OGH 4Ob132/20w

OGH4Ob132/20w12.8.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B***** S*****, vertreten durch Friedl & Holler Rechtsanwälte GmbH in Leibnitz, gegen die beklagte Partei G*****, Frankreich, vertreten durch Hausmaninger Kletter Rechtsanwälte‑Gesellschaft mbH in Wien, wegen 10.990 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 2. Oktober 2019, GZ 6 R 175/19b‑26, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Leibnitz vom 22. Juli 2019, GZ 3 C 81/18b‑22, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0040OB00132.20W.0812.000

 

Spruch:

I. Das Revisionsrekursverfahren wird fortgesetzt.

II. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass die – die Einrede der fehlenden internationalen örtlichen Zuständigkeit verwerfende – Entscheidung des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird. Die Rechtssache wird an das Erstgericht verwiesen, dem die Fortsetzung des gesetzmäßigen Verfahrens aufgetragen wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.578,42 EUR (darin enthalten 263,07 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens im Zwischenstreit über die internationale Zuständigkeit binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Zu I.:

Mit Beschluss vom 19. Dezember 2019, 4 Ob 220/19k, wurde das Revisionsrekursverfahren bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Verfahren zu C‑343/19 unterbrochen. Nunmehr hat der EuGH mit Urteil vom 9. Juli 2020, C‑343/19, VKI, die Vorabentscheidung getroffen. Das Revisionsrekursverfahren ist daher von Amts wegen fortzusetzen.

 

Zu II.:

Die in Österreich wohnhafte Klägerin ist Eigentümerin eines Fahrzeugs der Marke Peugeot 208 LIKE 1.0 VTI 68, fünftürig. Sie hat den fabriksneuen Pkw am 13. Jänner 2015 von einem Autohändler in L***** gekauft.

Die Beklagte mit Sitz in Frankreich ist die Herstellerin des Fahrzeugs. Zwischen den Streitteilen besteht kein Vertragsverhältnis.

Die Klägerin begehrte die Zahlung von 10.990 EUR sA Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs. Die Klage sei auf die schadenersatzrechtliche Wandlung des Kaufvertrags gerichtet. Die Fahrzeugserie, dem das von ihr gekaufte Fahrzeug angehöre, weise einen Produktmangel auf, der in einem gravierenden Ölverlust nach geringer Kilometerleistung bestehe. Den Mitarbeitern der Beklagten sei der Produktmangel bekannt gewesen. Trotz dieses Wissens habe die Beklagte die Fahrzeuge produziert und ausgeliefert. Dadurch sei die Klägerin sittenwidrig geschädigt worden. Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ergebe sich vor allem aus Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012; der Schaden sei durch den Erwerb des Fahrzeugs in Österreich entstanden.

Die Beklagte erhob die Einrede der mangelnden internationalen (örtlichen) Zuständigkeit. Der Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 begründe im Anlassfall keine Zuständigkeit in Österreich. Werde die Haftung des Herstellers für ein fehlerhaftes Produkt geltend gemacht, so sei jener Ort zuständigkeitsbegründend, an dem das Produkt hergestellt worden sei. Auch der Gerichtsstand des Erfüllungsorts sowie der Verbrauchergerichtsstand stünden nicht zur Verfügung.

Das Erstgericht verwarf die Einrede der fehlenden internationalen örtlichen Zuständigkeit. Der Erfolgsort nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 sei dort zu lokalisieren, wo das geschützte Rechtsgut verletzt worden und die Vermögensminderung eingetreten sei. In den Fällen des sogenannten VW‑Abgasskandals sei davon auszugehen, dass der Schaden im Vermögen des Erwerbers an jenem Ort als Erfolgsort eintrete, an dem das Fahrzeug gekauft worden sei. Dies gelte auch für den Anlassfall.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Beklagten Folge, sprach aus, dass das Erstgericht international unzuständig sei und wies die Klage zurück. Die Klägerin mache einen reinen Vermögensschaden außerhalb der Produkthaftung geltend. Dem Vorbringen der Klägerin lasse sich weder eine Schutzgesetzverletzung noch eine sonstige unmittelbar aufgrund eines Gesetzes bestehende Rechtswidrigkeit noch ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten ableiten. Ein Anknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit in Österreich nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 sei daher nicht zu erkennen. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil nicht auszuschließen sei, dass dem Käufer eines Fahrzeugs gegenüber dem Hersteller in einem Fall wie dem vorliegenden der Gerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 doch zur Verfügung stehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Klägerin, der auf eine Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts abzielt.

