OGH 8Nc11/19p

OGH8Nc11/19p2.5.2019

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. 

Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. L***** V*****, und 2. S***** V***** (Mutter: P***** V*****, vormals B*****, MA, vertreten durch Kosch & Partner Rechtsanwälte GmbH in Eisenstadt; Vater: Ing. Mag. M***** V*****; Antragsteller: T***** B*****, vertreten durch Mag. Johannes Bügler, Rechtsanwalt in Wien), wegen Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0080NC00011.19P.0502.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts E***** vom 21. Dezember 2018, GZ 21 Ps 79/18p‑57 (neu 21 Ps 24/19a‑57), gemäß § 111 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht S***** wird genehmigt.

 

Begründung:

T***** B***** und die Kindesmutter schlossen im Jahr 2008 die Ehe. 2012 wurde L*****, 2014 S***** geboren. Mit in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom 20. 11. 2017 wurde festgestellt, dass L***** und S***** nicht von T***** B***** abstammen. Ing. Mag. V***** anerkannte am 12. 9. 2018 die Vaterschaft zu beiden Kindern. Die Eltern vereinbarten am selben Tag vor der Personenstandsbehörde die gemeinsame Obsorge gemäß § 177 Abs 2 ABGB (iVm § 67 Abs 5 PStG).

Die Kindesmutter wohnte nach der Trennung von T***** B***** mit den Kindern zunächst im Sprengel des Bezirksgerichts E*****.

T***** B***** beantragte am 14. 12. 2017 beim Bezirksgericht E***** ein Kontaktrecht bestimmten Ausmaßes. Er habe mit den Kindern seit ihrer Geburt bis zu seiner Trennung von der Kindesmutter wie ein leiblicher Vater zusammengelebt und sie großgezogen, weshalb er deren „sozialer Vater“ sei.

Die Kindesmutter trat dem Kontaktrechtsantrag entgegen. T***** B***** habe seit ihrem Auszug mit den beiden Kindern im Sommer 2017 jeglichen Kontakt zu den Kindern verweigert bzw keinerlei Kontaktversuche unternommen. Er habe deren körperliche Sicherheit des öfteren massiv gefährdet und der Kindesmutter wiederholt mitgeteilt, dass er sie „über die Kinder vernichten werde“. In weiterer Folge äußerte die Kindesmutter zudem den Verdacht des sexuellen Missbrauchs von L***** durch T***** B*****.

T***** B***** wies die wider ihn erhobenen Vorwürfe wiederholt zurück.

Mit Schreiben vom 29. 8. 2018 teilte die Kindesmutter mit, mit den Kindern nach S***** gezogen zu sein, legte Meldebestätigungen vor und beantragte am 12. 9. 2018, die Rechtssache dem Bezirksgericht S***** zu überweisen. Diesen Antrag wiederholte sie mit Schriftsatz vom 17. 9. 2018, wobei sie mitteilte, die „gesamte Familie“ habe nunmehr in S***** ihren neuen Mittelpunkt begründet und die Kinder seien dort auch bereits in einem Kindergarten angemeldet.

Mit Schreiben vom 14. 9. 2018 ersuchte auch der Kindesvater „um korrekte Behandlung und Weiterleitung“ des Aktes an das Bezirksgericht S*****. Für ihn und die Kindesmutter werde es mit zwei kleinen Kindern, zumal Hin- und Rückfahrt ca acht Stunden dauerten, nicht möglich sein, an Verhandlungen in E***** teilzunehmen. Hauptwohnsitz sei nunmehr S*****. Die Kinder würden dort ab Oktober 2018 in den Kindergarten gehen und seien dort auch bereits für die Volksschule angemeldet. Der Kindesvater ersuchte, ihn als nunmehr weitere Partei im Verfahren nicht zu übergehen, und erhob seinerseits Vorwürfe gegen T***** B*****.

Das Verfahren wurde in E***** von Richterin Mag. B***** geführt. Nach Vorliegen von Stellungnahmen der Bezirkshauptmannschaft E***** (Kinder- und Jugendhilfeträger) und der Familiengerichtshilfe E***** fand am 13. 9. 2018 erstmals eine Tagsatzung statt, zu der aber allein T***** B***** erschien. Dieser wurde von Mag. B***** einvernommen. Ansonsten führte Mag. B***** keine unmittelbare Beweisaufnahme durch. T***** B***** sprach sich in der Tagsatzung gegen die Überweisung an das Bezirksgericht S***** aus.

