European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E121755
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die mütterliche Großmutter hat die Kosten ihres Revisionsrekurses selbst zu tragen.
Begründung:
Der Minderjährige lebt seit Jänner 2017 im Haushalt der mütterlichen Großmutter. Die mütterlichen Großeltern leben getrennt, ein Scheidungsverfahren ist anhängig.
Die Eltern des Minderjährigen waren nie verheiratet, die Obsorge für ihn kam stets der Mutter allein zu. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Der Minderjährige hat einen älteren Halbbruder, der seit Anfang 2017 bei dessen Vater lebt, dem mittlerweile auch die Obsorge übertragen wurde, und eine jüngere Halbschwester.
Die Mutter der drei Kinder wurde Anfang Mai 2017 delogiert und wohnte vorübergehend mit ihrer Tochter bei der mütterlichen Großmutter; im Juni 2017 übersiedelte sie mit der Tochter zu ihrem Lebensgefährten nach Kärnten. Seither gab es nur noch einen persönlichen Kontakt zwischen der Mutter und dem Minderjährigen.
Der mütterliche Großvater holt aufgrund einer außergerichtlichen Vereinbarung mit der mütterlichen Großmutter den Minderjährigen jeweils am Montag um 13:00 Uhr vom Kindergarten ab und bringt ihn um 18:00 Uhr zur Großmutter zurück. Darüber hinaus verbringt der Minderjährige ein Wochenende pro Monat beim Großvater. Die Besuchskontakte verlaufen positiv.
Die Großeltern werden vom Jugendamt betreut; beide sind mit einer Fortführung dieser Betreuung auch nach rechtskräftiger Entscheidung über die Obsorge einverstanden; sie nehmen die Betreuung gut an und sind offen für Hilfestellungen und Ratschläge.
Die Mutter setzte die Großmutter in der Vergangenheit immer wieder lautstark unter Druck, um ihren Willen durchzusetzen, etwa bei ihrer Abreise nach Kärnten. Die Großmutter steht dem Verhalten der Mutter mitunter wenig kritisch und reflektiert gegenüber und sucht Erklärungen für deren Verhalten auch in den aktuellen familiären Problemen (Scheidungsverfahren der Großeltern). Sie schätzt die Erziehungskompetenz der Mutter wenig realistisch ein. Dem Großvater gelingt insgesamt eine sachlichere und realistischere Einschätzung der Problemlage, und er kann aktuell besser zwischen Beziehungsproblemen und Fragen des Kindeswohls differenzieren. Zwischen ihm und der Mutter bestehen derzeit Differenzen und kein Kontakt, dennoch bejaht er begleitete Kontakte des Kindes zur Mutter.
Beide Großeltern sind bemüht, die eigenen Streitigkeiten zu regeln, ohne dass sich das auf das Kind auswirkt. Die Großmutter ist durch die Scheidungssituation emotional stärker belastet als der Großvater, allerdings nimmt sie seit März 2017 regelmäßig Beratungstermine wahr. Sie ist ruhig und verbal zugänglich und im Umgang mit dem Minderjährigen liebevoll und fürsorglich. Der Großvater ist offen und umgänglich. Er zeigt sich konsensorientiert und verfügt über eine grundsätzlich positive Lebenseinstellung.
Die Wohnsituation bei der Großmutter ist etwas beengt, jedoch befindet sich die Wohnung in sauberem und ordentlichem Zustand. Der Minderjährige hat kein eigenes Zimmer. Die Großmutter ist derzeit ohne Beschäftigung und bezieht Notstandshilfe. Sie beabsichtigt, bei einer Obsorgeübertragung die bisherige Kontaktregelung zum Großvater aufrecht zu halten.
Die Wohnung des Großvaters ist geräumig und ebenfalls sauber und ordentlich, der Minderjährige hat ein eigenes Zimmer. Der Großvater ist (mittlerweile wieder) berufstätig. Für den Fall einer Obsorgeübertragung an ihn beabsichtigt er, dass der Minderjährige ganztags den Kindergarten besucht. Darüber hinaus kann der Großvater auch auf Unterstützung durch seine in der Nähe wohnenden erwachsenen Kinder zurückgreifen. Es besteht Einvernehmen zwischen den Großeltern, dass bei einer Obsorgeübertragung an den Großvater die Kontakte zur Großmutter entsprechend der bisherigen Handhabung der Kontakte zum Großvater weitergeführt werden sollen.
Der Minderjährige wünscht sich, mit dem Großvater und seinem Halbbruder zusammenzuwohnen. Der Großvater stellt für ihn, auch wegen fehlender Kontakte zum leiblichen Vater, eine wichtige Ressource dar. Auch die Großmutter ist für ihn eine wichtige Bezugsperson.
Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragte am 11. April 2017, der Mutter die Obsorge für den Minderjährigen (ebenso wie für dessen Halbbruder) im Bereich Pflege und Erziehung zu entziehen und ihm zu übertragen, weil die Mutter gegenüber beiden Buben physische und psychische Erziehungsgewalt anwende; dabei handle es sich nicht um einmalige Vorfälle, die Kinder seien vielmehr regelmäßig solchen Gewalthandlungen (Tritte, Schläge auf den Rücken und ins Gesicht, Ziehen an den Haaren, Anschreien, Beschimpfungen, etc) ausgesetzt. Die Mutter zeige keine Problemeinsicht und bagatellisiere die Vorfälle.
