European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00110.16I.0516.000
Spruch:
I. Die Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
II. Hingegen wird der Revision der beklagten Partei teilweise Folge gegeben.
II.1. Das angefochtene Urteil wird teilweise dahin abgeändert, dass es – einschließlich der nicht bekämpften Teile – als Teilurteil zu lauten hat:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 139.890,69 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. August 2012 zu bezahlen.
Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 59.223,56 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. August 2012 zu bezahlen, wird abgewiesen.“
Die Entscheidung über die auf diesen Teil des Begehrens entfallenden Kosten bleibt dem Endurteil vorbehalten.
II.2. Im Übrigen, das ist im Zuspruch von 19.500 EUR sA und im Kostenpunkt, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben. Die Rechtsache wird in diesem Umfang an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Die hierauf entfallenden Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger erlitt bei einem Verkehrsunfall am 3. 9. 2003 schwere Verletzungen und ist seither pflegebedürftig.
Die Beklagte haftet als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Kläger für drei Viertel sämtlicher Schäden und Folgen des Unfalls, beschränkt mit der Haftpflichtversicherungssumme.
Konkret erlitt der Kläger bei dem Verkehrsunfall ein schweres Polytrauma mit offener Schädelfraktur, multiple Gesichtsfrakturen, eine komplexe fronto‑basale Fraktur, Hirnkontusion, eine traumatische Subarachnoidalblutung, ein schweres Thoraxtrauma, Lungenkontusion und eine innere Okulomotoriusläsion. Nach mehrwöchiger Behandlung im Krankenhaus W***** erfolgte eine Rehabilitation. Es wurde damals ein hochgradiges organisches Psychosyndrom, nahezu ein apallisches Syndrom beschrieben. Seit 17. 6. 2004 wird der Kläger zu Hause bei seiner Mutter betreut. Anfangs dominierte eine weitgehende Immobilität, der Betroffene konnte einen Wechsel vom Bett zum Leibstuhl nur mit Hilfe von mindestens einer Person durchführen, war stuhl‑ und harninkontinent, konnte selbst weder essen noch sprechen. Der Zustand hat sich langsam verbessert, insbesondere was die Mobilität, aber auch die Verhaltensstörungen anlangt.
Seit Juni 2006 ist der Kläger unter der Woche am Montag, Dienstag und Mittwoch von 8:45 Uhr bis 16:00 Uhr und am Donnerstag von 8:50 Uhr bis 13:00 Uhr in der Behinderteneinrichtung „A*****“ in der Werkstätte beschäftigt. Er wird dort mit einem Taxi hingebracht und wieder nach Hause gefahren. Anfangs war er auf den Rollstuhl angewiesen, später konnte er mit dem Rollator gehen, seit zwei bis drei Jahren (zurückgerechnet ab Urteil erster Instanz vom 28. 5. 2015) geht er frei, ist aber sturzgefährdet und auch bereits öfters gestürzt. Ein epileptisches Anfallsleiden ist medikamentös eingestellt, der letzte Anfall liegt vier bis fünf Jahre zurück (wiederum zurückgerechnet ab Ersturteil). Weiters bestehen Verhaltensauffälligkeiten mit Aggressionsdurchbrüchen und Störungen der Impulskontrolle. Mittlerweile kann der Kläger sehr eingeschränkt lesen, sich aber nicht längere Zeit konzentrieren. Er geht in Begleitung spazieren und führt einfache sportliche Tätigkeiten unter Aufsicht aus. Nächtlich besteht manchmal vermehrter Harndrang. Seine Sprache ist verwaschen und schwer verständlich, er ist weitgehend orientiert mit höhergradigen Einschränkungen der