Das Bezirksgericht E***** räumte mit Beschluss vom 18. 9. 2018 T***** B***** vorläufig ein begleitetes Kontaktrecht näher bestimmten Ausmaßes zu den beiden Kindern ein. Es sei lediglich eine vorläufige Entscheidung zu treffen gewesen, weil im weiteren Verfahren ein ausführliches Sachverständigengutachten einzuholen und die weitere Entwicklung nach Anbahnung der Kontakte abzuwarten sein werde. Ein von der Kindesmutter gegen diese Entscheidung erhobener Rekurs hatte keinen Erfolg.

Im Beschluss vom 18. 9. 2018 hatte das Bezirksgericht E***** den aktuellen Aufenthalt der Kinder als „nach der Aktenlage ungewiss“ erachtet. Anschließende Erhebungen des Bezirksgerichts E***** sowie eigene Wahrnehmungen der Richterin über den tatsächlichen Aufenthalt der Kinder ergaben, dass diese jedenfalls seit Anfang Oktober 2018 nicht mehr den Kindergarten im Sprengel besuchten.

Das Bezirksgericht E***** übertrug hierauf mit Beschluss vom 21. 12. 2018 mit der Begründung, die Kinder hielten sich jetzt ständig in S***** auf, gemäß § 111 Abs 1 JN die Zuständigkeit auf dieses Bezirksgericht. Es sei zweckmäßiger, wenn das Bezirksgericht S***** die Pflegschaftssache führe.

Das Bezirksgericht S***** verweigerte am 11. 2. 2019 die Übernahme iSd § 111 Abs 2 2. Satz JN. Die Zuständigkeitsübertragung sei grundsätzlich ein Ausnahmefall, der voraussetze, dass das Gericht, dem die Zuständigkeit übertragen werde, eindeutig besser in der Lage sei, die pflegschaftsbehördlichen Agenden zu besorgen. Eine Zuständigkeitsübertragung komme in der Regel erst dann in Betracht, wenn keine unerledigten Anträge offen seien. Die Zuständigkeitsübertragung sei unzweckmäßig, wenn das übertragende Gericht durch unmittelbare Einvernahme der maßgeblichen Personen einen Eindruck gewonnen habe. Da sich das Bezirksgericht E***** bereits umfänglich mit der familiären Situation der Minderjährigen auseinandergesetzt und das Bezirksgericht S***** bisher mit dem Fall nichts zu tun gehabt habe, sei nicht ersichtlich, weshalb dieses eher in der Lage sein solle, den noch offenen Kontaktrechtsantrag zu erledigen, sodass die Zuständigkeitsübertragung unzweckmäßig scheine.

Das Bezirksgericht E***** legte den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über den Zuständigkeitskonflikt nach § 111 Abs 2 2. Satz JN mit dem Hinweis vor, dass Richterin Mag. B***** nicht mehr am Bezirksgericht E***** tätig ist.

Die Übertragung ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Die Übertragung der Zuständigkeit an ein anderes Gericht nach § 111 Abs 1 JN setzt voraus, dass dies im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen erscheint. Das trifft dann zu, wenn dadurch die wirksame Handhabung des dem Pflegebefohlenen zugedachten Schutzes voraussichtlich gefördert wird (RIS‑Justiz RS0046929 [T1]). Die Bestimmung nimmt darauf Bedacht, dass ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Pflegebefohlenen in der Regel zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung ist. Die Pflegschaftsaufgaben sollen daher grundsätzlich von jenem Gericht wahrgenommen werden, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung liegt (RS0049144, RS0047027 [T10]). Offenkundig ist der gemeinsame Lebensmittelpunkt der Kinder (und ihrer obsorgeberechtigten Eltern) nunmehr S*****.

2. Offene Anträge sprechen nicht grundsätzlich gegen eine Zuständigkeitsübertragung (RS0047027 [T8]; RS0046895; RS0046929 [T3]). Es kann aber eine Sachbearbeitung durch das bisher zuständige Gericht etwa wegen besonderer Sachkenntnisse, eines stärkeren Sachbezugs oder schon durchgeführter, insbesondere unmittelbarer Beweisaufnahmen unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls vorteilhafter sein (RS0047032 [T5a]). Von diesen Ausnahmen käme hier allein jene der unmittelbaren Beweisaufnahme in Betracht. Es hat aber das übertragende Gericht mit Ausnahme der Einvernahme von T***** B***** keine unmittelbaren Beweisaufnahmen durchgeführt. Zudem ist Richterin Mag. B*****, die bisher das Verfahren am übertragenden Gericht führte und T***** B***** einvernahm, am übertragenden Gericht nicht mehr tätig. Mit einem Verbleib der Rechtssache am übertragenden Gericht ginge damit für die Entscheidung über den Kontaktrechtsantrag keinerlei Vorteil einher. Die Übertragung ist daher vom Obersten Gerichtshof als dem den beiden Gerichten zunächst übergeordnetes Gericht gemäß § 111 Abs 2 JN zu genehmigen.

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