OGH 11Os55/16x

OGH11Os55/16x14.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Juni 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Dr. Nordmeyer, Mag. Michel und Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Jülg, BSc, als Schriftführer in der Übergabesache der A***** L***** wegen Übergabe an die Republik Polen zur Strafvollstreckung, GZ 30 HR 549/15w‑26 des Landesgerichts Innsbruck, über den Antrag der Betroffenen auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0110OS00055.16X.0614.000

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Gründe:

Mit Beschluss vom 9. Februar 2016, GZ 30 HR 549/15w‑17, erklärte die Einzelrichterin des Landesgerichts Innsbruck die Übergabe der polnischen Staatsangehörigen A***** L***** an die polnischen Behörden zur Strafvollstreckung der im Europäischen Haftbefehl des Kreisgerichts S***** vom 19. November 2015 (vgl Übersetzung ON 4) genannten – mit Urteil des Kreisgerichts S***** vom 4. Oktober 2013 zur AZ ***** wegen Betrugs verhängten – Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Jahr gemäß § 4 Abs 2, Abs 3 EU‑JZG für (nicht un‑)zulässig.

Der dagegen ergriffenen Beschwerde der Betroffenen (ON 21 iVm ON 22) gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 31. März 2016, AZ 7 Bs 86/16d (ON 36 der HR‑Akten) nicht Folge und begründete dies – zusammengefasst und soweit hier von Relevanz – damit, dass die in der Beschwerde nicht in Zweifel gezogenen Übergabevoraussetzungen nach § 11 Abs 1 Z 3 lit b EU‑JZG vorlägen, weil die seinerzeit Angeklagte nach Zustellung des eine Rechtsmittelbelehrung enthaltenden (Abwesenheits‑)Urteils des Kreisgerichts vom 4. Oktober 2013 kein Rechtsmittel ergriffen hat. Auf den Beschluss des Kreisgerichts S***** vom 23. Dezember 2014, AZ *****, mit welchem die bedingte Nachsicht der über die Betroffene verhängten Freiheitsstrafe – offenkundig wegen Nichtbefolgung der ihr erteilten Weisung zur Schadensgutmachung – widerrufen wurde, fänden die Bestimmungen des EU‑JZG über Abwesenheitsurteile keine Anwendung (BS 10 f).

Rechtliche Beurteilung

Der fristgerecht erhobene Erneuerungsantrag der A***** L***** gemäß § 363a StPO behauptet eine Verletzung von „Art 6 MRK und Art 47 Abs 2 GRC“, und regt eine „Hemmung des Vollzugs“ an (vgl ON 8 S 13e, wonach anlässlich einer Vernehmung vor dem Landesgericht Innsbruck am 26. April 2016 der zu einer freiwilligen Rückkehr nach Polen bereiten Betroffenen „mitgeteilt wird, dass sie sich bis spätestens 29. Mai 2016 in Polen einzufinden“ habe).

Die Antragstellerin behauptet, dass ihr im Abwesenheitsverfahren AZ ***** des Kreisgerichts S***** kein rechtliches Gehör gewährt worden sei. Da sowohl die Ladung zur Verhandlung am 4. Oktober 2013 als auch das Urteil desselben Tages aufgrund ihres dauerhaften Aufenthalts in Österreich an der von ihr dem Gericht bekanntgegebenen Zustelladresse in Polen von ihrer Mutter in Empfang genommen worden seien, sei die rechtzeitige Kenntnisnahme durch die Betroffene selbst jeweils nicht gesichert.

Der Antrag auf Erneuerung des Verfahrens ist unzulässig.

Zwar fällt das Übergabeverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK, doch können dessen Verfahrensgarantien für die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass sie im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren musste oder eine solche droht. Das bezieht sich jedoch nur auf das gerichtliche Strafverfahren, in dem über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage entschieden wird (RIS‑Justiz RS0123200 [insb T2, T3]).

Der Widerruf einer bereits rechtskräftig ausgesprochenen, zunächst bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe fällt hingegen nicht in den Schutzbereich des Art 6 MRK (Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 17; RIS‑Justiz RS0087109).

Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag, bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 bis Abs 3 MRK sinngemäß.

Das auf eine Verletzung von § 11 Abs 1 EU‑JZG aufgrund von Vorgängen im Erkenntnisverfahren abzielende Vorbringen des Erneuerungsantrags ist zufolge fehlender (horizontaler) Erschöpfung des Rechtswegs unbeachtlich, weil die behauptete Konventionsverletzung nicht zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (vgl RIS‑Justiz RS0122737 [insbesondere T13]; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 36 f).

Die Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichts Innsbruck vom 9. Februar 2016 (ON 21, Übersetzung ON 22) behauptete Verfahrensmängel, die allenfalls als Geltendmachung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs interpretiert werden könnten, indes ausschließlich in Bezug auf die – dem bereits unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen (Abwesenheits‑)Urteil vom 4. Oktober 2013 nachfolgende und damit nicht unter den Schutzbereich des Art 6 MRK fallende – Entscheidung des Kreisgerichts S***** vom 23. Dezember 2014, AZ *****, mit der die Vollstreckung der zunächst bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe beschlossen wurde.

Der Antrag war daher gemäß § 363b Abs 2 StPO bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen.

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