OGH 10ObS156/14k

OGH10ObS156/14k24.2.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S***** H*****, vertreten durch Mag. Roman Schmied, Rechtsanwalt in St. Florian/Inn, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. September 2014, GZ 12 Rs 87/14x‑27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 22. Mai 2014, GZ 19 Cgs 146/13m‑23, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00156.14K.0224.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Der 1978 geborene Kläger wohnt in S***** bei Sc*****. Er hat in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 1. 2013) Tätigkeiten als Fenstermonteur in S*****, als Bauhilfsarbeiter in F***** und L*****, als Einsatzfahrer beim Roten Kreuz in G***** und als Verpacker in E***** verrichtet. Er war in B***** als Lkw‑Ausfahrer und in S***** als Hausmeister tätig. Aufgrund seines eingeschränkten medizinischen Leistungskalküls ist er nur noch in der Lage, Arbeiten mit Trage‑ bzw Hebebelastungen bis 5 kg bzw 10 kg zu verrichten. Die Arbeiten können im Sitzen, Gehen und Stehen durchgeführt werden. Der Kläger kann Wegstrecken von 500 m in 25 Minuten zurücklegen und ein öffentliches Verkehrsmittel benützen. Eine Wohnsitzverlegung und ein Wochenpendeln sind ihm aus medizinischen Gründen nicht möglich. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es verschiedene Verweisungstätigkeiten, die mit dem Leistungskalkül des Klägers noch vereinbar sind (zB Portier, Aufsichtsperson, Billeteur, Garderobehilfspersonal, Büroaufräumer, Geschirrabräumer, Frühstücksbuffetkraft, Staplerfahrer im internen Warentransport, Verpacker und/oder Abfüller, Sortierer, Montagearbeiter oder Maschinenbediener).

Die nächste Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels ist vom Wohnhaus des Klägers etwa 1,5 km entfernt. Von dort kann man mit Bussen eine Region erreichen, die bis nach Sc***** und M***** reicht. In dieser Region gibt es weniger als 30 freie oder besetzte Arbeitsplätze, die mit dem Leistungskalkül des Klägers noch vereinbar sind. Der Kläger besitzt einen Führerschein und einen eigenen Pkw. Solange er berufstätig war, verwendete er seinen Pkw zur Erreichung seines Arbeitsplatzes. Als er bei Bauunternehmen beschäftigt war, wurde er meistens von Arbeitskollegen mit dem Firmenbus abgeholt. Mit dem Pkw kann man vom Wohnort des Klägers eine Region erreichen, die sich bis nach W***** und L***** erstreckt. In dieser Region gibt es mehr als 30 freie oder besetzte Arbeitsplätze für die dem Kläger noch möglichen Verweisungstätigkeiten.

