European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0110OS00060.16G.1011.000
Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Gründe:
Mit Strafantrag vom 28. April 2015 (ON 3) warf die Staatsanwaltschaft Innsbruck Christian S***** unter den Vergehen der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG und der Unterdrückung eines Beweismittels nach § 295 StGB subsumierte Sachverhalte vor.
Danach habe er am 4. März 2015 in I*****
1./ vorschriftswidrig Suchtgift, und zwar eine unbekannte Menge Kokain mit zumindest 20%igem Reinsubstanzgehalt und in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge mit dem Vorsatz erworben und besessen, dass es in Verkehr gesetzt werde sowie
2./ durch Entfernen zweier Plastikdosen samt Waage, eines Schraubenziehers und einer Vielzahl von Plastiksäckchen sowie des „zu Punkt 1./ genannten Suchtgifts (verbotener Gegenstand)“ aus den Räumlichkeiten des Unternehmens „W*****-Bauträger“, nachdem die Kriminalpolizei bereits Kenntnis von der Existenz der Gegenstände erlangt hatte und nach diesen fahndete, sohin Beweismittel, die zur Verwendung in einem gerichtlichen Verfahren bestimmt waren und über die er nicht allein verfügen durfte, mit dem Vorsatz, zu verhindern, dass sie im Verfahren gebraucht werden, unterdrückt.
Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 24. Juli 2015, GZ 24 Hv 49/15t‑8, wurde Christian S***** vom Vorwurf der Vorbereitung von Suchtgifthandel freigesprochen, der Beweismittelunterdrückung hinsichtlich der oben genannten Gegenstände und einer „unbekannten Substanz“ jedoch schuldig erkannt. Den Freispruch begründete das Erstgericht im Wesentlichen damit, dass aufgrund der Beseitigung der von seinen Arbeitskollegen aufgefundenen Substanz durch den Angeklagten noch vor Eintreffen der bereits verständigten Polizei im Zweifel nicht mehr festgestellt werden könne, dass es sich dabei um eine „illegale Substanz im Sinne des Suchtmittelgesetzes“ gehandelt habe.
Gegen dieses Urteil erhob Christian S***** Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe (ON 9) und machte – soweit hier von Relevanz – unter dem Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO einen Verstoß gegen das nemo-tenetur-Prinzip des Art 6 Abs 2 MRK in Ansehung der Verurteilung wegen § 295 StGB geltend (ON 11).
Mit Beschluss vom 19. November 2015, Zl G 477/2015/8, (ON 20 der Hv‑Akten) wies der Verfassungsgerichtshof den auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG gestützten Individualantrag des Verurteilten auf Aufhebung der Bestimmung des § 295 StGB idF BGBl I 93/2007 (ON 15 S 3 f) als unzulässig (weil verspätet) zurück.
Das Oberlandesgericht Innsbruck gab der Berufung des Angeklagten mit Urteil vom 13. Jänner 2016 zu AZ 6 Bs 278/15f nicht Folge und hielt der behaupteten Konventionswidrigkeit entgegen (ON 24 S 12 f), dass die Einschränkung der – aus den Bestimmungen über den Aussagenotstand (§ 290 StGB), die Begünstigung in § 299 Abs 3 zweiter Fall StGB sowie die Gefangenenbefreiung in § 300 Abs 2 StGB hervorgehenden grundsätzlichen, aber auch sonst nicht ausnahmslosen (vgl § 290 Abs 3 StGB) – Straflosigkeit einer Selbstbegünstigung beim Tatbestand des § 295 StGB, wonach das Beweismittel allein in der Verfügungsberechtigung des Täters liegen muss, in keinem Gegensatz zu den Grundsätzen eines fairen Verfahrens stehe. Diese ließen nämlich über die den Verdächtigen garantierten Rechte (Art 6 MRK) hinaus die Interessen der Rechtspflege (vgl Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit c MRK) im Sinn einer Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs unberührt. Weil der Angeklagte noch in der Berufungsverhandlung auf ausdrückliche Nachfrage dabei geblieben sei, die inkriminierten Gegenstände hätten ihm nicht gehört, könne kein Zwang zur Selbstbelastung ersehen werden, wenn das Gesetz jemanden dazu verpflichte, einen Beweisgegenstand, der dieser Person gar nicht gehöre, lediglich an Ort und Stelle zu belassen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Erneuerungsantrag des Christian S***** gemäß § 363a StPO (RIS‑Justiz RS0122228), der neuerlich eine Verletzung des nemo-tenetur-Prinzips releviert und ergänzend vorbringt, das Oberlandesgericht hätte bei verfassungskonformer Auslegung des § 295 StGB zum Ergebnis gelangen müssen, dass bereits die Androhung einer strafrechtlichen Sanktion, mit der ein Beschuldigter genötigt werde, ein ihn belastendes Beweismittel bis zur Sicherstellung oder Beschlagnahme nicht zu verändern oder zu entfernen, einen durch Art 6 Abs 2 MRK verpönten Druck zur Selbstbelastung erzeuge.
