OGH 14Os73/19w

OGH14Os73/19w7.10.2019

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Oktober 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Dr. Bachner‑Foregger, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Setz‑Hummel in Gegenwart des Schriftführers Bodinger in der Strafsache gegen Angelo D***** wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 21. Februar 2019, GZ 111 Hv 73/18w‑27, weiters über den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0140OS00073.19W.1007.000

 

Spruch:

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde wird bewilligt.

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Strafverfahrens zur Last.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Angelo D***** – soweit hier von Bedeutung – des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 2 (iVm Abs 1 erster Fall) StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 9. April 2018 in W***** einen Beamten, nämlich den gemäß § 50 VStG zur Ahndung von Verwaltungsübertretungen befugten Herbert K*****, mit Gewalt und durch gefährliche Drohung zu einer Amtshandlung, nämlich zur „Löschung der Organstrafverfügung nach § 4 Parkometergesetz 2006“ (Wiener LGBl 2007/33) zu nötigen versucht, indem er K***** am Hals packen und würgen wollte und zu ihm sagte: „Es könnte gefährlich werden, wenn du die Anzeige nicht sofort löscht.“

 

Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:

Der Angeklagte meldete unmittelbar im Anschluss an die Verkündung des Urteils Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (ON 26 S 7).

Die schriftliche Urteilsausfertigung wurde seinem Verteidiger am 10. April 2019 zugestellt (ON 1 S 7). Dieser brachte am 7. Mai 2019 im elektronischen Rechtsverkehr einen auf dem Deckblatt als „Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung“ bezeichneten Schriftsatz ein, der jedoch (im Anhang) lediglich eine „Berufung wegen Strafe“ enthielt (ON 32).

Am 10. Mai 2019 – also nach Ablauf der vierwöchigen Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde (§ 285 Abs 1 StPO) – langte ein weiterer Schriftsatz mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung dieser Frist und mit der Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde beim Erstgericht ein (ON 33).

Nach dem Antragsvorbringen habe ein beim Verteidiger beschäftigter Rechtsanwaltsanwärter die Berufung wegen Strafe konzipiert. Diese habe der Verteidiger überarbeitet und um die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde ergänzt. Der Rechtsanwaltsanwärter habe auftragsgemäß beide Rechtsmittelausführungen in einem Dokument „zusammengefasst“, welches der Verteidiger überprüft und zur Übermittlung im ERV freigegeben habe. Der Rechtsanwaltsanwärter habe jedoch „versehentlich den Erstentwurf“ als Beilage im ERV eingebracht. Über telefonische Nachfrage des Erstgerichts vom 9. Mai 2019, ob „auf die Nichtigkeitsbeschwerde verzichtet wurde“, sei der Verteidiger auf den Fehler, der umgehend behoben worden sei, aufmerksam geworden. Bei dem Rechtsanwaltsanwärter handle es sich „um einen sehr zuverlässigen juristischen Mitarbeiter“, dem „noch nie ein derartiger oder ähnlicher Fehler unterlaufen“ sei, weshalb der Verteidiger „das volle Vertrauen in die Genauigkeit seiner Arbeit“ gehabt habe. Im „Prozessakt“ des Verteidigers sei die „Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung als eingebracht“ eingelegen.

Der Wiedereinsetzungswerber hat nicht nur für eigenes Verschulden, sondern auch für das seines Rechtsvertreters einzustehen. Irrtümer und Fehler von Kanzleiangestellten des Verteidigers sind diesem zuzurechnen, wobei die Rechtsprechung unter diesem Aspekt Rechtsanwaltsanwärter und Kanzleiangestellte gleichsetzt (RIS‑Justiz RS0101329 [insb T16]; Lewisch , WK‑StPO § 364 Rz 36).

Ein einmaliges Versehen eines sonst verlässlichen, entsprechend ausgebildeten Rechtsanwaltsanwärters stellt ein unvorhersehbares oder unabwendbares Ereignis im Sinn des § 364 Abs 1 Z 1 StPO dar, wenn – wie hier – weder dem Angeklagten noch dem Verteidiger (bei diesem etwa in Form eines Organisationsverschuldens) ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt (RIS‑Justiz RS0101310 [insb T7]).

Da die Wiedereinsetzung innerhalb von 14 Tagen nach dem Aufhören des Hindernisses beantragt und die versäumte schriftliche Verfahrenshandlung zugleich mit dem Antrag nachgeholt wurde (§ 364 Abs 1 Z 2 und 3 StPO), war die Wiedereinsetzung zu bewilligen.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde:

Diese stützt sich ausschließlich auf die Z 5 des § 281 Abs 1 StPO. Sie ist nicht im Recht.

Dem Einwand der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) zuwider hat das Erstgericht die Aussage des Zeugen K***** ohnehin erörtert (US 4 f und 6 f). Indem die Beschwerde dessen Glaubwürdigkeit durch Verweis auf einzelne – zudem nicht erhebliche – Aussagedetails in Frage stellt, bekämpft sie bloß die tatrichterliche Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung.

Aktenwidrigkeit (Z 5 fünfter Fall) begründet nur die erheblich unrichtige Wiedergabe des Inhalts eines Beweismittels (RIS‑Justiz RS0099431). Eine solche behauptet die Kritik an einer Urteilspassage, welche einen Zeugen als „Bekannten“ des Beschwerdeführers bezeichnet, gar nicht.

Für die Erheblichkeit der unrichtigen Wiedergabe ist nicht das Ausmaß der Abweichung, sondern deren Bedeutung für die Beweiswürdigung relevant ( Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 466). In diesem Sinn ist es ohne Belang, ob der Beschwerdeführer bei seiner Vernehmung vor der Kriminalpolizei bloß die Existenz eines Alibizeugen angegeben (so die Verantwortung des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung [ON 15 S 4]) oder dabei auch dessen Namen erwähnt habe (so US 5 bei der Wiedergabe dieser Aussage).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen (§ 285i StPO).

Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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