Gedächtnis‑ und Merkfähigkeit sowie im logischen Denken und hat Schwierigkeiten, komplexere Denkvorgänge durchzuführen. „Aktuell“ besteht Betreuungs‑ bzw Pflegeaufwand für die tägliche Körperpflege, Zubereitung von Mahlzeiten, Beaufsichtigung, Entleerung des Leibstuhls und Reinigung danach, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, Pflege der Leib‑ und Bettwäsche, Beheizung des Wohnraums einschließlich Herbeischaffung des Heizmaterials, Mobilitätshilfe im weiteren Sinne. Hergerichtete und vorgeschnittene Speisen kann der Kläger selbstständig zu sich nehmen. Medikamente müssen vorbereitet werden. Teilweise ist weiters Hilfe zum An‑ und Auskleiden in Form von Herrichten der Kleidung und Zubinden der Schuhe notwendig. Mobilitätshilfe im engeren Sinn ist dagegen nicht erforderlich. Die Verhaltensauffälligkeiten des Klägers haben sich in den letzten Jahren gebessert. Bis Anfang 2010 war allerdings eine Anwesenheit einer Betreuungsperson über 24 Stunden erforderlich, seither ist eine entsprechende Bereitschaft, nicht unbedingt im selben Raum, notwendig. Außerdem bestehen nicht koordinierbare Betreuungsnotwendigkeiten infolge der Verhaltens-auffälligkeiten des Klägers. Durch die Betreuung in der Einrichtung „A*****“ hat sich der Betreuungsaufwand an vier Tagen der Woche pro Tag für mehrere Stunden reduziert bzw verlagert. Ab Beginn 2010 betrug der Pflegeaufwand für den Kläger pro Tag zwischen fünf bis sieben Stunden, wobei in diesem Zeitausmaß auch Vorbereitungstätigkeiten inkludiert sind. Die Pflegeleistungen können von einer Person am Tag erbracht werden.
Die Pflegeleistungen werden hauptsächlich von der Mutter des Klägers erbracht, der es aufgrund dessen nicht mehr möglich ist, Freizeitaktivitäten wie Kursbesuche, sportlichen Aktivitäten, wie Schwimmen, Wandern, Laufen und Schi fahren, sowie religiösen Aktivitäten bei den Zeugen Jehovas nachzugehen. Vor dem Unfall hatte sie dafür durchschnittlich drei Stunden pro Tag zur Verfügung, seitdem geht sie solchen Aktivitäten aufgrund der Belastungen durch die Pflege nicht mehr nach.
Der Kläger hat von 2004 bis 2011 insgesamt 91.237,80 EUR Pflegegeldzahlungen erhalten sowie eine Akontozahlung der Beklagten von insgesamt 86.354,95 EUR. Für die Betreuung bei „A*****“ hat der Kläger umgekehrt einen Kostenbeitrag in Höhe von 13.374,89 EUR (bereits gekürzt um die Mitverschuldensquote) bezahlt. Der Stundensatz für den Betreuungsaufwand ist bis 6. 6. 2006 mit 12,64 EUR, danach mit 13 EUR unbestritten.
Der Kläger besuchte zwischen 2000 und 2003 eine Hotelfachschule, wobei er in der dritten Klasse allerdings nicht alle Prüfungen bestanden hatte und daher nicht zur Abschlussprüfung zugelassen wurde. Der Kläger hatte die Absicht, diese bis zum Frühjahr 2004 nachzuholen. Dann hätte er als Restaurantfachmann sowie als Koch arbeiten können. Für den Zeitraum 2003 bis 31. 12. 2011 hätte der Kläger ohne Trinkgeld und unter Abzug für Kost und Logis 128.875,24 EUR verdienen können und vor Abzug von Kost und Logis 148.887,64 EUR. Er hätte ein durchschnittliches jährliches Trinkgeld von 3.900 EUR bezogen.
Der Kläger begehrte zuletzt 40.174,06 EUR sA Verdienstentgang und 178.440,19 EUR sA an Pflege-/Betreuungsaufwand. Er habe kurz vor Abschluss der Tourismusfachschule und vor Antritt einer Stelle als Zahlkellner gestanden. Seinen Beruf könne er nun nicht mehr ausüben. Er benötige rund um die Uhr Betreuungsbereitschaft und insgesamt 14 Stunden tatsächliche Betreuung täglich.
