European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0020OB00048.19A.0725.000
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:
„1. Die Klagsforderung besteht mit 4.126,67 EUR zu Recht.
2. Die eingewendete Gegenforderung besteht mit 250 EUR zu Recht.
3. Die beklagte Partei ist daher schuldig, der klagenden Partei 3.876,67 EUR samt 4 % Zinsen seit 22. 9. 2017 binnen 14 Tagen zu bezahlen.
4. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 2.313,33 EUR samt 4 % Zinsen seit 22. 9. 2017 zu bezahlen, wird abgewiesen.
5. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 997,62 EUR (darin 97,28 EUR USt und 413,96 EUR Barauslagen) bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 75,69 EUR (Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 31. 7. 2017 ereignete sich bei Tageslicht und trockener Fahrbahn auf dem Währinger Gürtel in Wien ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter seines Pkw, Z***** N***** als Lenker eines bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Lkw und ein abgestelltes Taxi beteiligt waren.
Die als Einbahn geführte Fahrbahn beschreibt vor der Kollisionsstelle eine Linkskurve mit vier etwa 3 m breiten Fahrstreifen. Zur Unfallszeit herrschte flüssiges Verkehrsaufkommen. Der Kläger fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca 40 km/h auf dem äußerst rechten Fahrstreifen. Er hielt zu seinem Vorderfahrzeug einen Tiefenabstand von rund 25 m ein. Beide Fahrzeuge näherten sich einem Taxifahrzeug, das in dem von ihnen benützten Fahrstreifen abgestellt war. Ca 14 m hinter dem Taxi war ein Pannendreieck aufgestellt. Als an dem dem Kläger voranfahrenden Fahrzeug der linke Blinker betätigt wurde, blickte auch der Kläger in den linken Außenspiegel und setzte ebenfalls den linken Blinker. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Beklagtenfahrzeug im zweiten Fahrstreifen von rechts etwa 6 m hinter dem Klagsfahrzeug. Die Fahrgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs konnte das Erstgericht nicht feststellen. Der Kläger war ca 40 m von dem stehenden Taxi entfernt, als er es erstmals wahrnahm. Zu diesem Zeitpunkt hatte das vor dem Kläger fahrende Fahrzeug bereits in den linken Fahrstreifen gewechselt. In diesem fuhr ein weiteres Fahrzeug mit etwa derselben Geschwindigkeit wie der Kläger, wobei das Heck dieses Fahrzeugs ca 4 m von der Front des Klagsfahrzeugs entfernt war. Der Kläger wollte nunmehr hinter diesem Fahrzeug ebenfalls auf diesen Fahrstreifen wechseln und blickte in den linken Außenspiegel. Das Beklagtenfahrzeug befand sich zu diesem Zeitpunkt im zweiten Fahrstreifen von rechts hinter dem Klagsfahrzeug, wobei weder die Entfernung zum Klagsfahrzeug noch die Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs festgestellt werden konnte. Der Kläger begann, als er sich etwa 20 m hinter dem Taxi befand, nach links zu lenken, in der Annahme, das Beklagtenfahrzeug sei weit genug entfernt. Nach etwa 1,5 Sekunden, als er sich ca mit der Hälfte seines Fahrzeugs bereits auf dem vom Beklagtenfahrzeug benutzten Fahrstreifen befand, kam es zur Kollision in Form eines streifenden Kontakts zwischen dem Beklagtenfahrzeug und der linken hinteren Seite des Klagsfahrzeugs. In der Folge kollidierte das Klagsfahrzeug auch mit dem Taxi. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs, der während der Kurvenfahrt in den linken Außenspiegel geblickt hatte, um in seinem Fahrstreifen zu bleiben, wurde durch den Kontakt mit dem Klagsfahrzeug überrascht. Er hätte dem Kläger bei gehöriger Aufmerksamkeit und Durchführung einer Betriebsbremsung das kollisionsfreie Einordnen in den zweiten Fahrstreifen von rechts ermöglichen können.
Der Kläger begehrt den Ersatz seines der Höhe nach außer Streit stehenden Schadens von insgesamt 6.190 EUR sA. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Lenker des Beklagtenfahrzeugs. Dieser habe dem aufgrund des Reißverschlusssystems bevorrangten Kläger den rechtzeitig angekündigten Fahrstreifenwechsel nicht ermöglicht. Er habe das Klagsfahrzeug übersehen oder einen vermeintlichen „Spurvorrang“ erzwingen wollen.
