OGH 9Ob9/19t

OGH9Ob9/19t27.2.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Hon.‑Prof. Dr. Dehn, den Hofrat Dr. Hargassner, die Hofrätin Mag. Korn und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M* T*, vertreten durch Mag. Jürgen Nagel, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen die beklagte Partei Mi* T*, vertreten durch Mag. Christoph Dorner, Rechtsanwalt in Bregenz, wegen Unterhalt, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Berufungsgericht vom 16. Oktober 2018, GZ 3 R 200/18m‑83, mit dem das (richtig) Endurteil des Bezirksgerichts Dornbirn vom 19. Juni 2018, GZ 1 C 49/15t‑75, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E124665

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

Die Ehe der Streitteile wurde im Jahr 2007 aus dem alleinigen Verschulden des Beklagten geschieden. Die Streitteile sind Eltern eines 1981 geborenen behinderten Sohnes. Die 1951 geborene Klägerin wurde mit Beschluss vom 9. 5. 2008 zur Sachwalterin des Sohnes für alle Angelegenheiten (§ 268 Abs 2 Z 3 ABGB aF) bestellt. Der Sohn wird teilweise über die Lebenshilfe, teilweise durch die Klägerin, die sich in Pension befindet und mit der er gemeinsam in einer Mietwohnung wohnt, betreut.

Das Pflegegeld des Sohnes in Höhe von ca 860 EUR wird zumindest seit Jänner 2017 an die Klägerin überwiesen. Ob diese davor auch schon Pflegegeld bezogen hat, lässt sich nicht feststellen. Neben den Unterhaltsleistungen in Höhe von 274,94 EUR durch den Beklagten bezieht der Sohn noch Familienbeihilfe in Höhe von 373,30 EUR pro Monat. Die Behandlungskosten für die Teilnahme an einer Rehabilitationsbehandlung in der Ukraine im Herbst 2016 betrugen 5.532 EUR. Für die Anschaffung eines Computers sind 760 EUR angefallen, für ein Auto 16.400 EUR, für NOVA 3.896,98 EUR, für ein Rollmobil 168 EUR und 144 EUR, für eine Brille 389,21 EUR, für ein Therapierad 1.174 EUR, für 10 Bewegungstherapien 486,70 EUR und für Reitstunden 109,49 EUR. Für den Aufenthalt in der Lebenshilfe fallen 310 EUR pro Monat an. Jeden zweiten Monat braucht der Sohn neue Schuhe. Im Herbst 2017 absolvierte er eine Sonderbehandlung in der Ukraine, wofür 6.344 EUR zu bezahlen waren.

Die Klägerin verkaufte zwei Liegenschaften und eine Wohnung und verwendete die Erlöse notwendigerweise zur Bestreitung ihres eigenen Unterhalts und jenen des Sohnes.

Zwischen den Parteien ist strittig, ob das Pflegegeld, welches zumindest seit Jänner 2017 an die Klägerin überwiesen wird, als Eigeneinkommen der Klägerin iSd § 66 EheG zu werten ist und damit ihren Unterhaltsanspruch gegenüber dem Beklagten mindert.

Das Erstgericht wies die Klage großteils ab. Allein die Kosten für die Lebenshilfe von monatlich 310 EUR seien Betreuungs- bzw Pflegeleistungen, nicht hingegen die übrigen Leistungen, die mit dem Pflegegeld finanziert würden, wie Therapien, Computer, Fahrrad usw. Damit stelle der verbleibende Pflegegeldbetrag in Höhe von 550 EUR ein Eigeneinkommen der Klägerin dar.

Das Berufungsgericht änderte das Urteil teilweise zugunsten der Klägerin ab. Die Klägerin habe über ihre gesetzliche Verpflichtung hinaus Pflegeleistungen für den Sohn erbracht und erkennbar auf die Verwendung des Pflegegeldes für eigene Bedürfnisse verzichtet. Mit dem vom Sohn bezogenen Pflegegeld seien die mit seiner Behandlung verbundenen Ausgaben im Zusammenhang mit der Pflege nicht zur Gänze abdeckbar gewesen. Das Pflegegeld habe daher bei der Ermittlung des Eigeneinkommens der Klägerin zur Gänze unberücksichtigt zu bleiben.