Die Beklagte bestritt. Beim Verdienstentgang bestehe lediglich ein Anspruch von 2.225,22 EUR. Bezüglich Betreuungsaufwand seien für Juli 2004 bis Juni 2006 acht Stunden täglich und für Juli 2006 bis Dezember 2008 unter Berücksichtigung der Betreuung bei „A*****“ 42 Stunden wöchentlich sowie ab Jänner 2009 wegen der verlängerten Betreuung bei „A*****“ 38,5 Stunden wöchentlich erforderlich. Ein lediglich 10%‑Abzug bei den Pflegekosten für die Betreuung durch „A*****“ sei zu wenig. Weiters habe die Mutter während dieser Betreuung ausreichend Gelegenheit, ihren Freizeitaktivitäten nachzugehen.
Das Erstgericht gelangte ausgehend von einem möglichen Gesamtnettoverdienst von 128.875,24 EUR, gekürzt um die Mitverschuldensquote, zu einem Anspruch des Klägers von 96.656,43 EUR. Unter Berücksichtigung der Pensionszahlung und der Akontozahlung der Beklagten ergebe sich ein Überhang zugunsten des Klägers, weshalb er keine weiteren Ansprüche aus Verdienstentgang habe.
Beim Entgelt für die Pflegeleistung komme zu den Zeiten tatsächlicher Pflege noch jene Zeit, die der pflegende Angehörige sonst außer Haus verbringen würde und auf die er nunmehr verzichte. Konkret sei davon auszugehen, dass der Kläger bis Ende 2008 Anspruch auf das begehrte Ausmaß der Pflege von 14 Stunden pro Tag und ab Beginn 2010 Anspruch auf erforderliche Pflege von fünf Stunden pro Tag zuzüglich des Freizeitentgangs der Betreuungsperson von drei Stunden pro Tag, somit acht Stunden pro Tag, habe. Der Pflegebedarf errechne sich daher wie folgt:
1. Zeitraum: 17. 6. 2004 bis 6. 6. 2006: 700 Tage x 14 Stunden x 12,64 EUR Stundensatz = 123.872 EUR.
2. Zeitraum: 7. 6. 2006 bis 31. 12. 2009 (Betreuung „A*****“, dauernde Anwesenheit erforderlich): 1.303 Tage x 14 Stunden x 13 EUR Stundensatz = 237.146 EUR. Davon seien 10 % wegen der Fremdbetreuung bei „A*****“ (wie vom Kläger angemessen vorgenommen) abzuziehen, weil der Kläger dort pro Woche rund 26 Stunden, dies seien 15 % der Gesamtwochenstunden, betreut werde und infolge teilweiser Verlagerung der Betreuungsnotwendigkeiten aber nicht die vollen 15 %, sondern 10 % abzuziehen seien. Insgesamt stünden somit 213.431,40 EUR Pflegekosten für den genannten Zeitraum zu.
3. Zeitraum: 1. 1. 2010 bis 31. 12. 2011 (Betreuung „A*****“, keine dauernde Anwesenheit erforderlich): 365 Tage x 8 Stunden (5 Stunden Pflegebedarf + 3 Stunden Freizeitentgang der Pflegeperson) x 13 EUR Stundensatz = 75.920 EUR. Hier sei kein Abzug für die Betreuung durch „A*****“ vorzunehmen, weil die festgestellte Pflege von fünf Stunden durch die Mutter erbracht werde.
Insgesamt ergebe sich daher ein Betrag von 413.273,40 EUR, abzüglich der 25%igen Mitverschuldensquote somit 309.917,55 EUR, weiters abzüglich des erhaltenen Pflegegeldes von 91.237,80 EUR und Akontozahlung für Pflege von 86.354,55 EUR zuzüglich vom Kläger getragenem Kostenbeitrag für „A*****“ (bereits gekürzt um die Mitverschuldensquote) von 13.374,89 EUR, daher insgesamt ein Betrag von 145.699,69 EUR an Pflege und Betreuungsaufwand, der dem Kläger zuzusprechen sei.
