European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0280DS00007.19X.0114.000
Spruch:
In Stattgebung der Beschwerde wird der angefochtene Beschluss ersatzlos aufgehoben.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Beschluss wurde über den Disziplinarbeschuldigten Rechtsanwalt *****– nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – gemäß § 19 Abs 1 Z 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b DSt die einstweilige Maßnahme der Entziehung des Vertretungsrechts vor allen Gerichten und Staatsanwaltschaften für die Dauer von drei Monaten verhängt.
Rechtliche Beurteilung
[2] Der dagegen vom Disziplinarbeschuldigten erhobenen Beschwerde kommt Berechtigung zu.
[3] Der Vollzug einer vom Disziplinarrat gemäß § 19 DSt beschlossenen einstweiligen Maßnahme wird gemäß § 57 Abs 2 DSt durch ein dagegen ergriffenes Rechtsmittel nicht gehindert. Der Beschwerde gegen eine Maßnahme nach § 19 DSt kommt demnach keine aufschiebende Wirkung zu (vgl Lehner in Engelhart et al, RAO10 DSt § 57 Rz 2).
[4] Die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer – wie hier zufolge Ablaufs der angeordneten Befristung – bereits vollzogenen einstweiligen Maßnahme durch den Obersten Gerichtshof als Beschwerdegericht kann sich – auch wenn in anderen Zusammenhängen im Beschwerdeverfahren eine Neuerungserlaubnis besteht (vgl § 89 Abs 2b erster und zweiter Satz StPO iVm § 77 Abs 3 DSt) – nur auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Disziplinarrats beziehen (vgl zur Prüfung der gerichtlichen Bewilligung einer [bereits vollzogenen] Zwangsmaßnahme nach der StPO: RIS‑Justiz RS0131252; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 89 Rz 3/6). Davon unberührt bleibt die sich aus § 89 Abs 2b erster Satz StPO iVm § 77 Abs 3 DSt sowie § 19 Abs 4 erster Satz DSt ergebende Pflicht des Beschwerdegerichts, eine noch andauernde einstweilige Maßnahme bei Wegfall einer der gesetzlichen Voraussetzungen zu beenden (vgl 22 Os 1/16m; vgl zur Aufhebung von Zwangsmaßnahmen nach der StPO: Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 89 Rz 3/6).
[5] Gemäß § 19 Abs 1 Z 1 DSt idF vor dem insoweit am 1. April 2020 in Kraft getretenen BGBl I 2020/19 (vgl Jerabek, WK‑StPO § 516 Rz 3) konnte der Disziplinarrat gegen einen Rechtsanwalt einstweilige Maßnahmen beschließen, wenn gegen diesen „als Beschuldigten oder Angeklagten (§ 48 Abs 1 Z 1 und Z 2 StPO)“ ein Strafverfahren nach der StPO geführt wird.
[6] Mit dem BRÄG 2008 (BGBl I 2007/111) wurde § 19 Abs 1 Z 1 DSt an die neue Systematik der StPO idF des Strafprozessreformgesetzes BGBl I 2004/19 angepasst, indem nicht mehr auf die Anhängigkeit eines gerichtlichen Strafverfahrens oder die Führung von Vorerhebungen (vgl § 19 Abs 1 Z 1 DSt idF vor BGBl I 2007/111), sondern auf die Führung eines Strafverfahrens nach der StPO gegen den Rechtsanwalt als Beschuldigten oder Angeklagten iSd § 48 Abs 1 Z 1 und Z 2 StPO abgestellt wurde.