In der zugelassenen Revision releviert der Beklagte ein Abweichen des Berufungsgerichts vom Rechtssatz RIS‑Justiz RS0123117 sowie dass die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts nicht von den erstgerichtlichen Feststellungen gedeckt sei. Dass die Klägerin „erkennbar auf die Verwendung des Pflegegelds für eigene Bedürfnisse verzichtet“, finde keine Grundlage in den erstgerichtlichen Feststellungen, wie auch nicht feststehe, ob die Klägerin über ihre gesetzliche Verpflichtung hinaus Pflegeleistungen für ihren Sohn erbringe. Bei Anschaffungskosten für Computer, PKW usw handle es sich um keine „notwendigen Fremdleistungen“ im Sinne des genannten Rechtssatzes.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruch unzulässig. Die Begründung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

1.1. Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen (§ 1 BPGG). Es liegt grundsätzlich in der Hand des Pflegebedürftigen zu entscheiden, für welche Pflegeleistungen er das Pflegegeld zweckentsprechend verwendet (10 ObS 121/07b Pkt 2.3).

1.2. Das Pflegegeld wird an den Anspruchsberechtigten ausgezahlt. Ist der Anspruchsberechtigte geschäftsunfähig oder nur beschränkt geschäftsfähig, so ist das Pflegegeld dem gesetzlichen Vertreter auszuzahlen. Ist für einen Anspruchsberechtigten ein Sachwalter bestellt, so ist diesem das Pflegegeld auszuzahlen, wenn die Angelegenheiten, mit deren Besorgung er betraut worden ist, die Empfangnahme dieser Leistung umfassen (§ 18 BPGG idF BGBl I 2013/3). § 18 BPGG geht– auch in der ab 1. 7. 2018 geltenden Fassung des ErwSchAG BMASGK (BGB1 I 2018/59) – klar von der Empfangszuständigkeit des gesetzlichen Vertreters aus (Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht2 [2018] Rz 757 f).

1.3. Die Klägerin war im entscheidungsrelevanten Zeitraum Sachwalterin des Sohnes für alle Angelegenheiten. Ihr wurde demnach das Pflegegeld als Sachwalterin überwiesen (vgl Gruber/Pallinger, Kommentar zum BPGG [1994] § 18 Rz 3).

2. Zur Tatfrage gehört die Feststellung der den Sachverhalt bildenden Tatsachen einschließlich aller Schlussfolgerungen (RIS‑Justiz RS0111996). Das Berufungsgericht kann ohne Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes aus erstinstanzlichen Feststellungen andere tatsächliche Schlussfolgerungen ziehen und damit zu einer anderen rechtlichen Beurteilung gelangen (RIS‑Justiz RS0118191 [T1]). Dass die Klägerin „erkennbar auf die Verwendung des Pflegegelds für eigene Bedürfnisse verzichtet“, ist eine dem Tatsachenbereich zugehörige Schlussfolgerung des Berufungsgerichts aus den erstgerichtlichen Feststellungen – insbesondere jene, dass die Klägerin Liegenschaften und eine Wohnung verkaufte, um (auch) den Unterhalt des Sohnes zu bestreiten – und einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, entzogen.

3. Bei Erbringung von Pflegeleistungen für ein pflegebedürftiges Kind durch die unterhaltsberechtigte Person im Familienverband ist nach der ständigen Rechtsprechung das von dem Kind bezogene Pflegegeld bei der Unterhaltsbemessung als (fiktives) Eigeneinkommen der unterhaltsberechtigten Person anzurechnen, soweit das Pflegegeld nicht zur Abdeckung notwendiger Fremdleistungen in Anspruch genommen wird. Die tatsächliche Verwendung des Pflegegeldes für notwendige Fremdleistungen geht aber dem fiktiven „Entlohnungsanspruch“ der unterhaltsberechtigten Person vor (10 ObS 121/07b mwN; RIS‑Justiz RS0123117). Dieser Rechtsprechung liegt die Konstellation zu Grunde, dass die unterhaltsberechtigte Person das Pflegegeld für sich verwendet bzw – mit anderen Worten – für sich in Anspruch nimmt:

So wurde in 6 Ob 641/90 darauf abgestellt, „dass die Mutter als finanzielle Abgeltung der ihrer Tochter tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen die Mittel, die das Kind außer den Schadenersatzzahlungen vom Land als Pflegegeld erhält, zur Befriedigung eigener Unterhaltsbedürfnisse verwendet“ und dieser Vorgang unterhaltsrechtlich als Erzielung eigener Einkünfte gewertet.

In 6 Ob 123/97z wendete die Mutter der sie pflegenden Tochter finanzielle Mittel zu, die zumindest die Höhe des Pflegegeldes erreichten. Die Qualifikation des Pflegegeldes als Eigenkommen der Tochter, die auch selbst behauptet hatte, dass die Mutter ihr das Pflegegeld „zur Verfügung stellt“, durch die Vorinstanz wurde nicht beanstandet.

In 10 ObS 121/07b (Pkt 2.4) sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass die ihren behinderten Sohn pflegende Mutter nicht gezwungen sein soll, im Fall einer Konkurrenz mit anderen Leistungen jedenfalls einen Teil des vom Sohn bezogenen Pflegegeldes zur Abgeltung ihrer eigenen Leistungen in Anspruch zu nehmen, andernfalls auch der Pflegebedürftige nicht mehr frei in der Wahl wäre, für welche Leistungen er das Pflegegeld heranzieht.

Im vorliegenden Fall nahm die Klägerin das Pflegegeld gerade nicht für sich in Anspruch. Sie verzichtete vielmehr erkennbar auf die Verwendung des Pflegegeldes für eigene Bedürfnisse. In Folge dessen kann das Pflegegeld nicht als Eigeneinkommen der Klägerin gewertet werden. Auf die Frage, ob die festgestellten Aufwendungen für die Anschaffung eines Computers, eines Autos, eines Rollmobils usw als – im Sinne von RIS‑Justiz RS0123117 – „Abdeckung notwendiger Fremdleistungen“ qualifiziert werden können, kommt es daher nicht an.

4. Das Pflegegeld dient nach der Rechtsprechung gerade und nur dazu, den krankheitsbedingten Mehraufwand des Pflegebedürftigen, nicht aber seine allgemeinen Bedürfnisse abzugelten (4 Ob 126/17h). Es bezweckt keine Erhöhung des Einkommens des Betroffenen, sondern soll ausschließlich dazu beitragen, Pflegeleistungen „einkaufen“ zu können und es dem Pflegebedürftigen ermöglichen, sich die erforderlichen Pflegemaßnahmen selbst zu organisieren (10 ObS 121/07b [Pkt 2.2]). Vom selben Gedanken ausgehend vertritt Müller (in Barth/Ganner, Handbuch des Sachwalterrechts2 323) die Ansicht, dass das Pflegegeld vom Sachwalter in jedem Fall zur Deckung von Pflegeaufwand einzusetzen sei. Bei Pflege des Betroffenen im privaten Umfeld solle die „Wahlmöglichkeit“ zur Verwendung des Pflegegeldes lediglich darin bestehen, entweder professionelles Pflegepersonal in Anspruch zu nehmen oder das Pflegegeld zur Abgeltung der Pflegeleistungen durch Angehörige oder sonst nahestehende Personen zu verwenden. Jede andere Verwendung des Pflegegeldes, insbesondere dessen Ansparen, sei als zweckwidrige Verwendung und daher als pflichtwidriges Verhalten des Sachwalters zu sehen. Die Richtigkeit dieser Ansicht im hier vorliegenden Fall, dass das zum Sachwalter bestellte Familienmitglied den Betroffenen pflegt, das Pflegegeld aber nicht für sich in Anspruch nimmt, kann offen bleiben. Selbst wenn man es bejahen würde, dass auch in einem solchen Fall das Pflegegeld nicht für die Finanzierung sonstiger Angelegenheiten des Betroffenen verwendet werden dürfe, wäre dies allein für das Sachwalterschaftsverfahren, insbesondere die Genehmigungsfähigkeit der von der Klägerin als Sachwalterin zu legenden Pflegschaftsrechnung (§ 134 AußStrG) von Bedeutung. Es bliebe aber weiterhin dabei, dass die Klägerin das Pflegegeld nicht für sich in Anspruch nahm, was dessen Qualifizierung als Eigeneinkommen der Klägerin ausschließt.