Das Berufungsgericht änderte über Berufung des Klägers die Entscheidung dahingehend ab, dass es ihm insgesamt 159.390,69 EUR sA zusprach. Der Kläger zeige zutreffend auf, dass er in erster Instanz vorgebracht habe, dass er freie Kost und Logis erhalten hätte, was das Erstgericht in seiner Entscheidung auch so wiedergebe. Trotzdem habe es den Verdienstentgang unter Abzug für Kost und Logis berechnet. Ohne einen solchen Abzug hätte der Kläger aber 148.887,64 EUR verdient, sodass nach Kürzung um die Mitverschuldensquote und Abzug der anrechenbaren Pensionszahlungen sowie Akontozahlung der Beklagten ein Verdienstentgangsanspruch von 13.691 EUR verbleibe und der Zuspruch um diesen Betrag zu erhöhen sei.
Der Berufung der Beklagten gab das Berufungsgericht hingegen nicht Folge. Es bestätigte die Feststellung, dass bis Ende 2009 eine durchgehende Betreuung des Klägers notwendig gewesen sei. Dem Argument, die Mutter könne ihren Freizeitaktivitäten während jener Zeit, in der sich der Kläger bei „A*****“ aufhalte, nachgehen, hielt es entgegen, dass unbekämpft feststehe, dass der Grund für die nicht durchgeführten Freizeitaktivitäten die psychische und physische Belastung der Mutter durch die Pflege des Klägers sei. Deswegen habe das Erstgericht den Freizeitentgang der Pflegeperson zutreffend berücksichtigt und sei der Zuspruch letztlich auch durch die nach wie vor notwendige ständige Rufbereitschaft einer Pflegeperson gedeckt.
Die Reduktion des Pflegebedarfs des Klägers wegen der 26‑Stunden‑Betreuung bei „A*****“ pro Woche um 10 % sei nachvollziehbar und durch das Gutachten Dris. K***** (Beilage ./C) gedeckt. Dass die gesamte Pflegezeit bei „A*****“ auf die Pflegeleistungen der Mutter anzurechnen sei, sei nicht vom Vorbringen erster Instanz gedeckt und widerspreche daher dem Neuerungsverbot. Der Aufenthalt in der Betreuungseinrichtung vermöge im Übrigen das familiäre Umfeld und die Grundbetreuung in der Familie nicht zur Gänze zu entlasten, weil diese nicht von der Betreuungseinrichtung übernommen würden.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
Gegen diese Entscheidung richten sich die außerordentlichen Revisionen beider Parteien .
Der Kläger strebt eine Stattgebung mit insgesamt 179.982,60 EUR sA an und erachtet die Revision für zulässig, weil die bestehenden Beweislastregeln ihm aufgrund der Tatsache, dass er nie im Erwerbsleben gestanden habe, einen Nachweis des Verdienstentgangs nur sehr schwer und bei bestimmten Einkommensanteilen überhaupt nicht möglich machten. Dies führe zu einer schwerwiegenden Benachteiligung des Anspruchstellers und einer unangemessenen Entlastung des Schädigers. Die Problematik treffe alle Anspruchsteller, die als Schüler oder Jugendliche zu Schaden kämen und vor dem nahezu unlösbaren Problem stünden, Verdienstentgangsansprüche nachweisen zu müssen. Für diese Gruppe sei die Anwendung der allgemeinen Beweislastregeln eine unangemessene Härte. Bei der Ermittlung des hypothetischen Verdienstes sei von einem Mittelwert, also von einer durchschnittlichen Entwicklung auszugehen und der Anspruchsteller nicht auf den untersten beweisbaren Wert zu beschränken. Nur so könne ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der Geschädigten und des Schädigers gefunden werden. Dazu existiere keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.
