European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E121924
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
1. Der Revisionsrekurs der Mutter wird zurückgewiesen.
2. Dem Revisionsrekurs des Vaters wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
Die Obsorge für das * 2004 geborene Kind steht den Eltern gemeinsam zu.
Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger (KJHT) beantragte im Februar 2017 die Einschränkung der Obsorge der Eltern wegen Gefährdung des Kindeswohls. Die Eltern zeigten sich wiederholt nicht kooperativ. Eine Vereinbarung über die notwendige psychologische Diagnostik des Kindes sei bislang gescheitert.
Die Eltern sprachen sich gegen diesen Antrag aus. Die Kooperation mit der zuständigen Sozialarbeiterin funktioniere seit längerem nicht mehr reibungslos. Das Kind fürchte wie seine ältere 2001 geborene Schwester aus der Familie gerissen zu werden und fühle sich überfordert, mit fremden Menschen zu kommunizieren. Es sei seit längerer Zeit bei einem Kinder- und Jugendpsychiater in Therapie und benötige keine zusätzliche Psychotherapie.
Das Erstgericht schränkte die Obsorge der Eltern im Bereich Pflege und Erziehung insoweit ein, als es ihnen auftrug, folgende vom KJHT im Rahmen der Unterstützung der Erziehung vorgeschriebene Auflagen zu erfüllen:
a) Die Durchführung einer psychologischen Diagnostik des Kindes, um die für sie notwendige Unterstützung herstellen zu können.
b) Die Sicherung der Kooperation zwischen den Eltern und der zuständigen Sozialarbeiterin, um künftig die Einhaltung der Termine gewährleisten zu können, sodass mit dem Kind zumindest einmal im Monat in der Regionalstelle ein Gespräch geführt werden kann.
c) Die Eltern werden verpflichtet, den notwendigen Kontakt und Austausch der Kooperationspartner/innen untereinander zuzulassen. Dies in dem Sinn, dass der KJHT in der Schule des Kindes, beim behandelnden Kinder‑ und Kinderpsychiater (derzeit *) und (allfällig) bei den zuständigen Psychologen Informationen erhält.
Nach den Feststellungen des Erstgerichts leidet das Kind an einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens, einer generalisierten Angststörung, Panikattacken, spezifischen Phobien, einer nicht organischen Schlafstörung und an psychosozialen Belastungen. Es hat große schulische Schwierigkeiten und ist in seinem Verhalten auffallend ambivalent. Die Eltern verweigern die notwendige Abklärung eines Therapiebedarfs des Kindes. Eine Kommunikation bzw Kooperation mit den Eltern ist für den KJHT nicht möglich.
Rechtlich folgerte das Erstgericht, das Kind benötige zur bestehenden Familiendynamik ein externes Regulativ, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Eltern würden sich unkooperativ zeigen und von ihnen geforderte, notwendige Maßnahmen nicht umsetzen. Trotz jahrelanger Betreuung durch den KJHT sei eine reibungslose Kommunikation und Kooperation mit den Eltern immer noch nicht möglich. Bei Beibehaltung der derzeitigen Situation sei das Wohl des Kindes gefährdet.
Das Rekursgericht gab dem seiner Auffassung nach von beiden (unvertretenen) Eltern erhobenen Rekurs nicht Folge und ließ den Revisionsrekurs nicht zu. Nach der Beurteilung des Rekursgerichts habe sich das Rechtsmittel auf die Darstellung des eigenen Vorbringens und Prozessstandpunkts zur ohnehin gegebenen Kooperationsbereitschaft und zu dem durch ständige psychologische Betreuung gewährleisteten Wohl des Kindes beschränkt.
Beide Eltern erhoben einen Revisionsrekurs.
Rechtliche Beurteilung
1. Der Revisionsrekurs der Mutter ist mangels Beschwer unzulässig.
1.1 Der Beschluss des Erstgerichts wurde der Mutter am 30. 10. 2017, dem Vater am 7. 11. 2017 zugestellt. Das handschriftlich verfasste, nach dem Text nur im Namen des Vaters erhobene, aber von beiden Eltern unterzeichnete Rechtsmittel gegen diesen Beschluss wurde im Einlaufkasten des Erstgerichts abgegeben und langte am 16. 11. 2017 ein (ON 89). Das Rekursgericht behandelte den Rechtsmittelschriftsatz als Rekurs beider Eltern und gab ihm nicht Folge.
1.2 Ein derartiger Beschluss über die Beschränkung der gemeinsamen Obsorge wirkt nach § 43 Abs 2 AußStrG für beide Eltern einheitlich. Ungeachtet dessen war die Anfechtbarkeit für jede Partei gesondert zu prüfen. Der Beschluss des Erstgerichts war in Ansehung der Mutter nach Verstreichen der mit der Zustellung am 30. 10. 2017 in Gang gesetzten 14‑tägigen Rekursfrist mit Ablauf des 13. 11. 2017 in Rechtskraft erwachsen, in Ansehung des Vaters aufgrund der diesem noch offen stehenden Rekursfrist jedoch noch nicht (Deixler‑Hübner in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 43 Rz 8).