Mit ihrer Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Beklagte, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil zur Frage der internationalen örtlichen Zuständigkeit nach Maßgabe des Erfolgsorts eine höchstgerichtliche Klarstellung geboten ist. Der Revisionsrekurs der Klägerin ist auch berechtigt.

1. Mit Urteil vom 9. Juli 2020, C‑343/19, VKI, hat der EuGH ausgesprochen, dass Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 dahin auszulegen ist, dass sich der Ort der Verwirklichung des Schadenerfolgs in einem Fall, in dem Fahrzeuge von ihrem Hersteller in einem Mitgliedstaat rechtswidrig mit einer Software ausgerüstet wurden, die die Daten über den Abgasausstoß manipuliert, und danach bei einem Dritten in einem anderen Mitgliedstaat erworben werden, in diesem letztgenannten Mitgliedstaat befindet. Dazu führte der EuGH aus, dass der geltend gemachte Schaden (nach der Aktenlage) in einer Wertminderung der gekauften Fahrzeuge bestehe, die sich aus der Differenz zwischen dem Kaufpreis des jeweiligen Fahrzeugs und dessen tatsächlichem Wert aufgrund des Einbaus einer Software ergäbe, in der die Daten über den Abgasausstoß manipuliert werden. Es sei daher davon auszugehen, dass sich der geltend gemachte Schaden erst zum Zeitpunkt des Erwerbs der fraglichen Fahrzeuge zu einem Preis verwirklicht habe, der über ihrem tatsächlichen Wert lag, auch wenn diese Fahrzeuge bereits beim Einbau der Software mit einem Mangel behaftet gewesen seien. Ein solcher Schaden, der vor dem Kauf des Fahrzeugs durch den geschädigten Endabnehmer nicht bestanden habe, sei ein Primärschaden und nicht bloß eine mittelbare Folge des ursprünglich von anderen Personen erlittenen Schadens. Es handle sich um keinen reinen Vermögensschaden, weil es um einen Mangel an Sachgütern gehe und der Schaden nicht nur die Verringerung der finanziellen Vermögenswerte einer Person ohne jeden Bezug zu Sachgütern betreffe (Rn 29 bis 35).

2. Der EuGH gelangt somit zum Ergebnis, dass bei Geltendmachung der Wertminderung (des Wertverlustes) aus dem Erwerb einer mangelhaften Sache (hier: eines mangelhaften Fahrzeugs) aufgrund einer Täuschungshandlung (hier: Verschweigen der Manipulation der Abgaswerte bzw eines wissentlichen Verstoßes gegen gesetzliche Vorschriften) der Primärschaden erst mit dem Erwerb der Sache durch den Geschädigten von einem Dritten eintritt, wobei es gleichgültig ist, ob der Dritte Händler oder privater Verkäufer (eines Gebrauchtwagens) ist. Ein solcher Schaden ist kein reiner Vermögensschaden.

3. Die nach dieser Entscheidung des EuGH für das Bestehen des Erfolgsorts im Sinn des Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 am Ort des Fahrzeugerwerbs durch den Geschädigten maßgebenden Tatbestandselemente sind auch im Anlassfall gegeben. Die Klägerin macht einen Schaden aus einem behaupteten Serienmangel an der von ihr erworbenen Sache geltend, der nach ihrem Vorbringen durch wissentliches Verheimlichen des Mangels und damit durch eine Täuschungshandlung beim Erwerb entstanden ist. Die Klage ist im Anlassfall zwar nicht auf die Wertminderung, also den Ausgleich des geringeren Werts der mangelhaften Sache gerichtet. Der geltend gemachte Schaden ist dem aber gleichzuhalten, weil der von der Klägerin nach ihren Behauptungen erlittene Wertverlust durch Rückzahlung des Kaufpreises und Rückgabe des Fahrzeugs ausgeglichen werden soll.

Daraus folgt, dass sich die Klägerin auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 am Erfolgsort in Österreich berufen kann. Die Entscheidung des Rekursgerichts hält der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof damit nicht Stand. Dem Revisionsrekurs der Klägerin war daher Folge zu geben und dem Erstgericht die Fortsetzung des gesetzmäßigen Verfahrens aufzutragen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50, 52 ZPO. Zur Frage der internationalen örtlichen Zuständigkeit liegt ein Zwischenstreit vor (RIS‑Justiz RS0109078 [T15]), in dem die Klägerin obsiegt hat.

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