European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0150OS00170.15M.1209.000
Spruch:
Im Verfahren AZ 9 U 258/15a des Bezirksgerichts Innsbruck verletzen
1./ der in Abwesenheit der Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 8. September 2015 vorgenommene Vortrag der im Abschlussbericht der Polizeiinspektion Pradl vom 13. August 2015 enthaltenen Darstellung der Angaben der Zeugin Hiltrud P***** § 252 Abs 1 und Abs 2a StPO;
2./ die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls spätestens zugleich mit der Urteilsausfertigung an die Angeklagte § 271 Abs 6 letzter Satz StPO;
3./ die Unterlassung der Anordnung der Zustellung einer Rechtsmittelbelehrung in der richterlichen Zustellverfügung vom 17. September 2015 § 152 Abs 3 Geo und § 129 Abs 4 Geo;
4./ die Entscheidung über den Einspruch gegen das Abwesenheitsurteil vom 24. August 2015 ohne vorläufige Vernehmung des Anklägers § 478 Abs 2 erster Satz StPO;
5./ die Unterlassung der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des in der Hauptverhandlung vom 8. September 2015 gefassten Beschlusses auf Verhängung einer Ordnungsstrafe an die zur Beschwerde legitimierte Zeugin § 86 Abs 2 StPO.
Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 8. September 2015, GZ 9 U 258/15a‑5, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck verwiesen.
Gründe:
Am 17. August 2015 erhob die Staatsanwaltschaft Innsbruck zu AZ 9 U 258/15a des Bezirksgerichts Innsbruck Strafantrag gegen Cornelia T***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB (ON 3).
Der am 24. August 2015 zugestellten (ON 4 S 1) Ladung zur Hauptverhandlung vom 8. September 2015 kam die Angeklagte unentschuldigt nicht nach, worauf die mit der Strafsache befasste Richterin des Bezirksgerichts Innsbruck die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten gemäß § 427 Abs 1 StPO beschloss und deren Aussage (ON 2 S 13) verlas (ON 4 S 1). Weiters wurde ‑ nach Eröffnung des Beweisverfahrens ‑ festgehalten, dass die Zeugin Hiltrud P***** ohne Entschuldigung nicht erschienen ist, obgleich sie die Ladung „telefonisch zur Kenntnis genommen“ habe. Betreffend die Genannte wurde der Beschluss auf Verhängung einer Ordnungsstrafe (von 100 Euro) gefasst. Im Anschluss an die Feststellung, dass „von der Vernehmung dieser Zeugin ... Abstand genommen“ werde, wurde laut Protokoll sodann „gemäß § 252 Abs 2 StPO“ die Anzeige der Polizeiinspektion Pradl (ON 2), insbesondere die Strafkarte (S 7 ff) „dargetan“ (ON 4 S 2).
Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag, GZ 9 U 258/15a‑5, wurde Cornelia T***** des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen (im Uneinbringlichkeitsfall 75 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.
Danach hat sie am 6. August 2015 in Innsbruck Verfügungsberechtigten des Geschäfts „H*****“ eine fremde bewegliche Sache, nämlich ein Kinder‑Pelz‑Gilet im Wert von 29,99 Euro mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch die Zueignung unrechtmäßig zu bereichern.
Die Entscheidung gründete das Bezirksgericht Innsbruck ua auf die im Abschlussbericht der Polizeiinspektion Pradl dargestellten Angaben der Zeugin Hiltrud P***** und billigte der Einlassung der Angeklagten, bei der Tat „verwirrt“ gewesen zu sein, keine Glaubwürdigkeit zu (US 2).
Am 17. September 2015 ordnete die Bezirksrichterin auf der Urteilsschrift mit der Verfügung „Verurteilter mit RSa, Unterschrift RP, Kalender RK“ die Zustellung einer Urteilsgleichschrift an Cornelia T*****, nicht aber die Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls sowie einer Rechtsmittel‑ belehrung für Abwesenheitsurteile im bezirksgerichtlichen Verfahren an (ON 5 S 5). Letztere wurde jedoch ‑ laut Register VJ ‑ im Zuge der Abfertigung durch die Kanzlei gemeinsam mit dem Abwesenheitsurteil der Angeklagten zugesandt.
Am 23. September 2015 erhob Cornelia T***** gegen das Urteil ein als „Antrag auf Berufung im Fall 9 U 258/15a‑5“ bezeichnetes Rechtsmittel, das unter der Bezugnahme auf ihre Aussage und „entlastende Beweise“ die Forderung nach einem „milderen“ Urteil und nach einer Berufungsverhandlung enthielt. Weiters führte die Genannte aus, dass ihr ein pünktliches Erscheinen zur Hauptverhandlung wegen ausgefallener Busverbindungen nicht möglich gewesen sei und sie sich am 8. September 2015 bloß um ein paar Minuten verspätet bei Gericht eingefunden habe (ON 6).