Rechtliche Beurteilung
Das Verbot eines Zwangs zur Selbstbelastung (
nemo-tenetur-Prinzip) wird aus Art 6 MRK, vom Verfassungsgerichtshof auch aus Art 90 Abs 2 B‑VG, der verfassungsmäßigen Verankerung des Anklageprinzips, abgeleitet (VfSlg 12.454/1997). Dieser Grundsatz ist in Art 6 MRK nicht ausdrücklich erwähnt, wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aber zum Kernbereich eines fairen Verfahrens gerechnet, wobei der Gerichtshof stets auf den engen Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung gemäß Art 6 Abs 2 MRK hinweist. Es obliegt den Strafverfolgungsbehörden, einen Beschuldigten zu überführen, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwangs‑ oder Druckmittel ohne den Willen des Beschuldigten erlangt wurden (EGMR, 8. Februar 1996, Nr 18731/91, Murray/Vereinigtes Königreich; Giefing, JBl 2005, 85; Reiter, RZ 2010, 103; § 7 Abs 2 StPO). Demgemäß ist nur der Zwang zur aktiven Mitwirkung an der Schaffung von Beweisen gegen sich selbst verboten, nicht aber die Verwertung von Material, das unabhängig vom Willen des Beschuldigten bereits eigenständig existiert. Damit unterscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwischen einer grundrechtswidrigen unmittelbar erzwungenen (aktiven) Aussage bzw Handlung des Beschuldigten und einer zulässigen wirkungsgleichen Verpflichtung zur (passiven) Mitwirkung an der Beweisführung (Birklbauer, WK‑StPO, Vor §§ 118–124 Rz 9 f; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 24 Rz 138).
Diese in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte manifestierten Richtlinien (vgl EGMR 17. Dezember 1996, Nr 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich; EGMR 25. Februar 1993, Nr 10828/84, Funke/Frankreich) missachtet der Antragsteller, dem nach den auf seine eigenen Angaben gestützten Annahmen der Vorinstanzen überhaupt kein Verfügungsrecht an den Gegenständen zukam, wenn er die strafrechtliche Sanktionierung der Beseitigung von zum relevanten Zeitpunkt seines Handelns bereits dinglich vorhandenen, von anderen ohne sein Zutun in einem Versteck aufgefundenen und der Kriminalpolizei bekanntgegebenen – somit in die Außenwelt getretenen – Beweismitteln durch § 295 StGB als „Nötigung“ und menschenrechtswidrige „unmittelbare Ausübung von Druck“ zur Selbstbelastung bezeichnet. Im Übrigen hält auch der Verfassungsgerichtshof eine bloß „passive Mitwirkungspflicht“ im Sinn einer Verpflichtung, Veränderungen am Tatort zu unterlassen, etwa keine Spuren zu verwischen oder keine wesentlichen Beweismittel zu hintertreiben, mit dem Anklageprinzip für vereinbar (VfSlg 5295/1966). Die erkennbar angestrebte analoge Anwendung der Straflosigkeitsgründe des § 299 Abs 2 bis 4 StGB scheitert zufolge Fehlens einer planwidrigen Gesetzeslücke (Plöchl/Seidl in WK² StGB § 295 Rz 30 mwN).
Soweit der Verurteilte eine Verfassungswidrigkeit der Bestimmung des § 295 StGB selbst behauptet, ist dieses Vorbringen aufgrund der seit 1. Jänner 2015 geltenden Rechtslage (BGBl I 2013/114 iVm BGBl I 2014/92), mit welcher der Gesetzgeber ein subjektives Recht auf Normanfechtung durch die Strafgerichte ausdrücklich verneint hat (RIS‑Justiz RS0130514; vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 597 und § 285j Rz 4–6), unbeachtlich.
Der Antrag war daher gemäß § 363b Abs 2 StPO bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen.
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