Rücktritt als verspätet zurück.

[5] Der Kläger begehrte mit seiner am 5. 12. 2017 eingebrachten Klage von der Beklagten wegen unterbliebener Belehrung über sein Rücktrittsrecht die Rückzahlung der geleisteten Prämien von 37.456,98 EUR samt Staffelzinsen ab 1. 11. 2000 und er stellte ein Rechnungslegungsbegehren.

[6] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren und wandte ein, der Kläger sei über sein Rücktrittsrecht belehrt worden. Die Rücktrittsfrist sei abgelaufen, das Rücktrittsrecht nach drei Jahren seit Vertragsabschluss jedenfalls verjährt und dieses werde vom Kläger rechtsmissbräuchlich ausgeübt. Das Verhalten des Klägers sei widersprüchlich, weil er viele Jahre am Vertrag festgehalten habe. Selbst im Fall eines berechtigten Rücktritts stünde dem Kläger nur der Rückkaufswert zu. Die Versicherungssteuer sei nicht rückzuerstatten und ein allfälliger Anspruch auf Vergütungszinsen verjähre in drei Jahren.

[7] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte wegen unterbliebener Belehrung über das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG aF zur Rückzahlung von Prämien in der Höhe von 35.724,17 EUR samt Staffelzinsen und wies ein Mehrbegehren infolge Abzugs der Versicherungssteuer und der Risikokosten sowie das Rechnungslegungsbegehren ab.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es war der Rechtsansicht, dass im Fall des hier berechtigten Spätrücktritts nach § 165a VersVG aF die Verjährung erst mit dem Rücktritt zu laufen beginne. Es sei daher neben dem Anspruch auf Prämienrückzahlung auch jener auf die geltend gemachten Zinsen nicht verjährt.

[9] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil seitens des Obersten Gerichtshofs noch „keine vertiefte Begründung zu den Verjährungsfragen beim Spätrücktritt und keine Auseinandersetzung mit der bestehenden Literatur“ vorliege.

[10] Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde. Hilfsweise stellt die Beklagte auch einen Aufhebungsantrag.

[11] Der Kläger erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise dieser nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und teilweise berechtigt.

[13] 1.  Die Vorinstanzen sind zum Ergebnis gelangt, dass die Beklagte den Kläger nicht über sein Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG aF belehrt hat. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 2 in EuGH C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, Rust-Hackner (ua) folgt, dass in einem Fall, in dem der Versicherer dem Versicherungsnehmer keine fehlerfreie Information über dessen Rücktrittsrecht mitgeteilt hat, die Frist für das Rücktrittsrecht selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Weg von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt haben sollte (7 Ob 19/20z; 7 Ob 15/20m; 7 Ob 8/20g). Der Rücktritt des Klägers ist daher nicht verfristet, sondern wirksam erfolgt. Dieses Ergebnis wird in der Revision auch nicht mehr konkret bekämpft.

[14] 2.  Aus welchen Gründen (Motiven) sich der Versicherungsnehmer letztlich für das ihm offen stehende Rücktrittsrecht entscheidet, etwa infolge der schlechten Performance der Veranlagung, ist rechtlich für die grundsätzliche Zulässigkeit des Spätrücktritts nicht relevant. Es ist vielmehr dem Versicherer zuzurechnen, dass er selbst diese Situation dadurch herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung bestimmter Informationen, nämlich hier über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, nicht nachgekommen ist (vgl 7 Ob 117/20m [Punkt 7.5.]). Die Gründe, warum sich der Kläger zum Spätrücktritt entschlossen hat, bedürfen daher für die Frage seiner grundsätzlichen Zulässigkeit – entgegen der Ansicht der Beklagten – keiner Erörterung, sodass insoweit auch kein sekundärer Feststellungsmangel vorliegt.

[15] 3.  Hat der Versicherer den Kläger – wie hier – nicht über sein Rücktrittsrecht informiert, so begründet eine auch erst Jahre später erfolgende Ausübung dieses Rechts allein keinen Rechtsmissbrauch (7 Ob 200/20t; vgl auch 7 Ob 8/20g).

[16] 4.  Der vom Kläger somit berechtigt vorgenommene Rücktritt löst, wie der Fachsenat aufgrund der Beantwortung der Vorlagefrage 4 durch den EuGH in der Rechtssache C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, Rust‑Hackner , bereits wiederholt ausgesprochen hat, nicht die Rechtsfolgen nach § 176 VersVG aF aus, sondern führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags (7 Ob 19/20z; 7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 15/20m). Das bedeutet, dass der Kläger aufgrund der infolge des wirksamen Rücktritts vorzunehmenden bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung grundsätzlich Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Prämien hat (7 Ob 8/20g; 7 Ob 200/20t). Die Versicherungssteuer und die Risikokosten hat das Erstgericht von den bezahlten Prämien – unbekämpft – in Abzug gebracht, sodass auf diese Teilbeträge nicht mehr einzugehen ist. Damit erweist sich der Zuspruch an Kapital als zutreffend und war zu bestätigen.