Am 25. April 2017 stellte die Großmutter den Antrag, die Obsorge für das Kind an sie zu übertragen. Der Minderjährige äußere immer wieder den Wunsch, bei ihr zu wohnen.
Am 30. Mai 2017 beantragte der Großvater, ihm die Obsorge für den Minderjährigen zu übertragen. Die Mutter und die Großmutter sprachen sich jeweils dagegen aus.
Die vom Erstgericht bestellte psychologische Sachverständige kam in ihrem Gutachten zum Ergebnis, der gegenüber den Kindern gewalttätigen Mutter sei die Obsorge zu entziehen und (nicht der Großmutter oder dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger, sondern) dem Großvater zu übertragen. Zwar seien grundsätzlich beide Großeltern für die Obsorge geeignet, insgesamt entspreche eine Obsorgeübertragung an den Großvater aber „eher“ dem Kindeswohl. Insbesondere zeige sich die Großmutter hinsichtlich ihrer eigenen Eheprobleme sehr belastet und schaffe es weniger gut als der Großvater, Maßnahmen im Sinne des Kindeswohls von den eigenen Beziehungskonflikten zu trennen. Auch sei schwer abschätzbar, inwieweit die Großmutter es schaffen werde, ihre eigene Belastbarkeit langfristig hinter das notwendige kindeswohlfördernde Verhalten zu stellen, und falle auf, dass sie eher dem Druck der Mutter nachgebe, was sich prognostisch als ungünstig erweisen könnte. Die positive emotionale Beziehung des Minderjährigen zum Großvater stelle auch vor dem Hintergrund fehlender Kontakte zum leiblichen Vater eine wichtige Ressource dar. Der Erhalt dieser für das Kind zentralen Bezugsperson sei besonders wichtig.
Über Auftrag des Erstgerichts, sich dazu zu äußern, wie sich die von der Sachverständigen empfohlene Obsorgeübertragung und der damit verbundene Betreuungswechsel mit den Grundsätzen der Stabilität und Betreuungskontinuität in Einklang bringen lasse, führte diese ergänzend aus, dass der Minderjährige auch in der Zeit, in der er nun im Haushalt der Großmutter lebe, weitere deutliche Veränderungen innerhalb seines Betreuungs- und Bezugssystems erfahren habe. So sei die Mutter mit der Halbschwester vorübergehend in den Haushalt der Großmutter gezogen, und zwischenzeitig habe es keinen Kontakt zum Großvater gegeben. Der Minderjährige habe es sehr gut geschafft, sich an wechselnde Lebensbedingungen anzupassen. Die notwendige Stabilität und Betreuungskontinuität ergebe sich vor allem aus den psychischen Ressourcen der Bezugspersonen. Im Vergleich der Persönlichkeit, der aktuellen psychischen Belastbarkeit, der Problemeinsicht, ‑akzeptanz und ‑kongruenz, der Hilfe‑ und Veränderungsakzeptanz der Großeltern ergebe sich insgesamt eine günstigere Prognose für zukünftige Kontinuität und Stabilität der Lebensverhältnisse des Minderjährigen im Haushalt des Großvaters.
Die Großmutter wendete gegen das Gutachten ein, sie habe dem Minderjährigen ein stabiles Umfeld aufgebaut, er habe Freunde in der Siedlung und besuche den Kindergarten, in dem er sich sehr wohlfühle. Sie sei zu Hause und habe für ihn Zeit und Geduld, um ihn liebevoll aufwachsen zu lassen. Aus diesem stabilen Umfeld würde er im Fall einer Obsorgeübertragung an den Großvater herausgerissen. Auch die wechselnden Partnerinnen des Großvaters wären nicht gut für das Kind. Sie habe mit dem Großvater ein Kontaktrecht zum Kind jeweils am Montag von 13:00 Uhr bis 18:00 Uhr und an einem Wochenende pro Monat vereinbart. Diese Regelung funktioniere bisher gut. Sie habe die Angebote des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers immer angenommen und werde das selbstverständlich auch weiterhin tun. Seit Erstellung des Gutachtens habe sich viel verändert. Die Mutter lebe jetzt in Kärnten und die Konfliktsituation mit dem Großvater kläre sich durch das Scheidungsverfahren. Die Beratungsgespräche in der Frauenberatungsstelle täten ihr gut und sie fühle sich auch im Umgang mit dem Großvater viel gefestigter. Sie wisse, dass der Minderjährige sich bei ihr sehr wohl fühle, und wolle, dass er weiter bei ihr seinen Lebensmittelpunkt habe. Eine neuerliche Veränderung wäre für ihn nicht gut.