Die beklagte Partei wendete ein, den Kläger treffe das alleinige Verschulden am Verkehrsunfall, weil er entweder einen Fahrstreifenwechsel erzwingen habe wollen und sich nicht vergewissert habe, ob dies ohne Gefährdung und Behinderung eines anderen Fahrzeugs möglich sei, oder weil er das Beklagtenfahrzeug übersehen habe. Am Beklagtenfahrzeug sei ein Schaden von 2.062,50 EUR entstanden, der von der Vollkaskoversicherung bezahlt worden sei. Einer allenfalls zu Recht bestehenden Klagsforderung hielt die beklagte Partei eine an sie zedierte Schadenersatzforderung von 250 EUR (Selbstbehalt nach Deckung des Schadens am Beklagtenfahrzeug aus der Vollkaskoversicherung) compensando entgegen. Die Höhe des Fahrzeugschadens und des Selbstbehalts sind unstrittig.
Das Erstgericht stellte die Klagsforderung als zur Gänze zu Recht bestehend, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend fest und gab dem Klagebegehren statt. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs habe wegen eines Aufmerksamkeitsmangels den dem Kläger gemäß § 11 Abs 5 StVO zustehenden Vorrang verletzt, weshalb ihn das Alleinverschulden am Unfall treffe.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.
Es sei von einem Kolonnenverkehr iSd § 11 Abs 5 StVO auszugehen. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs wäre daher verpflichtet gewesen, dem Kläger im Sinne des dort normierten Reißverschlusssystems den Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen. § 11 Abs 1 StVO sei in diesem Zusammenhang einschränkend dahin auszulegen, dass der nach § 11 Abs 5 StVO zum Fahrstreifenwechsel Berechtigte auf sein Vorfahrtsrecht nicht rücksichtslos bestehen bzw seine Vorfahrt nicht erzwingen dürfe. Dies wäre dann der Fall, wenn der Fahrstreifenwechsel so erfolge, dass der andere Straßenbenützer mit einer Notbremsung reagieren müsse, was im vorliegenden Fall aber nicht geschehen sei.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, dass ausreichende Judikatur des Obersten Gerichtshofs zum Verhältnis zwischen § 11 Abs 1 und § 11 Abs 5 StVO fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig. Sie ist auch teilweise berechtigt.
Die beklagte Partei macht geltend, es sei von keinem relevanten Kolonnenverkehr iSd § 11 Abs 5 StVO auszugehen. Selbst im Anwendungsbereich dieser Bestimmung müsse immer auch das Gebot des § 11 Abs 1 StVO beachtet werden. Der Kläger habe die Beobachtung des Nachfolgeverkehrs im zweiten Fahrstreifen von rechts vermissen lassen und sich nicht überzeugt, dass ihm der Lenker des Beklagtenfahrzeugs tatsächlich den Fahrstreifenwechsel ermögliche. Ihn treffe daher das Alleinverschulden am Unfall, weil er einen unzulässigen Fahrstreifenwechsel durchgeführt habe.
Hiezu wurde erwogen:
1. Reißverschlusssystem:
1.1 Gemäß § 11 Abs 5 StVO ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Wechsel auf den zunächst gelegenen verbleibenden Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass diese Fahrzeuge jeweils im Wechsel einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug nachfolgen können, wenn auf Straßen mit mehr als einem Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder nicht zulässig ist oder ein Fahrstreifen endet (Reißverschlusssystem).
1.2 Die Anwendbarkeit des Reißverschlusssystems setzt Kolonnenverkehr voraus, wobei bereits je zwei Fahrzeuge genügen (RS0119625). In den Feststellungen des Erstgerichts sind das Klags‑ und das Beklagtenfahrzeug erwähnt sowie die jeweils vor diesen fahrenden Fahrzeuge. Es lag daher Kolonnenverkehr iSd § 11 Abs 5 StVO vor. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hätte somit dem Kläger den Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen gehabt. Ihm liegt zur Last, dass er dieser Verpflichtung nicht nachkam, weil er das Verkehrsgeschehen vor sich nicht ausreichend beobachtet und den Fahrstreifenwechsel des Klägers gar nicht wahrgenommen hat. Dies haben die Vorinstanzen richtig erkannt.
2. Fahrstreifenwechsel:
2.1 Gemäß § 11 Abs 1 StVO darf der Lenker eines Fahrzeugs die Fahrtrichtung nur ändern oder den Fahrstreifen wechseln, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist.
Eine solche Behinderung liegt bereits dann vor, wenn ein nachkommendes Fahrzeug zum Bremsen oder Auslenken genötigt wird (2 Ob 218/18z; RS0074341). Die Pflicht, sich von der Gefahrlosigkeit des beabsichtigten Fahrstreifenwechsels zu überzeugen, besteht unabhängig davon, ob sich die bei Bedachtnahme auf alle gegebenen Möglichkeiten in Betracht kommenden Verkehrsteilnehmer ihrerseits richtig verhalten oder nicht (RS0073714).
