European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0140OS00073.16S.0914.000
Spruch:
Das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 27. April 2016, GZ 063 Hv 164/15w‑56, verletzt § 87 Abs 2 erster Fall (§ 85) StGB idF vor BGBl I 2015/112.
Dieses Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, wird in der Subsumtion des dem Schuldspruch zugrunde liegenden Täterverhaltens auch nach § 87 Abs 2 erster Fall (§ 85) StGB idF vor BGBl I 2015/112, demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) sowie im 5.060 Euro übersteigenden Zuspruch an den Privatbeteiligten Lakhbir S***** und in der Verweisung dieses Privatbeteiligten mit seinen über den erfolgten Zuspruch hinausgehenden Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Mit ihrer Berufung wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 27. April 2016, GZ 063 Hv 164/15w‑56, wurde Harjit S***** des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StGB idF vor BGBl I 2015/112 (US 10) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt.
Danach hat er am 6. Oktober 2015 in W***** Lakhbir S***** absichtlich schwer am Körper verletzt, indem er ihm mit einem Messer einen wuchtigen Hieb gegen den Gesichts- und Schulterbereich versetzte, wobei die Tat eine tief klaffende, schräg vom linken Mundwinkel bis zum linken Ohransatz verlaufende Schnittwunde an der linken Wange mit Durchtrennung einer Arterie, des linken Kaumuskels, Verletzung eines Astes des linken Facialisnervs und teilweiser Eröffnung der Mundhöhle sowie eine oberflächliche, 5 cm messende, schräg verlaufende Schnittwunde an der Innenseite des rechten Oberarms, sohin eine an sich schwere Verletzung und eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit, „sowie für lange Zeit eine auffallende Verunstaltung, nämlich eine ausgeprägte und sichtbare Narbenbildung an der linken Wange“, zur Folge hatte.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angemeldet (ON 55 S 8), diese Rechtsmittel jedoch in der Folge zurückgezogen (ON 66). Über die Berufung der Staatsanwaltschaft (ON 61) hat das Oberlandesgericht Wien noch nicht entschieden.
Zu den – hier interessierenden – Folgen der Tat stellte das Schöffengericht fest, dass es sich bei der – wie im Urteilsspruch beschriebenen – Schnittwunde im Gesicht des Tatopfers aus medizinischer Sicht um eine an sich schwere Verletzung handelte, die zudem mit einer länger als vierundzwanzig Tage dauernden Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit verbunden war. „Überdies hatte die Tat eine ausgeprägte und sichtbare Narbenbildung an der linken Wange zur Folge. Ob diese auffällige Narbenbildung dauerhaft ist, kann erst in einem Jahr definitiv gesagt werden; die Narbe ist jedenfalls noch über eine lange Zeit deutlich sichtbar. […] Dauerfolgen können aus medizinischer Sicht noch nicht festgestellt werden“ (US 5 f).
Im Rahmen der Beweiswürdigung verwiesen die Tatrichter zur auffallenden Verunstaltung des Lakhbir S***** auf im Akt erliegende Lichtbilder und hielten ergänzend fest, dass die (15 cm lange; US 9) Narbe in der Hauptverhandlung am 27. Jänner 2016 noch „deutlich sichtbar“ gewesen sei. „Ob diese Narbe wegen der guten Abheilung, wie die Sachverständige ausführt, für immer so auffällig sichtbar sein wird“, könne „noch nicht gesagt werden“. Das Gericht habe sich jedoch „selbst ein Bild davon machen können“, dass sie „jedenfalls für längere Zeit, also mehrere Monate, sichtbar bleiben wird“ (US 7 f).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht die rechtliche Beurteilung des Täterverhaltens auch nach § 87 Abs 2 erster Fall (§ 85 Z 2) StGB (idF vor BGBl I 2015/112) mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Die Annahme dieser Erfolgsqualifikation setzt voraus, dass die Tat für immer oder für lange Zeit eine erhebliche Verstümmelung oder eine auffallende Verunstaltung (vgl dazu Burgstaller/Fabrizy in WK² StGB § 85Rz 12) zur Folge hat.
„Für immer“ bedeutet auf Lebenszeit des Verletzten. Die von § 85 StGB alternativ geforderte „lange Zeit“ hebt sich nicht nur deutlich von der 24-Tage-Grenze des § 84 Abs 1 StGB ab, sondern kann überhaupt nur durch einen Zeitraum als erfüllt angesehen werden, der von der durchschnittlich zu erwartenden weiteren Lebensdauer des Opfers einen wesentlichen Teil einnimmt (Burgstaller/Fabrizy in WK² StGB § 85 Rz 18 mwN; RIS-Justiz RS0092616).
Die dabei anzustellende Prognose, dass die auffällige Verunstaltung – wenn auch nicht mit an Sicherheit grenzender, so doch – mit großer Wahrscheinlichkeit lange Zeit andauern wird, hat auf Basis des neuesten Standes der Medizin zum Zeitpunkt des Urteils der letzten Tatsacheninstanz zu erfolgen (vgl Kienapfel/Schroll StudB BT I4 § 85 Rz 5 sowie erneut Burgstaller/Fabrizy in WK² StGB § 85 Rz 18 mwN).
Vorliegend haben die Tatrichter die oben näher beschriebene Narbe im Gesicht des Lakhbir S***** zwar rechtsrichtig als auffallende Verunstaltung beurteilt. Die unter Verwendung der verba legalia getroffene Feststellung, die Narbe sei „jedenfalls noch über lange Zeit deutlich sichtbar“ (US 5; vgl auch US 3),
stellt jedoch den unter dem Aspekt rechtsrichtiger Subsumtion erforderlichen
Sachverhaltsbezug (RIS-Justiz RS0119090) betreffend die mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchtende Dauer der Beeinträchtigung des (am 3. März 1987 geborenen; ON 6 S 3) Opfers in Relation zu dessen (durchschnittlich) verbleibender Lebensspanne nicht her, und vermag solcherart die Annahme der Qualifikation des § 87 Abs 2 erster Fall StGB nicht zu tragen. Die im Rahmen der Beweiswürdigung nachgetragene (zudem unsubstantiierte) Einschätzung des Schöffengerichts, wonach die Verunstaltung „jedenfalls für längere Zeit, also mehrere Monate sichtbar bleiben wird“ (US 7 f), reicht dafür gleichfalls nicht hin.
Da sich dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen zum Nachteil des Angeklagten auswirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, dessen Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).
Der Zuspruch von 5.060 Euro an den Privatbeteiligten Lakhbir S***** bezieht sich auf die durch die Verletzung erlittenen Schmerzen des Tatopfers (US 12 iVm US 6) und findet daher im nicht aufgehobenen Teil des Schuldspruchs (wegen § 87 Abs 1 StGB idF vor BGBl I 2015/112) Deckung, womit er insoweit nicht der Kassation verfallen musste. Demgegenüber war der Zuspruch von weiteren 500 Euro als Verunstaltungsentschädigung sowie die Verweisung dieses Privatbeteiligten mit seinen über den erfolgten Zuspruch hinausgehenden Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg aufzuheben, weil diese Aussprüche nur die von der Aufhebung umfasste Subsumtion des Täterverhaltens (auch) nach § 87 Abs 2 erster Fall (§ 85) StGB idF vor BGBl I 2015/112 betreffen (Ratz, WK‑StPO § 289 Rz 7; RIS‑Justiz RS0100493, RS0101303).
Mit ihrer Berufung war die Staatsanwaltschaft auf die Aufhebung des Strafausspruchs zu verweisen.
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