Das Erstgericht entzog der Mutter die Obsorge für den Minderjährigen und übertrug sie dem Großvater. Die Obsorgeübertragungsanträge der Großmutter und des Kinder- und Jugendhilfeträgers wies es ab. Bei einem Verbleib des Minderjährigen in der Obsorge der Mutter wäre sein Wohl gefährdet. Der Großvater verfüge über eine größere Wohnung, in der das Kind ein eigenes Zimmer habe. Die Großmutter wiederum könne, weil sie (anders als der Großvater) nicht berufstätig sei, die Betreuung des Minderjährigen abdecken. Der Großvater könne allerdings hinsichtlich der Betreuung auf familiäre Ressourcen (in der Nähe lebende erwachsene Kinder) zurückgreifen. Beide Großeltern seien sehr um das Wohl des Kindes bemüht, stellten für dieses wichtige Bezugspersonen dar und bekundeten auch ihre Bereitschaft, Kontakte zum jeweils anderen Großelternteil zuzulassen. Das Kind habe zu beiden eine gute Beziehung, wenngleich es eine Präferenz für das Wohnen beim Großvater erkennen lasse. Beide Großeltern seien gegenüber dem Jugendamt kooperativ und bereit Unterstützung anzunehmen. Der Großvater verfüge über eine robustere Persönlichkeit als die Großmutter. Auch wenn derzeit ein Kontakt zwischen der Mutter und dem Großvater fehle, stehe der Großvater Kontakten des Kindes zur Mutter positiv gegenüber. Er könne mit drängenden und problematischen Verhaltensweisen der Mutter besser umgehen und sei daher weniger geneigt, deren Druck nachzugeben. Außerdem sei der Großvater insbesondere wegen der fehlenden Kontakte des Kindes zum Vater eine wichtige Ressource für den Minderjährigen. Eine Gesamtschau ergebe, dass an sich beide Großeltern für die Übernahme der Obsorge geeignet seien. Beim Großvater liege aber insgesamt eine günstigere Prognose für zukünftige Kontinuität und Stabilität der Lebensverhältnisse des Minderjährigen vor, während dem mit der Obsorgeübertragung an den Großvater verbundenen neuerlichen Betreuungswechsel im Hinblick auf die vorzunehmende Zukunftsprognose keine entscheidungs-wesentliche Bedeutung zukomme. Letztlich habe sich auch das Jugendamt für eine Obsorgeübertragung an den Großvater ausgesprochen.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Großmutter nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu. Die Obsorgeübertragung an den Großvater sei nicht zu beanstanden.
Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs strebt die Großmutter die Übertragung der Obsorge für den Minderjährigen an sie an; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Revisionsrekursbeantwortungen wurden trotz Freistellung durch den Obersten Gerichtshof nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
1. Im Verfahren ist mittlerweile unstrittig, dass die Obsorge für den Minderjährigen der Mutter iSd § 181 Abs 1 ABGB zu entziehen war, weil sie durch ihr Verhalten das Wohl des Kindes gefährdete (vgl RIS‑Justiz RS0085168).
2. Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS-Justiz RS0048632).
3. Die Großmutter macht in ihrem Revisionsrekurs insbesondere geltend, die Obsorgeentscheidung entspreche nicht dem Wohl des Minderjährigen, weil er bei deren Umsetzung wieder aus seinen nunmehr stabilen Strukturen und seinem konstanten Umfeld gerissen würde.
4. Der noch nicht sechs Jahre alte Minderjährige lebt seit mittlerweile mehr als eineinviertel Jahren durchgehend bei der Großmutter, die ihn liebevoll und fürsorglich betreut und ihm auch regelmäßigen Kontakt zum Großvater ermöglicht, der mangels Kontakts zum Vater eine wichtige Bezugsperson für das Kind darstellt. Da grundsätzlich beide Großelternteile für die Ausübung der Obsorge gleichermaßen geeignet sind, wäre es im Allgemeinen somit naheliegend, zur Wahrung der Kontinuität der Betreuung die Obsorge für das Kind an die Großmutter zu übertragen.
Die Sachverständige hat ihre Einschätzung, dass die Obsorgeübertragung an den Großvater (dennoch) „eher“ dem Kindeswohl entspreche, mit verschiedenen Umständen begründet (insbesondere dass die Großmutter dem Druck der Mutter eher nachgebe und dass sie durch die Konfliktsituation zwischen den Großeltern stärker belastet sei), die jedoch nach dem Vorbringen der Großmutter in ihrer Äußerung zum Gutachten (ON 53) in der Zwischenzeit angeblich nicht mehr aktuell sind.
Mit diesem Vorbringen der Großmutter hat sich das Erstgericht nicht auseinandergesetzt; es hat die (in erster Instanz unvertretene) Großmutter weder zu Beweisanträgen angeleitet noch einvernommen. Auch die Sachverständige nahm zu diesem Vorbringen nicht Stellung, weil ihr Ergänzungsgutachten (ON 58) vom 2. September 2017 stammt, also bereits vor dem Auftrag des Erstgerichts vom 5. September 2017, sich zu den Einwänden der Großmutter zu äußern, erstattet wurde. Das Erstgericht wird deshalb im fortgesetzten Verfahren die Tatsachengrundlage zu verbreitern und anschließend neuerlich zu entscheiden haben.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 107 Abs 5 AußStrG.
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