Die beklagte Partei strebt in ihrer Revision eine Abweisung des Klagebegehrens im Umfang von weiteren 26.682,81 EUR (19.500 EUR Pflegekosten und 7.182,81 EUR Verdienstentgang) sA an und stellt in eventu einen Aufhebungsantrag. Sie erachtet die Revision für zulässig, weil Judikatur zur Frage fehle, welche Ansprüche eines pflegebedürftigen Verletzten zuzusprechen seien, wenn die Pflege sowohl durch eine entsprechende Einrichtung als auch durch Familienangehörige erfolge und die insgesamt erbrachten Pflegeleistungen den festgestellten Bedarf überstiegen. Der Kläger werde über etwa 26 Stunden wöchentlich in einer Betreuungseinrichtung betreut, dennoch seien von den Pflegeleistungen der Mutter bis 2009 nur 10 % abgezogen worden und ab 2010 gar nichts. Es werde nicht begründet, warum die Beklagte die Kosten der Pflege durch „A*****“ zu übernehmen habe, obwohl diese Pflegeleistungen den notwendigen Pflegeaufwand der Mutter nicht reduzierten. Daraus folge nämlich, dass diese Aufwendungen nicht erforderlich oder geeignet seien, die vermehrten Bedürfnisse des Klägers abzudecken, weshalb kein Ersatzanspruch bestehe. Der Zuspruch von drei Stunden Freizeitentgang der Mutter des Klägers täglich sei schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil nicht feststehe, dass in diesen Zeiten ansonsten die Anwesenheit einer professionellen Pflegekraft erforderlich wäre.
Zum Verdienstentgang stützt sich die Beklagte auf Aktenwidrigkeit sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens und verweist darauf, dass in den von den Vorinstanzen herangezogenen Beträgen jeweils der vom Sachverständigen ausgewiesene Verdienst von Juli 2003 bis Dezember 2011 enthalten sei. Der Unfall des Klägers habe aber erst am 3. 9. 2003 stattgefunden und sein Begehren sei ab 1. 10. 2003 gestellt worden. Es sei daher ein Verdienstentgang für Zeiträume zugesprochen worden, die vor dem Unfall lägen und auch nicht begehrt worden seien, sodass daher ein Verstoß gegen § 405 ZPO und damit ein erheblicher Verfahrensmangel auch des Berufungsverfahrens vorliege.
Die klagende Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung in Bezug auf die Revision der beklagten Partei, diese als unzulässig zurückzuweisen; in eventu, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der klagenden Partei zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf. Sie ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
Dagegen ist die Revision der beklagten Partei zulässig , weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung zum Pflegeentgelt bei betreuenden Familienangehörigen abgewichen ist; sie ist insoweit im Sinne der beantragten Aufhebung auch berechtigt .
I. Zur Revision des Klägers:
Grundsätzlich ist es Voraussetzung für jeden Ersatzanspruch wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, dass der Berechtigte zur Zeit des Unfalls seine Erwerbsfähigkeit im Erwerbsleben auch eingesetzt hat. Ein durch die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit herbeigeführter Vermögensnachteil kann aber auch in Zukunft eintreten, obwohl der Verletzte zur Zeit des Unfalls nichts verdiente, nämlich dann, wenn anzunehmen ist, dass er Erwerb gesucht und gefunden hätte (RIS‑Justiz RS0030484; RS0030440). Eine Person, die durch einen Unfall am Körper verletzt wurde, hat daher auch dann Anspruch auf Ersatz eines Verdienstentgangs, wenn sie zum Zeitpunkt des Unfalls (noch) nicht im Erwerbsleben stand. Es trifft sie dann die Beweislast dafür, dass sie einen künftigen Beruf gesucht und gefunden hätte. Welches Einkommen sie bei Ausnützung ihrer Erwerbsfähigkeit ohne die Unfallsfolgen erzielt hätte, kann nur aufgrund hypothetischer Feststellungen über einen nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge zu erwartenden Geschehnisablauf beurteilt werden (2 Ob 200/11t; 2 Ob 16/01v mwN; 1 Ob 156/01f; Reischauer in Rummel ABGB 3 II 2b § 1325 Rz 23; Danzl in KBB 5 § 1325 Rz 13).