1.3 Hier sind zwei Varianten denkbar: Entweder die Mutter hat gar keinen Rekurs erhoben oder (so das Rekursgericht) es liegt ein gemeinsamer Rekurs der Eltern vor. Welche Auslegung tatsächlich zutrifft, ist für das Ergebnis der Zurückweisung des außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter unerheblich. Das Rekursgericht hat entweder über einen gar nicht oder über einen verspätet erhobenen Rekurs inhaltlich entschieden. Diese Entscheidung beschwert die Mutter allerdings nicht. Im Fall eines verspätet erhobenen Rekurses hätte bereits das Rekursgericht das Rechtsmittel der Mutter als verspätet zurückweisen müssen. So oder so ist ein inhaltliches Eingehen auf die Argumente der Mutter ausgeschlossen. Ihr Revisionsrekurs ist daher mangels Beschwer zurückzuweisen.
2. Der – nach Freistellung vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger (KJHT) beantwortete – Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und im Sinn einer Aufhebung auch berechtigt.
2.1 Das Gericht kann nach § 181 Abs 1 ABGB idF des KindNamRÄG 2013 (zuvor § 176 ABGB) die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen treffen, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des Kindes gefährden. Zulässig ist die gänzliche oder teilweise Entziehung der Obsorge; auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs‑ und Zustimmungsrechte können entzogen werden. Derartige Maßnahmen setzen eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls voraus (RIS‑Justiz RS0085168).
2.2 Neben dem gänzlichen oder teilweisen Entzug der Obsorge und dem Entzug von Einwilligungs‑ und Zustimmungsrechten kommen auch noch andere Verfügungen des Gerichts im Sinn des § 181 ABGB in Betracht. So kann das Gericht den Obsorgeberechtigten auftragen, das Kind regelmäßig ärztlich untersuchen zu lassen oder bestimmte Therapien oder Beratungen für das Kind in Anspruch zu nehmen oder mit dem KJHT auf bestimmte Art und Weise Kontakt zu halten (Weitzenböck in Schwimann/Neumayr Takomm4 § 181 ABGB Rz 12; vgl Thunhart in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ §§ 176, 176b ABGB Rz 55; 5 Ob 17/17m; 1 Ob 179/17f) oder eine Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen und Nachfragen des KJHT in Schule und Kindertagesheimen oder beim Kinderarzt zuzulassen (Weitzenböck in Schwimann/Kodek 4 § 181 ABGB Rz 44; 8 Ob 116/09f). Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 182 ABGB) und der Familienautonomie zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0048736 [T3]), weil Verbote und Aufträge an einen Obsorgeberechtigten selbst dann in das elterliche Obsorgerecht eingreifen, wenn die Obsorge nicht ganz oder teilweise entzogen wird (5 Ob 17/17m; 1 Ob 179/17f; RIS‑Justiz RS0127247).
2.3 Die vom Erstgericht erteilten Aufträge sind ihrer Art nach im Sinn des § 181 ABGB grundsätzlich zulässige Maßnahmen, wenn bestimmte, im konkreten Fall noch nicht abschließend zu beurteilende Voraussetzungen vorliegen.
2.4 Grundsätzliche Voraussetzung ist zunächst die Gefährdung des Kindeswohls, die der Vater in seinem Revisionsrekurs auf Basis der bisherigen Tatsachenfeststellungen zu Recht in Zweifel zieht. Den Eltern wird vorgeworfen, eine nach Auffassung des KJHT unbedingt erforderliche psychologische Abklärung und in der Folge eine darauf beruhende Therapie nicht durchführen zu lassen und dadurch das Wohl des Kindes zu gefährden. Das Kind ist seit Jahren mit Einverständnis der Eltern bei einem Kinder‑ und Jugendpsychiater in Behandlung. Die Sozialarbeiterinnen, die eine ausführliche fachliche Stellungnahme verfassten (AS 395 ff/I), hatten vom behandelnden Facharzt Informationen über Behandlungszeitraum und Diagnose erhalten und in ihrer Stellungnahme auch wiedergegeben (AS 408, 409/I). Die Feststellungen des Erstgerichts zur diagnostischen Einstufung beruhen gerade auf der Schilderung dieses Arztes. Nach dessen Einschätzung lehnt das (derzeit 13‑jährige) Kind jede Medikamentation und Psychotherapie ab, weshalb eine psychotherapeutische Begleitung zwar notwendig, aber nicht umsetzbar sei. Es ist daher nicht verständlich, warum die aufgetragene psychologische Diagnostik des Kindes, das sich ablehnend zeigt, das einzig geeignete und unbedingt notwendige Mittel sein sollte, eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden.