[7] § 48 Abs 1 Z 1 StPO idF BGBl I 2004/19 definierte den Beschuldigten als jede Person, die aufgrund bestimmter Tatsachen konkret verdächtig ist, eine strafbare Handlung begangen zu haben, sobald gegen sie wegen dieses Verdachts ermittelt oder Zwang ausgeübt wird. Mit dem StPRÄG 2014 (BGBl I 2014/71) wurde mit 1. Jänner 2015 in die StPO die neue „Prozessrolle“ des Verdächtigen sowie der Begriff des Anfangsverdachts eingefügt: Verdächtiger ist gemäß § 48 Abs 1 Z 1 StPO idgF jede Person, gegen die aufgrund eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO [„wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen worden ist“]) ermittelt wird. Beschuldigter ist gemäß § 48 Abs 1 Z 2 StPO idgF jeder Verdächtige, sobald er aufgrund bestimmter Tatsachen konkret verdächtig ist, eine strafbare Handlung begangen zu haben und zur Aufklärung dieses konkreten Verdachts nach dem 8. oder 9. Hauptstück dieses Bundesgesetzes Beweise aufgenommen oder Ermittlungsmaßnahmen angeordnet oder durchgeführt werden. Der Beschuldigtenbegriff des § 48 Abs 1 Z 2 StPO idgF deckt sich demnach im Wesentlichen mit jenem des § 48 Abs 1 Z 1 StPO idF BGBl I 2004/19; die Rolle des Verdächtigen stellt gewissermaßen eine Vorstufe zur Beschuldigtenstellung dar.
[8] Aufgrund der Novellierung des § 19 Abs 1 Z 1 DSt durch BGBl I 2020/19 ist nunmehr jedenfalls davon auszugehen, dass – ungeachtet der – zum Zeitpunkt der Entscheidung des Disziplinarrats auf die Rechtslage vor BGBl I 2014/71 abstellenden – Verweisung auf § 48 Abs 1 Z 1 und Z 2 StPO – erst die Führung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Rechtsanwalt als (zumindest) Beschuldigten (im Sinn des § 48 Abs 1 Z 2 StPO idgF) die Verhängung einer einstweiligen Maßnahme erlaubte und nicht bereits die Anhängigkeit eines Ermittlungsverfahrens gegen den Rechtsanwalt (bloß) als Verdächtigen (im Sinn des § 48 Abs 1 Z 1 StPO idgF; vgl so auch schon Lehner in Engelhart et al, RAO10 DSt § 19 Rz 14, § 24 Rz 1).
[9] Nach den Sachverhaltsannahmen des angefochtenen Beschlusses wurde gegen den Disziplinarbeschuldigten von der Staatsanwaltschaft St. Pölten aufgrund der – im Disziplinarakt einliegenden – Sachverhaltsdarstellung des Disziplinarrats (vom 1. Februar 2019) „das Ermittlungsverfahren wegen Betrugs und Vollstreckungsvereitelung eingeleitet“ (vgl BS 1 f iVm der Note der Staatsanwaltschaft St. Pölten vom 6. März 2019 zu AZ 2 St 28/19z [Beilage ./2 im Teilakt „Sachverhaltsdarstellung“], wonach gegen ***** Ermittlungen wegen des Vorwurfs des schweren Betrugs und der Vollstreckungsvereitelung eingeleitet wurden). Ob zum Zeitpunkt der Verhängung der einstweiligen Maßnahme am 8. April 2019 ***** bereits Beschuldigtenstatus zukam oder aber das Verfahren gegen ihn (bloß) als Verdächtigen geführt wurde, kann weder dem angefochtenen Beschluss noch dem Akteninhalt entnommen werden (vgl insbesondere auch den Antrag des Kammeranwalts vom 8. März 2019 [Beilage ./2], dessen Aktenvermerk vom 23. Mai 2019 [OZ 33] sowie die Note der Staatsanwaltschaft St. Pölten vom 31. Mai 2019 [OZ 35], der lediglich die Führung eines Ermittlungsverfahrens gegen ***** als Beschuldigten zu diesem Zeitpunkt entnommen werden kann).
[10] Mangels aktenkundiger Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 19 Abs 1 Z 1 DSt im Zeitpunkt der Entscheidung des Disziplinarrats am 8. April 2019 war die Verhängung der einstweiligen Maßnahme unzulässig.
[11] Der ausdrücklich das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 19 Abs 1 Z 1 DSt reklamierenden Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur Folge zu geben und der angefochtene Beschluss ersatzlos aufzuheben.
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