Dies ist entgegen der Ansicht des Revisionswerbers aber keine besondere Härte, sondern allgemeiner Grundsatz des Schadenersatzrechts, wonach der Schädiger den Geschädigten grundsätzlich so zu stellen hat, wie er ohne schuldhaftes Verhalten gestellt wäre. Der Schaden ist durch eine Differenzrechnung zu ermitteln, indem zunächst der hypothetische heutige Vermögensstand ohne das schädigende Ereignis zu ermitteln und von diesem Betrag der heutige tatsächliche Vermögenswert abzuziehen ist (RIS‑Justiz RS0030153). Dazu liegen hier konkrete Feststellungen vor. Bei seinem Begehren auf Feststellung eines „Mittelwerts“ handelt es sich in Wahrheit um eine Frage der in dritter Instanz nicht überprüfbaren Beweiswürdigung.
Eine erhebliche Rechtsfrage wird daher mit diesen Ausführungen nicht aufgezeigt (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).
II. Zur Revision der beklagten Partei:
II.1. Zum Verdienstentgang:
Die vom Erst‑ und Berufungsgericht herangezogenen Beträge an Verdienstentgang unterscheiden sich dadurch, dass das Erstgericht den vom Sachverständigen ermittelten Betrag nach Abzug für Kost und Logis, das Berufungsgericht dagegen jenen vor diesem Abzug herangezogen hat. Nach der im erstinstanzlichen Urteil enthaltenen Tabelle beziehen sich allerdings tatsächlich beide Beträge auf den Zeitraum 7/2003 bis 12/2011. Es ist daher richtig, dass darin auch Zeiten enthalten sind, die vor dem Unfalltag und damit auch vor dem Zeitpunkt, ab dem der Kläger Verdienstentgang begehrt (1. 10. 2003: Seite 3 der Klage), liegen.
Diesen Umstand hat die beklagte Partei im Berufungsverfahren aber nicht bekämpft, sondern ihre Berufung ausschließlich in Bezug auf die Pflegeleistungen ausgeführt (ON 102), sodass die insoweit versäumte Rechtsrüge in der Revision nicht mehr mit Erfolg nachgetragen werden kann (RIS‑Justiz RS0043480).
II.2. Zu den Kosten der Pflege und Betreuung:
II.2.1. Hier hat das Erstgericht – jedenfalls in seiner rechtlichen Beurteilung – drei Zeiträume mit unterschiedlichen Betreuungsumständen unterschieden (1. Zeitraum 17. 6. 2004 bis 6. 6. 2006: ausschließliche Betreuung zu Hause; 2. Zeitraum 7. 6. 2006 bis 31. 12. 2009: Betreuung „A*****“, dauernde Anwesenheit erforderlich, und 3. Zeitraum 1.1. 2010 bis 31. 12. 2011: Betreuung „A*****“, keine dauernde Anwesenheit erforderlich).
Die Argumentation der Beklagten in der Revision betrifft einerseits den – zu geringen – Abzug für die Betreuung durch „A*****“ (die ebenfalls zu ersetzen sei), und andererseits den zusätzlichen Zuspruch für „Freizeitverlust“ in der letztgenannten Periode.
II.2.2. Zur Angehörigenpflege:
Erbringt ein Dritter auf Grund familienrechtlicher Verpflichtungen Leistungen an oder für den Geschädigten, um dessen unfallbedingt vermehrte Bedürfnisse zu befriedigen, dann geschieht dies nicht zu dem Zweck, den Schädiger zu entlasten. Solche Leistungen werden nicht auf den Schaden angerechnet. Es handelt sich hier um einen Fall der Schadensverlagerung, nicht aber um einen nicht ersatzfähigen mittelbaren Schaden (RIS-Justiz RS0022789).