[17] 5.1.  Alle Arten von Zinsen aus einer fälligen, zu erstattenden Geldsumme ohne Rücksicht auf den Rechtsgrund der Zahlungspflicht, darunter auch Zinsen aus einer ohne Rechtsgrund geleisteten und daher zurückzuerstattenden Geldsumme („Vergütungszinsen“), verjähren gemäß § 1480 ABGB (RS0031939; RS0033829; RS0032078; RS0038587). Unkenntnis des Anspruchs hindert den Beginn der Verjährung im Allgemeinen nicht. Wer etwa einen wegen Irrtums (auch eines Rechtsirrtums) ohne Rechtsgrund geleisteten Geldbetrag zurückfordert, ist zwar bis zur Aufdeckung dieses Willensmangels gar nicht in der Lage, Zinsen von dem rechtsgrundlos gegebenen Kapital zu fordern; das hindert aber nicht den Lauf der dreijährigen Verjährungsfrist nach § 1480 ABGB, ist doch der Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich – von Ausnahmebestimmungen wie etwa § 1489 ABGB abgesehen – an die objektive Möglichkeit der Rechtsausübung geknüpft. Die Möglichkeit zu klagen ist im objektiven Sinn zu verstehen; subjektive, in der Person des Berechtigten liegende Hindernisse, wie ein Irrtum des Berechtigten oder überhaupt Unkenntnis des Anspruchs, haben in der Regel auf den Beginn der Verjährungsfrist keinen Einfluss (RS0034337; RS0034445 [T1]; RS0034248). Mehr als drei Jahre vor dem Tag der Klagseinbringung rückständige Vergütungszinsen sind daher verjährt (4 Ob 584/87). Bereits in zahlreichen Entscheidungen hat der erkennende Fachsenat diese Rechtsprechung auch für den Fall der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach einem (Spät‑)Rücktritt des Versicherungsnehmers von einem Lebensversicherungsvertrag ausdrücklich aufrechterhalten (RS0133108).

[18] 5.2.  Ausgehend von der Entscheidung des EuGH 19. 12. 2019, C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, Rust‑Hackner (ua), hat der Senat weiters ausgesprochen (7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 88/20x ua) : Im Grundsatz steht das Unionsrecht einer Verjährung des Anspruchs auf die Vergütungszinsen binnen drei Jahren nicht entgegen, wenn dies die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst nicht beeinträchtigt. Der EuGH hob deutlich hervor, dass das Rücktrittsrecht nicht dazu dient, dass der Versicherungsnehmer eine höhere Rendite erhalten oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen spekulieren kann. Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine solche Verjährung des Anspruchs auf Vergütungszinsen geeignet ist, die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst zu beeinträchtigen, zumal Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potentiell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können. Wenn unter diesen Umständen die Tatsache, dass die für mehr als drei Jahre fälligen Zinsen verjährt sind, dazu führen sollte, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt, obwohl der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht, wäre eine solche Verjährung geeignet, das Rücktrittsrecht zu beeinträchtigen, insbesondere wenn der Versicherungsnehmer nicht richtig über die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts informiert wurde. Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.

[19] 5.3.  Daraus folgt für den vorliegenden Fall: Dem Kläger stehen die Vergütungszinsen jedenfalls für den Zeitraum von 3 Jahren vor Klagseinbringung zu, sodass auch der Zuspruch hinsichtlich dieser Nebengebühren zu bestätigen war. Zinsen aus den Prämien für die Zeit von mehr als 3 Jahren vor Klagseinbringung gebühren dagegen dem Kläger nur dann, wenn deren Verjährung der effektiven Ausübung des Rücktrittrechts im zuvor dargestellten Sinn entgegenstünde. Diese Voraussetzungen waren bislang nicht Gegenstand des Verfahrens und wurden nicht mit den Parteien erörtert. Diesen ist daher im insoweit fortzusetzenden Verfahren Gelegenheit zu geben, Vorbringen zu erstatten und im Weiteren zu klären und festzustellen, ob der Vertrag im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses den Bedürfnissen des Klägers entsprach, sowie ob und inwiefern dieser durch die Verjährung der Vergütungszinsen binnen drei Jahren daran gehindert wäre, sein Rücktrittsrecht geltend zu machen. Nur wenn der Vertrag im konkreten Einzelfall nicht den Bedürfnissen des Klägers entsprach und er durch die Verjährung am Rücktritt gehindert worden wäre, wird die dreijährige Verjährungsfrist nicht anzuwenden sein.

[20] 6.  Im Ergebnis folgt:

[21] 6.1.  Die Rechtssache ist im Umfang des Zuspruchs an Kapital samt Zinsen aus den Prämien für den Zeitraum von 3 Jahren vor Klagseinbringung infolge berechtigten Vertragsrücktritts wegen unterbliebener Belehrung über das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG aF als Teilurteil zu bestätigen.

[22] 6.2.  Zinsen aus Prämien für die länger als 3 Jahre vor Klagseinbringung zurückliegende Zeiträume stehen dem Kläger nur unter den noch zu klärenden besonderen, in 5.2. und 5.3. bezeichneten Umständen zu. Insoweit war mit einer Aufhebung zur Verfahrensfortsetzung zwecks neuerlichen Entscheidung vorzugehen.

[23] 6.3.  Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO.

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