OGH 14Os79/20d

OGH14Os79/20d29.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. September 2020 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter in Gegenwart der Schriftführerin Dr. Ondreasova in der Strafsache gegen ***** G***** wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 8 U 109/20i (vormals AZ 9 U 108/13i) des Bezirksgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0140OS00079.20D.0929.000

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 8 U 109/20i (vormals AZ 9 U 108/13i) des Bezirksgerichts Innsbruck verletzt

1./ die Verlesung des gerichtsmedizinischen Gutachtens der Sachverständigen Ass.‑Prof. Dr. A***** (ON 6) sowie der Angaben der Zeugen ***** G***** und ***** M***** enthaltenden Abschlussberichte der Polizeiinspektion M***** vom 17. Dezember 2012 (ON 2) und der Polizeiinspektion S***** vom 4. Jänner 2013 (ON 2 in ON 5) § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;

2./ das Unterlassen der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls spätestens zugleich mit der Zustellung der Urteilsausfertigung an den Angeklagten § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 447 StPO;

3./ das Unterlassen der Anordnung der Zustellung einer Rechtsmittelbelehrung in der richterlichen Zustellverfügung vom 5. Juni 2013 § 152 Abs 3 iVm § 129 Abs 4 Geo sowie das Unterbleiben der Zustellung der Rechtsmittelbelehrung § 6 Abs 2 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 14. Mai 2013, GZ 9 U 108/13i‑20, wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

 

Gründe:

Im Verfahren AZ 8 U 109/20i (vormals AZ 9 U 108/13i) des Bezirksgerichts Innsbruck legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck mit Strafantrag vom 1. März 2013 (ON 9) ***** G***** zur Last, die Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (I./) und der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (II./) begangen zu haben.

In der am 14. Mai 2013 in Abwesenheit des – gemäß § 164 StPO zu beiden Anklagevorwürfen vernommenen (vgl ON 2 S 21 ff sowie ON 2 in ON 5 S 17 ff) und ordnungsgemäß geladenen (ON 17), anwaltlich nicht vertretenen – Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung verlas die Einzelrichterin „gemäß § 252 Abs 1 Z 4 StPO“ das gerichtsmedizinische Gutachten der Sachverständigen Ass.‑Prof. Dr. A***** (ON 6) und „gemäß § 252 Abs 2 StPO“ (unter anderem) „die Anzeige der PI M***** ON 2 (…) sowie die Anzeige der PI S***** ON 2 in ON 5“ (ON 19 S 1 f).

Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag (ON 20) wurde der Angeklagte der Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (1./) und der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (2./) schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt.

Danach hat er

1./ zwischen 1. Juli und 27. September 2012 in I***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter (§ 12 StGB) fremde Sachen beschädigt und dadurch einen Schaden von 1.450 Euro herbeigeführt, indem sie in der Wohnung von ***** M***** zwei Glastüren einschlugen, Stromkabel ausrissen und eine elektrische Jalousie verbogen;

2./ am 26. September 2012 in N***** ***** G***** am Körper verletzt, indem er ihm mit einem Messer ins Gesicht stach, wodurch dieser eine Schnittwunde im Bereich der rechten Wange erlitt.

Die getroffenen Feststellungen gründete das Erstgericht auf „die aufgenommenen Beweise“ zum Schuldspruch 2./ konkret auf die geständige Verantwortung des Angeklagten und zum Schuldspruch 1./ auf die – ausschließlich auf den Angaben des Zeugen ***** M***** beruhende (ON 2 in ON 5 S 3 ff und 21 ff) – (gemeint:) Anzeige der Polizeiinspektion S***** vom 4. Jänner 2013 (US 2 f).

Am 5. Juni 2013 verfügte die Bezirksrichterin die Zustellung des Abwesenheitsurteils, nicht aber die Zustellung (auch) einer Rechtsmittelbelehrung für Abwesenheitsurteile im bezirksgerichtlichen Verfahren sowie einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls (ON 20 S 3). Das Abwesenheitsurteil wurde dem Angeklagten am 12. Juni 2013 durch Hinterlegung zugestellt (ON 20 nach S 3; vgl auch ON 24 und 26), wobei der Urteilsausfertigung nach dem Akteninhalt weder eine Rechtsmittelbelehrung noch eine Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls angeschlossen war (vgl ON 20 S 3 ff sowie ON 38).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren mit dem Gesetz nicht in Einklang:

1./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen – soweit hier von Relevanz – Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, sowie Gutachten von Sachverständigen in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen werden. Aus dem Nichterscheinen des gesetzeskonform geladenen Angeklagten zur Hauptverhandlung kann dessen Einverständnis mit einer Verlesung im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden (vgl RIS-Justiz http://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0117012&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ; Bauer, WK-StPO § 427 Rz 13; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103). Da auch keiner der in § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO genannten Fälle vorlag, widersprach sowohl die Verlesung des Gutachtens der gerichtsmedizinischen Sachverständigen Ass.‑Prof. Dr. A***** (ON 6) als auch jene der – in Protokollen oder Amtsvermerken festgehaltene Angaben des Zeugen ***** G***** (ON 2 S 4, 6 und 31 ff) und ***** M***** (ON 2 in ON 5 S 3 ff und 21 ff) enthaltenden – Abschlussberichte der Polizeiinspektion M***** vom 17. Dezember 2012 (ON 2) und der Polizeiinspektion S***** vom 4. Jänner 2013 (ON 2 in ON 5) § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO.

2./ Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten des Verfahrens, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Indem das Bezirksgericht Innsbruck dem Angeklagten nicht spätestens zugleich mit der Urteilsausfertigung ein Protokoll über die Hauptverhandlung übermittelt hat, hat es gegen § 271 Abs 6 letzter Satz StPO verstoßen.

3./ Gemäß § 152 Abs 3 Geo ist (unter anderem) bei der Zustellung eines Abwesenheitsurteils stets auch eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung zuzustellen, wobei dies vom Richter in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen ist (§ 129 Abs 4 Geo). Indem Letzteres verabsäumt wurde (vgl zur Wirksamkeit der Zustellung RIS-Justiz RS0096136 [T7]), liegt ein Verstoß gegen die genannten Bestimmungen der Geo vor (RIS-Justiz RS0059446, https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0096533&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ; zur Wahrnehmung der Verletzung von Verordnungen durch den Obersten Gerichtshof siehe RIS‑Justiz https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0102164&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False [T1]). Das Fehlen der Zustellung der Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten bewirkt wiederum einen Verstoß gegen § 6 Abs 2 StPO.

Es ist nicht auszuschließen, dass sich die angeführten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben. Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO). Vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichfalls als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).

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