Nach nunmehr ständiger Judikatur des Obersten Gerichtshofs ist der Schaden nicht objektiv-abstrakt zu berechnen, sondern es ist der tatsächliche Pflegebedarf konkret zu ermitteln und sodann der objektive Wert der von dritter Seite erbrachten Sach- oder Arbeitsleistung zur Grundlage der Vergütung zu nehmen. Es wird darauf abgestellt, welche Kosten die Befriedigung dieser konkreten Bedürfnisse durch professionelle Kräfte erfordern würde. Die Pflegeleistungen sind nicht als fiktiver Schaden bzw als fiktive Aufwendungen zur Schadensbeseitigung zu qualifizieren, weil die Pflege tatsächlich durchgeführt wird. Fiktiv ist lediglich die Berechnungsmethode, weil der Berechnung Leistungen durch professionelle Kräfte zugrunde gelegt werden, die in dieser Form nicht erbracht werden (RIS‑Justiz RS0022789 [T10]; 5 Ob 38/04f).
Zu den Zeiten tatsächlicher Pflegeleistungen kommt noch jene Zeit, in der zwar keine konkrete Pflege und Betreuung notwendig ist, aber dennoch eine Betreuungsperson anwesend sein muss, zB im Sinne einer Rufbereitschaft bzw um unvorhersehbar auftretende Betreuungsnotwendigkeiten übernehmen zu können. Auch solche Zeiten müssten bei Fremdpflege grundsätzlich abgegolten werden.
Handelt es sich bei der Betreuungsperson aber um einen im selben Wohnverband lebenden Angehörigen, so sind Zeiten, während derer die Pflegeperson jedenfalls in der selben Wohnung (und daher auch beim Verletzten) anwesend wäre (insbesondere während der Nacht und während der Hausarbeit), nicht zu ersetzen, weil sie keinen konkreten Schaden darstellen (RIS‑Justiz RS0022789 [T3]; 2 Ob 49/98i ZVR 1998/128; 2 Ob 338/99s; 2 Ob 99/02a; 2 Ob 24/04z; 2 Ob 176/05d ZVR 2007/124 [ Huber ]; Veith , Pflege von Verletzten durch Familienangehörige: Ein Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des OGH, ZVR 2014, 112 [113]). Damit sind jene Zeiträume gemeint, in denen sich die Pflegeperson in denselben Räumlichkeiten, also beim Verletzten, befindet, aber nicht wegen des Verletzten, sondern aus anderen Gründen, wie eben Hausarbeit oder Nachtruhe, wie jeder andere Benutzer einer Wohnung auch (2 Ob 137/09z = RIS‑Justiz RS0022789 [T17]). Insoweit wird also die „reine Anwesenheit/Rufbereitschaft“ nicht abgegolten.
II.2.3. Zeiten, die die Person, die den Verletzten pflegt, allerdings sonst außer Haus verbringen würde und auf die sie nunmehr verzichtet, um beim Geschädigten anwesend zu sein, ohne aktuell tatsächliche Pflege- oder Betreuungsleistungen zu erbringen, in denen sie also auf sonst in Anspruch genommene Freizeit verzichtet, hat der erkennende Senat ebenfalls als ersatzpflichtig angesehen, wenn in diesen Zeiten ansonsten eine dritte Pflegeperson anwesend sein müsste. Ob dies auch für im selben Wohnverband verbrachte Zeiten und Tätigkeiten gilt, die die Betreuungsperson nicht unterbrechen kann oder möchte, in denen sie daher ebenfalls als Betreuungsperson nicht zur Verfügung steht (vgl die Kritik von Huber zum Ersatz – nur – der von ihm so bezeichneten „Outdoor-Aktivitäten“ in: Das Ausmaß des Schadenersatzanspruchs bei Pflege durch Angehörige rund um die Uhr, ÖJZ 2007, 625 [632]), braucht hier nicht beantwortet werden, weil ohnehin nur Ersatz für „Outdoor-Zeiten“ begehrt wird.
