OGH 10ObS41/20g

OGH10ObS41/20g28.7.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*****, Deutschland, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension und Rehabilitationsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 19. Dezember 2018, GZ 23 Rs 36/18t‑13, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 1. August 2018, GZ 42 Cgs 150/18b‑8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00041.20G.0728.000

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Strittig sind im Verfahren in erster Linie der Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld und die Frage, ob dieses zu exportieren ist. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19 (ECLI:EU:C:2020:177), über die ihm vom Obersten Gerichtshof im Verfahren 10 ObS 66/18f zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004 ), denen auch für das vorliegende Verfahren Bedeutung zukommt, entschieden. Das unterbrochene Revisionsverfahren (10 ObS 9/19z) wurde bereits mit Beschluss vom 26. 5. 2020 fortgesetzt.

[2] Der ***** 1964 geborene Kläger hat seinen Wohnsitz in Deutschland. Er erwarb in Österreich zwischen September 1980 und Dezember 1988 insgesamt 98 Versicherungsmonate, davon 84 Beitragsmonate der Pflichtversicherung und 14 Monate einer Ersatzzeit. Ab Jänner 1989 erwarb der Kläger in Österreich keine weiteren Versicherungsmonate mehr. Er lebt nach dem insofern nicht bestrittenen Vorbringen der Beklagten zumindest seit 1989 in Deutschland und erwarb dort 242 Versicherungsmonate.

[3] Der Kläger bezieht seit 1. 6. 2016 eine bis 31. 10. 2018 befristet gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente in Deutschland, deren Weitergewährung er bereits beantragt hat. Das diesbezügliche Verfahren war zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz (1. 8. 2018) noch nicht abgeschlossen.

[4] Mit Bescheid vom 23. 2. 2018 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 30. 11. 2015 auf Gewährung einer Invaliditätspension mangels Vorliegens dauerhafter Invalidität ab. Sie sprach gleichzeitig aus, dass beim Kläger vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten ab 1. 12. 2015 vorliege. Daher sei als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Es bestehe kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation. Es bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung.

[5] Mit seiner gegen diesen Bescheid eingebrachten Klage begehrte der Kläger ursprünglich die Zuerkennung einer Invaliditätspension, hilfsweise das Rehabilitationsgeld ab 1. 12. 2015. Nach Erörterung in der Verhandlung vom 1. 8. 2018 änderte der Kläger sein Begehren wie folgt:

„1. Es wird festgestellt, dass beim Kläger vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten ab 1. 12. 2015 vorliegt. Daher ist als Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Es besteht kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

Der Kläger hat Anspruch auf das Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung.

in eventu

2. Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe ab 1. 12. 2015 zu bezahlen.“

[6] Die Beklagte wandte dagegen vor allem ein, dass der Kläger seinen Wohnsitz in Deutschland habe, er sei auch in Deutschland krankenversichert. Der Kläger habe kein Naheverhältnis zum österreichischen System der sozialen Sicherheit. Es fehle daher an der Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von Rehabilitationsgeld. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass der Kläger Versicherungszeiten in Österreich erworben habe. Dauerhafte Invalidität liege beim Kläger nicht vor.

[7] Das Erstgericht stellte fest, dass beim Kläger ab 1. 12. 2015 Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten vorliege und als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten sei. Der Kläger habe ab 1. 12. 2015 Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß. Es bestehe kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation. Da beim Kläger vorübergehende Invalidität vorliege und das Hauptbegehren berechtigt sei, müsse über das Eventualbegehren nicht abgesprochen werden.

[8] Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Wie das Erstgericht bejahte es die Verpflichtung der Beklagten, das Rehabilitationsgeld aufgrund dessen Sondercharakters an der Schnittstelle zwischen Krankheit und Invalidität an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen. Das Rehabilitationsgeld sei Gegenleistung zu den in Österreich gezahlten Versicherungsbeiträgen. Die dadurch erworbene Vergünstigung dürfe nicht durch Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte eines Unionsbürgers verloren gehen. Daran ändere der Umstand nichts, dass der Kläger in Deutschland eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehe. Der Umstand, dass der Kläger die österreichischen Versicherungszeiten vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union erworben habe, sei irrelevant. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[9] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens auf Feststellung des Bestehens des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld begehrt.

[10] Der Kläger machte von der ihm vom Obersten Gerichtshof frei gestellten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, keinen Gebrauch.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

[12] Mit Beschluss vom 19. 12. 2018, AZ 10 ObS 66/18v, legte der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

„1. Ist das österreichische Rehabilitationsgeld nach den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

‑ als Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung oder

‑ als Leistung bei Invalidität nach Art 3 Abs 1 lit c der Verordnung oder

‑ als Leistung bei Arbeitslosigkeit nach Art 3 Abs 1 lit h der Verordnung

zu qualifizieren?

2. Ist die Verordnung (EG) Nr 883/2004 im Licht des Primärrechts dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat als ehemaliger Wohnstaat und Beschäftigungsstaat verpflichtet ist, Leistungen wie das österreichische Rehabilitationsgeld an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen, wenn diese Person den Großteil der Versicherungszeiten aus den Zweigen Krankheit und Pension als Beschäftigte in diesem anderen Mitgliedstaat (zeitlich nach der vor Jahren stattgefundenen Verlegung des Wohnsitzes dorthin) erworben hat und seitdem keine Leistungen aus der Kranken‑ und Pensionsversicherung des ehemaligen Wohn‑ und Beschäftigungsstaats bezogen hat?“

[13] Der EuGH hat diese Fragen in seinem schon erwähnten Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19, wie folgt beantwortet:

„1. Eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld stellt eine Leistung bei Krankheit im Sinn des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung dar.