2.2 Da durch die Einführung des § 11 Abs 5 StVO mit der 10. StVO‑Novelle (BGBl 1983/174) die übrigen Bestimmungen des § 11 StVO unverändert blieben, entbindet diese Regelung den vom blockierten Fahrstreifen auf den freien Fahrstreifen wechselnden Lenker nicht von den Pflichten nach § 11 Abs 1 StVO (VwGH 96/03/0016; Pürstl StVO 14 § 11 Anm 16; Dittrich/Stolzlechner , StVO³ [1992] § 11 Rz 125; H. Haupfleisch , Die 10. StVO‑Novelle – Eine kritische Betrachtung [Teil 5], ZVR 1993, 259 [260]; aA noch Grundtner , Reißverschlusssystem, ZVR 1985, 35 [36]). Ein solcher Lenker hat sich insbesondere zu überzeugen, ob der auf dem durchgehend befahrbaren Fahrstreifen Fahrende ihm das Einordnen ermöglicht. Ist Letzteres nicht der Fall, darf er den Fahrstreifen nicht wechseln (idS auch Dittrich/Stolzlechner , StVO³ § 11 Rz 125; H. Haupfleisch ZVR 1983, 259 [260]; im Ergebnis ähnlich: Grundtner ZVR 1985, 35 [36]; zur vergleichbaren deutschen Rechtslage König/Dauer , Straßenverkehrsrecht 45 [2019] § 7 StVO Rn 20).
2.3 Im vorliegenden Fall ereignete sich die Kollision in Form eines streifenden Kontakts bereits 1,5 Sekunden nach Beginn des Linkszugs des Klagsfahrzeugs. Dies indiziert, dass der Kläger sich nicht ausreichend davon überzeugt hatte, ob der Lenker des Beklagtenfahrzeugs ihm den Fahrstreifenwechsel ermöglichen werde (vgl 2 Ob 218/18z), zumal das Beklagtenfahrzeug schon bei Setzen des linken Blinkers durch den Kläger nur 6 m entfernt war und dessen Lenker die Kollision nur mit einem Bremsmanöver hätte verhindern können. Auch den Kläger trifft daher ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls.
3. Verschuldensabwägung:
3.1 Bei der Aufteilung des Verschuldens entscheidet vor allem der Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften für die Sicherheit des Verkehrs im Allgemeinen und im konkreten Fall (2 Ob 212/13k; RS0027389; RS0026861).
3.2 Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs ist seiner in § 11 Abs 5 StVO verankerten Verpflichtung, dem Kläger einen Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen, nicht nachgekommen. Er hat das Verkehrsgeschehen vor seinem Fahrzeug nicht beobachtet, was nur mit grober Unaufmerksamkeit erklärbar ist. Demgegenüber hat der Kläger zwar zweimal in den Rückspiegel geblickt, dabei aber die Möglichkeit eines Fahrstreifenwechsels unrichtig eingeschätzt. Auch er hat daher aufgrund des nur 1,5 Sekunden vor dem Eintreffen des Beklagtenfahrzeugs durchgeführten Fahrstreifenwechsels eine gefährliche Fahrweise zu verantworten, die gegen § 11 Abs 1 StVO verstieß. Bei Gegenüberstellung des beiderseitigen Fehlverhaltens ist angesichts der konkreten Umstände des Falles eine Verschuldensteilung von 1:2 zu Lasten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs angemessen.
4. In teilweiser Stattgebung der Revision ist die angefochtene Entscheidung daher in diesem Sinne abzuändern. Hiebei war zu berücksichtigen, dass als Gegenforderung nur der Selbstbehalt aus der Vollkaskoversicherung des Beklagtenfahrzeugs (nach Begleichung der Reparaturkosten durch den Kaskoversicherer) eingewendet wurde. Dieser findet in der von den gesamten Reparaturkosten zu berechnenden Ersatzquote jedenfalls Deckung. Nach der herrschenden Differenztheorie (Quotenvorrecht des Versicherungsnehmers) ist der Selbstbehalt somit zur Gänze zur Aufrechnung heranzuziehen (2 Ob 119/08a; RS0081384).
5. Die Kostenentscheidung des erstinstanzlichen Verfahrens gründet sich auf § 43 Abs 1 ZPO, jene des Rechtsmittelverfahrens auf § 50 Abs 1 iVm § 43 Abs 1 ZPO, jeweils ausgehend von einer 63%igen Obsiegensquote der klagenden Partei.
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