Bei diesen Zeiten geht es im Übrigen nicht um einen im Freizeitverlust gelegenen Schaden der Pflegeperson (weshalb es entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nicht entscheidend ist, ob die Pflegeperson solchen Freizeitaktivitäten zB auch wegen Be- oder Überlastung durch die Pflege nicht nachgeht), sondern ist die Klärung dieser Frage vielmehr deshalb von Bedeutung, weil dem Geschädigten auch für diese Zeit der Ersatz der Kosten einer professionellen Pflegekraft gebührt (2 Ob 226/07k ZVR 2009/206 [ Huber ]).
II.2.4. Zu den Zeiten der Betreuung bei „A*****“:
Nach der Rechtsprechung sind Zeiten, in denen – zB wegen Krankenhausaufenthalten des Geschädigten – Betreuungsleistungen nicht erbracht werden, aus der Berechnung auszuklammern (2 Ob 176/05d; Veith , ZVR 2014, 113).
Für Zeiten, in denen der Kläger bei „A*****“ betreut wird, können daher grundsätzlich nicht auch Pflegezeiten zu Hause ersetzt werden. Ein pauschaler Abzug von nur 10 % entspricht angesichts der konkret feststellbaren und auch festgestellten Betreuungszeiten zu Hause und bei „A*****“, die die Anwendung des § 273 ZPO verhindern, nicht der Rechtsprechung. Da die Beklagte auch die Betreuungskosten bei „A*****“ zu ersetzen hat, läge darin eine dem Schadenersatzrecht fremde – praktisch 90%ige – „Doppelverrechnung“ von Betreuungszeiten.
II.2.5. Ergebnis:
Bei der Beurteilung der Kosten der Pflege und Betreuung Geschädigter sind daher die ersatzpflichtigen Zeiten tatsächlicher Pflege und jene notwendiger Anwesenheit/Rufbereitschaft von jenen Zeiten, in denen beides nicht notwendig ist, zu unterscheiden.
Zu den Zeiten tatsächlich notwendiger Pflege sind daher die Zeiten der notwendigen Anwesenheit beim Geschädigten bzw der erforderlichen Rufbereitschaft hinzuzählen. Ist dies rund um die Uhr erforderlich, ist lediglich die Zeit der „Ohnehin-Anwesenheit“ des pflegenden Angehörigen abzuziehen, um die zu ersetzende Pflegezeit zu erhalten, oder die Zeit des Freizeitverzichts zur Zeit der tatsächlichen Pflege hinzuzuzählen, um die Zeit der nicht ersatzfähigen „Ohnehin-Anwesenheit“ zu eruieren.
Erfolgt die Pflege des Geschädigten auch außer Haus, sind diese Zeiten grundsätzlich nicht ersatzfähig und daher auszuscheiden. Bei den restlichen erforderlichen Zeiten der Pflege, Anwesenheit bzw Rufbereitschaft ist zu untersuchen, welche Zeiten davon der pflegende Angehörige, ohne dass er konkrete Pflegeleistungen erbringt, ohnehin zu Hause wäre und die deshalb nicht ersatzfähig sind, bzw umgekehrt, für welche Zeiträume der Angehörige nur deshalb zu Hause ist, um den Angehörigen zu betreuen, die er sonst aber anderwärtig verbringen würde, und die daher ebenfalls ersatzfähig sind, weil ansonsten eine dritte Pflegeperson anwesend sein müsste.
Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren im Sinne dieser Grundsätze präzise Feststellungen zu treffen haben, um beurteilen zu können, ob die Beklagte noch eine weitere Ersatzpflicht im Rahmen der im Revisionsverfahren bekämpften 19.500 EUR an Pflegekosten trifft oder nicht.
Letztlich ist darauf zu verweisen, dass mangels genauerer Feststellbarkeit für solche Zeiten in der Rechtsprechung bisher zB auch ein – unter Anwendung des § 273 ZPO ausgemessener – 10%iger Zuschlag zu den tatsächlichen Betreuungszeiten gebilligt wurde (2 Ob 137/09z; RIS‑Justiz RS0022789 [T18]; 2 Ob 152/99p ZVR 2001/106; 7 Ob 63/10f; Veith aaO).
II.3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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