2. Die Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgelds versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat.“

[14] Der EuGH stellte damit klar, dass die Klägerin im Verfahren 10 ObS 66/18f als nicht erwerbstätige Person unter Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 fällt. Sie unterliegt nach dieser Bestimmung ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats (in jenem Fall den deutschen Rechtsvorschriften). Nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat gehörte sie nicht mehr dem System der sozialen Sicherheit ihres Herkunftsstaats an (EuGH C‑135/19, Rn 50–52). Es besteht unter diesen konkreten Umständen keine Verpflichtung der Beklagten, Rehabilitationsgeld nach Deutschland zu exportieren (10 ObS 35/20z).

[15] Eine dem Verfahren 10 ObS 66/18f (= 10 ObS 35/20z) vergleichbare Situation liegt auch im hier zu entscheidenden Verfahren vor. Der Kläger lebt bereits seit etwa 1989 in Deutschland. Er ist nicht erwerbstätig und bezieht in Deutschland eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Er hat seine Erwerbstätigkeit in Österreich bereits vor vielen Jahren, nämlich im Dezember 1988 beendet und ist nicht mehr in der österreichischen Krankenversicherung versichert. Er hat nach den Verfahrensergebnissen den größten Teil seiner Versicherungszeiten in Deutschland zurückgelegt. Demnach fällt der Kläger unter Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 . Er unterliegt den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, daher im vorliegenden Fall den deutschen Rechtsvorschriften. Eine Verpflichtung Österreichs, Rehabilitationsgeld als eine Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 in einer solchen Situation nach Deutschland zu exportieren, besteht nicht.

[16] Der Kläger hatte am 1. 1. 2014 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet. Bei vorübergehender Invalidität hat der Pensionsversicherungsträger daher gemäß § 367 Abs 4 Z 1 ASVG festzustellen, ob ein Rechtsanspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation besteht und für welches Berufsfeld die versicherte Person durch diese Maßnahmen qualifiziert werden kann. Außerdem hat dieser Personenkreis gemäß § 253f ASVG unter den dort genannten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation (Sonntag in Sonntag, ASVG10 § 253e ASVG Rz 7).

[17] Durch die Klage, die ursprünglich auf Gewährung einer Invaliditätspension und hilfsweise auf Feststellung des Bestehens eines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung gerichtet war, ist der Bescheid in dem Umfang außer Kraft getreten, in dem er einerseits über den Anspruch auf Invaliditätspension und andererseits über den Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung (und die damit zusammenhängenden Voraussetzungen des Bestehens vorübergehender Invalidität von zumindest sechs Monaten und des Nichtbestehens eines Anspruchs auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation, §§ 255b iVm 254 Abs 1 Z 2 ASVG) absprach. Auch nach der späteren Änderung des Klagebegehrens blieb das Begehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension als Eventualbegehren aufrecht.

[18] Als unwiderruflich anerkannt gilt (lediglich) die Leistungsverpflichtung (§ 71 Abs 2 ASGG), dem Kläger aufgrund des Vorliegens vorübergehender Invalidität von zumindest sechs Monaten medizinische Maßnahmen der Rehabilitation zu gewähren (§ 253f ASVG). Nicht angefochten ist weiters die Ablehnung des Anspruchs des Klägers auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation (§ 253e ASVG). Dies ist allerdings gemäß § 254 Abs 1 Z 2 ASVG auch Anspruchsvoraussetzung für die Zuerkennung einer Invaliditätspension.

[19] Da dem Hauptbegehren auf Feststellung des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung keine Berechtigung zukommt, ist über das Eventualbegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension zu entscheiden. Dafür reicht jedoch die bisherige Feststellungsgrundlage nicht aus:

[20] Anspruch auf Invaliditätspension hat der Versicherte ua, wenn die Invalidität (§ 255 ASVG) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 254 Abs 1 Z 1 ASVG). Entscheidend für die Frage der Verweisbarkeit des Versicherten ist die aufgrund des medizinischen Leistungskalküls getroffene Feststellung, in welchem Umfang er im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt ist bzw welche Tätigkeiten er noch ausführen kann. Die von den Sachverständigen erhobene Diagnose bildet (nur) die Grundlage für das von ihnen zu erstellende Leistungskalkül, das wiederum die Basis für die Feststellungen bildet. Wesentlich ist daher die Feststellung des (zusammenfassenden medizinischen) Leistungskalküls (vgl RS0084399; RS0084398).

[21] Derartige Feststellungen hat das Erstgericht, ausgehend von seiner Rechtsansicht, der Hauptanspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld sei zu bejahen, bisher noch nicht getroffen. Bei der in den Feststellungen enthaltenen Ausführung, beim Kläger liege „seit 1. 12. 2015 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten vor“, handelt es sich inhaltlich um eine rechtliche Beurteilung.

[22] Es war daher der Revision Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung über das Eventualbegehren an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[23] Der Kostenvorbehalt beruht auf den § 2 ASGG, § 52 ZPO.

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