Dieses als Einspruch gegen das Abwesenheitsurteil gewertete Vorbringen wies die befasste Richterin des Bezirksgerichts ‑ ohne Anhörung der Staatsanwaltschaft ‑ mit Beschluss vom 24. September 2015 zurück, weil es der Verurteilten bei ausreichender Berücksichtigung von im Raum Innsbruck regelmäßig auftretenden verkehrsbedingten Verzögerungen und Ausfällen leicht möglich gewesen wäre, pünktlich vor Ort zu erscheinen (ON 7 S 2).
Über die dagegen gerichtete Beschwerde der Cornelia T***** (ON 8) hat das Landesgericht Innsbruck (AZ 21 Bl 332/15d) noch nicht entschieden.
Eine schriftliche Ausfertigung und Zustellung des in der Hauptverhandlung vom 8. September 2015 gefassten und mündlich verkündeten Beschlusses auf Verhängung einer Ordnungsstrafe an die gemäß §§ 458 zweiter Satz, 243 Abs 1 StPO zur Beschwerde legitimierte (nicht anwesende) Zeugin Hiltrud P***** ist bislang nicht aktenkundig.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, wurde das Gesetz im bezeichneten Verfahren mehrfach verletzt:
1./ Aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung vom 8. September 2015 ist mit Blick auf die Formulierung „dargetan“ (ON 4 S 2) ersichtlich, dass der Bericht der Polizeiinspektion Pradl vom 13. August 2015 (ON 2), welcher die Darstellung der Angaben der Zeugin Hiltrud P***** enthält (ON 2 S 3 f), gemäß § 252 Abs 2a StPO zusammenfassend vorgetragen wurde (vgl 14 Os 184/13k); dies obwohl amtliche Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten sind, nicht zu den in § 252 Abs 2 StPO bezeichneten Urkunden gehören, sondern dem (beschränkten) Verlesungsverbot des § 252 Abs 1 StPO unterliegen und abgesehen von den hier nicht relevanten Fällen der Z 1, 2, 2a und 3 leg cit ‑ wie die (gemäß § 447 StPO auch im Verfahren vor dem Bezirksgericht zulässige) Abstandnahme von der Verlesung oder Vorführung von Aktenstücken zu Gunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts gemäß § 252 Abs 2a StPO ‑ an die Zustimmung der Verfahrensbeteiligten gebunden ist (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO).
Da aus dem Nichterscheinen der Angeklagten zur Hauptverhandlung deren Einverständnis im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 und Abs 2a StPO nicht abgeleitet werden kann (RIS‑Justiz RS0117012), war der Vortrag der im Abschlussbericht der Polizeiinspektion Pradl vom 13. August 2015 enthaltenen Darstellung der Angaben der Zeugin Hiltrud P***** durch die erkennende Richterin unzulässig. Solcherart hätte dieses Verfahrensresultat auch nicht im Urteil verwertet werden dürfen (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 460).
2./ Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten des Verfahrens, soweit sie darauf nicht verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Auch gegen diese Anordnung hat das Bezirksgericht Innsbruck verstoßen, indem es der Angeklagten mit der Urteilsausfertigung nicht zugleich ein Protokoll über die Hauptverhandlung zukommen ließ.
3./ § 152 Abs 3 Geo bestimmt, dass bei Zustellung eines Abwesenheitsurteils stets auch eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung zuzustellen ist. Dies ist ‑ was vorliegend verabsäumt wurde ‑ vom Richter in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen (§ 129 Abs 4 Geo; RIS‑Justiz RS0096533). Infolge tatsächlicher Übermittlung der Rechtsbelehrung an die Angeklagte liegt hingegen ein Verstoß gegen § 6 Abs 2 StPO nicht vor (zur Wahrnehmung der Verletzung bloßer ‑ nicht auf Gesetzesstufe stehender ‑ Verordnungen durch den Obersten Gerichtshof vgl RIS‑Justiz RS0102164; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 12).
4./ Gemäß § 478 Abs 2 erster Satz StPO ist vor der Entscheidung über einen Einspruch gegen das Abwesenheitsurteil dem Ankläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Einspruch der Cornelia T***** gegen das Abwesenheitsurteil vom 8. September 2015 wurde der Staatsanwaltschaft jedoch nicht zur Kenntnis gebracht, sondern ohne vorherige Befassung des Bezirksanwalts sofort zurückgewiesen.
5./ Gemäß § 86 Abs 2 StPO ist jeder Beschluss schriftlich auszufertigen und den zur Beschwerde Berechtigten (§ 87 StPO) zuzustellen. Eine schriftliche Ausfertigung und Zustellung des in der Hauptverhandlung vom 8. September 2015 gefassten und mündlich verkündeten Beschlusses auf Verhängung einer Ordnungsstrafe an die zur Beschwerde legitimierte (nicht anwesende) Zeugin Hiltrud P***** ist bislang nicht erfolgt.
Da nicht auszuschließen ist, dass sich schon der zu 1./ bemängelte Vortrag der Darstellung einer Zeugin durch die Verwertung im Abwesenheitsurteil zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt hat, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung dieser Gesetzesverletzung auf im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
Einer förmlichen Aufhebung der auf dem kassierten Urteil beruhenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS-Justiz RS0100444).
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