2.5 Nach § 173 ABGB (zuvor § 146c ABGB) kann ein einsichts‑ und urteilsfähiges Kind Einwilligungen in medizinische Behandlungen nur selbst erteilen; im Zweifel wird das Vorliegen dieser Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit beim mündigen Minderjährigen vermutet. Auch bei (in der Regel knapp) Unmündigen kann nach dem Gesetz Einsichtsfähigkeit gegeben sein (Stormann in Schwimann/Kodek ABGB4 § 173 ABGB Rz 13 mwN; Hopf in KBB5 § 173 ABGB Rz 4). Ohne Einwilligung des einsichts‑ und urteilsfähigen Kindes kann dem Obsorgeberechtigten eine Behandlung des Kindes nach § 176 Abs 1 (nunmehr § 181 Abs 1) ABGB nicht aufgetragen werden (3 Ob 3/11d = RIS‑Justiz RS0127206). Auch psychologische und psychotherapeutische Maßnahmen unterliegen (zumindest analog) den Regeln des § 173 (früher § 146c) ABGB (3 Ob 3/11d zur Psychotherapie; Barth in Fenyves/Kerscher/Vonkilch, Klang³ § 146c ABGB Rz 5; Stormann in Schwimann/Kodek 4 § 173 ABGB Rz 2 mwN). Gleiches gilt für Maßnahmen der Diagnose (Stormann in Schwimann/Kodek 4 § 173 ABGB Rz 3), wie hier die geforderte psychologische Abklärung, die der Einschätzung des Therapiebedarfs und der anschließenden Therapie dienen soll.
2.6 Das Kind wird in etwa fünf Monaten das 14. Lebensjahr vollenden. Nach der Einschätzung des behandelnden Kinder‑ und Jugendpsychiaters verweigert es eine psychotherapeutische Behandlung. Dass ihm trotz seines Alters die Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit bezogen auf die Notwendigkeit zusätzlicher diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen fehlt, kann nach den Feststellungen des Erstgerichts nicht abschließend gesagt werden. Ist es einsichts‑ und urteilsfähig, hat der erteilte Auftrag an die obsorgeberechtigten Eltern, eine psychologische Abklärung vornehmen zu lassen, keinen Sinn, wenn das Kind als Betroffener eine derartige Maßnahme ablehnt. Das Gericht kann in diesem Fall die fehlende Einwilligung des Kindes auch nicht ersetzen (Hopf in KBG5 § 173 ABGB Rz 4).
2.7 Ungeachtet der festgestellten Kommuni-kations‑ und Kooperationsschwierigkeiten zwischen Eltern und KJHT sind die Aufträge im Zusammenhang mit der Sicherung der Kooperation zwischen Eltern und zuständigen Sozialarbeitern und der Verpflichtung, den notwendigen Kontakt und Austausch der Kooperationspartner/innen untereinander zuzulassen (Punkt a) und b) erster Satz) zu unbestimmt (vgl 1 Ob 147/17z [„regelmäßige Betreuung durch PAF“]) und in dieser Form daher nicht zulässig. Die den obsorgeberechtigten Eltern auferlegte Verpflichtung, den Informationsaustausch zwischen KJHT und (zukünftig) behandelnden Ärzten oder Psychologen oder Schulen zuzulassen, setzt voraus, dass eine Gefährdung des Kindeswohls diese Maßnahmen erfordert. Steht aber noch nicht fest, dass eine zusätzliche Abklärung in psychotherapeutischer oder psychosozialer Hinsicht und eine „Überwachung“ des Kindes unbedingt notwendige Maßnahmen sind, um die Gefährdung seines Wohls zu verhindern, kommen derartige Aufträge im derzeitigen Verfahrensstadium nicht in Betracht.
2.8 Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren zunächst die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Kindes und – sollte diese vorliegen – seine Zustimmung zu den vom KJHT geforderten Untersuchungen zu klären haben.Verweigert das einsichts- und urteilsfähige Kind die Zustimmung, fehlt die Grundlage für die erteilten Aufträge an die Obsorgeberechtigten, die psychologische Abklärung vornehmen zu lassen. Trifft dies nicht zu, wird das Erstgericht die Notwendigkeit der vom KJHT geforderten Maßnahmen neuerlich zu überprüfen und dabei zu berücksichtigen haben, ob diese angesichts der ohnehin stattfindenden, von den Eltern auch nicht in Frage gestellten Behandlung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater und der vorgebrachten Verbesserung der schulischen Situation nach dem Schulwechsel tatsächlich notwendig sind, um eine Gefährdung des Kindeswohls zu verhindern.
3. Der Vater äußert erstmals im Revisionsrekurs Bedenken gegen die Unbefangenheit des Erstrichters, ohne einen ausdrücklichen Ablehnungsantrag zu stellen. Sein Vorbringen erfolgt im Sinn des § 21 Abs 2 JN zu spät. Eine Befassung des Vorstehers des Erstgerichts und die Unterbrechung des Rechtsmittelverfahrens sind deshalb nicht nötig.
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