5. Von einem schuldlos oder minder schuldig geschiedenen Ehegatten kann den Umständen nach nicht erwartet werden, dass er eine Erwerbstätigkeit auch dann fortsetzt, wenn er die altersmäßigen und sonstigen Voraussetzungen für die Frühpension erreicht hat; ihm ist eine weitere volle Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht mehr zumutbar (RIS‑Justiz RS0057339). Der Oberste Gerichtshof hat auch bereits entschieden, dass von einem unterhaltspflichtigen Pensionisten, der das gesetzliche Pensionsalter bereits erreicht hat und über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügt, keine Übernahme einer Pflegetätigkeit in einem die gesetzliche Pflicht übersteigenden Ausmaß verlangt werden kann und dass ein in dieser Form ausgeübter Verzicht auf ein Zusatzeinkommen aus einer Pflegetätigkeit dem Unterhaltspflichtigen nicht als vorwerfbare Verletzung seiner Anspannungsobliegenheit gegenüber der Unterhaltsberechtigten angelastet werden kann. Der Oberste Gerichtshof begründete dies damit, dass es zwar aus der Sicht der unterhaltsberechtigten Klägerin nichts anderes als einen Verzicht auf ein Zusatzeinkommen aus der Pflegetätigkeit darstelle, wenn der unterhaltsverpflichtete 65‑jährige Beklagte für seine beinahe 100‑jährige Mutter Pflegeleistungen freiwillig erbringt, dafür jedoch kein Entgelt annimmt, dass es aber einen krassen Wertungswiderspruch bilden würde, wenn jener Unterhaltspflichtige, der freiwillig die Vollpflege eines nahen Angehörigen übernimmt und damit seine Lebensgestaltung zweifellos massiven Einschränkungen unterwirft, dafür jedoch keine Entlohnung anzunehmen bereit ist oder verlangt, mit einer Unterhaltsbemessung gegenüber seiner geschiedenen Gattin auf Basis eines fiktiv erhöhten Einkommens „bestraft“ würde, während der Unterhaltspflichtige, der sich die Mühen einer Pflegetätigkeit im Familienkreis von vornherein erspart und mangels Rechtspflicht dazu auch nicht verhalten werden kann, einer solchen Belastung nicht ausgesetzt ist (3 Ob 63/13f).

Auf das Vorliegen eines überdurchschnittlichen Einkommens kann es bei der Frage der Zumutbarkeit der Übernahme einer Pflegetätigkeit in einem die gesetzliche Pflicht übersteigenden Ausmaß durch einen Pensionisten nicht ankommen. Dass die Klägerin ein geringeres Einkommen als der Pensionist im zitierten Fall hat, ist damit ohne Belang. Damit ist die Entscheidung 3 Ob 63/13f jedoch auf den hier vorliegenden umgekehrten Fall der Pflege durch eine unterhaltsberechtigte Pensionistin übertragbar. Es kann von ihr nicht verlangt werden, das Pflegegeld für sich in Anspruch zu nehmen, sodass ihr diesbezüglicher Verzicht auf eine Entlohnung der Pflegetätigkeit keine Verletzung der Anspannungsobliegenheit gegenüber dem unterhaltsverpflichteten Beklagten darstellt.

6. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

7. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hingewiesen und nicht deren Zurückweisung beantragt (RIS‑Justiz RS0035979).

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