Mit Bescheid vom 27. 2. 2013 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 13. 12. 2012 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage insoweit statt, als es das Klagebegehren für den Zeitraum vom 1. 1. 2013 bis 31. 12. 2014 als zu Recht bestehend erkannte. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren wies es ‑ rechtskräftig ‑ ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen. Rechtlich führte es aus, grundsätzlich sei der Versicherte nicht verpflichtet, seinen privaten Pkw für die Fahrt zum Arbeitsplatz einzusetzen. Nur wenn der Wohnort durch öffentliche Verkehrsmittel schlecht aufgeschlossen und die Zurücklegung der Wege zum Arbeitsplatz oder zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel mit privaten Verkehrsmitteln üblich sei, könne es dem Versicherten zumutbar sein, diese Wege mit dem privaten Fahrzeug zurückzulegen. Das Wohnhaus des Klägers sei nicht abgelegen. Die nächstgelegene Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels sei etwa 1,5 km entfernt. Eine solche Entfernung werde in ländlichen Bereichen überlicherweise zu Fuß und nicht mit dem Auto zurückgelegt. Der Wohnort des Klägers sei somit an den öffentlichen Verkehr angebunden, sodass ihm die Verwendung des privaten Pkw's für die Fahrt zum Arbeitsplatz oder zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel nicht zumutbar sei. Statistische Aufzeichnungen über das Pendlerverhalten in der Wohnsitzgemeinde des Versicherten seien nicht maßgeblich. Die Entscheidung des Erwerbstätigen, statt eines öffentlichen Verkehrsmittels den privaten Pkw für die Fahrt zur Arbeit zu verwenden, müsse nicht immer mit einer schlechten Anbindung des Wohnorts an den öffentlichen Verkehr zusammenhängen. Dafür kämen auch Bequemlichkeit oder andere Gründe in Betracht. Der Kläger könne mit öffentlichen Verkehrsmitteln lediglich einen regionalen Arbeitsmarkt erreichen, auf dem ihm weniger als 30 freie oder besetzte kalkülsgerechte Arbeitsplätze zur Verfügung stünden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei gegen den klagestattgebenden Teil Folge und hob das Ersturteil in diesem Umfang auf. Die Feststellungen des Erstgerichts reichten nicht zur Beurteilung aus, dass dem Kläger die Pkw‑Nutzung zur Erlangung des Arbeitsplatzes unzumutbar sei. Sei der Wohnort des Versicherten durch öffentliche Verkehrsmittel schlecht aufgeschlossen und die Zurücklegung der Wege zum Arbeitsplatz oder zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel mit privaten Verkehrsmitteln üblich, so sei festzustellen, ob der Versicherte diese Wege in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen könne. Im vorliegenden Fall liege die nächste Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels vom Wohnhaus des Klägers etwa 1,5 km entfernt. Von dort könne man mit Bussen eine Region erreichen, die bis nach Sc***** und M***** reiche. In dieser Region gebe es weniger als 30 freie oder besetzte Arbeitsplätze, die dem Leistungskalkül des Klägers noch entsprechen. Die Lage einer Haltestelle sage noch nichts darüber aus, ob diese auch geeignet sei, Erwerbstätigen aus der Region in einer zumutbaren Zeit einen entsprechenden Arbeitsmarkt zu erschließen. Eine schlechte Verkehrsaufschließung könne auch aufgrund mangelnder Frequenz des öffentlichen Verkehrsmittels oder mangelnder Anbindung an Knotenpunkte vorliegen. Nach den Erhebungen des Berufungsgerichts dauere die Fahrt mit dem Pkw vom Wohnort des Klägers nach Sc***** 16 Minuten. Von Sc***** aus existierten Tagesrandverbindungen mit einer Fahrtdauer von 40 Minuten nach R*****. Berücksichtige man diesen mit dem Pkw und dem öffentlichen Verkehrsmittel erreichbaren regionalen Raum, so sei es evident, dass eine ausreichende Zahl an möglichen Verweisungsarbeitsplätzen zur Verfügung stünde. Dazu komme, dass nach den Feststellungen der Kläger mit seinem Pkw von seinem Wohnort aus (gemeint offenbar: innerhalb einer Stunde) eine Region erreichen könne, die sich bis nach L***** und W***** erstrecke und hier ebenfalls ein ausreichender regionaler Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Feststellungen, ob die Erwerbstätigen aus dem Wohnort des Klägers üblicherweise mit dem Pkw entweder in den Großraum W***** oder L***** zur Arbeit fahren oder ob sie nicht zumindest mit dem Pkw zum nahegelegenen Zentralort Sc***** fahren und dann mit öffentlichen Verkehrsmitteln auspendeln, fehlten. Im fortgesetzten Verfahren werde zu klären sein, wie die Einwohner des Ortes S***** bei Sc***** üblicherweise ihre Arbeitsplätze erreichten. Führen die anderen Erwerbstätigen überwiegend mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz bzw zumindest zum Bahnhof oder zu anderen besser angebundenen Bushaltestellen, werde dies auch dem Kläger zumutbar sein, dem ein Pkw zur Verfügung stehe. Er sei auch bisher, soweit er nicht von einem Firmenbus abgeholt worden sei, mit dem eigenen Pkw zu den Arbeitsstätten gefahren, was jedenfalls für die Ortsüblichkeit eines derartigen Reiseverhaltens zum Arbeitsplatz spreche.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob der Wohnort eines Versicherten, der zwar in fußläufiger Nähe eine Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels habe, mit diesem Verkehrsmittel innerhalb einer Stunde aber keinen geeigneten Arbeitsmarkt erreiche, kaum oder nur schlecht durch öffentliche Verkehrsmittel aufgeschlossen sei.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluss gerichtete, von der beklagten Partei beantwortete Rekurs des Klägers ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Es ist im Rekursverfahren nicht strittig, dass die Bejahung der Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 3 ASVG nur davon abhängt, ob die Lage des Wohnhauses des Klägers es ausschließt, dass er in zumutbarer Weise einen adäquaten Arbeitsplatz erreichen kann.

Der Kläger führt gegen die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts die Rechtsansicht des Erstgerichts ins treffen.

Dem ist zu erwidern:

Ist ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ dem Versicherten (aus medizinischen Gründen) nur Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln möglich, so hängt die Frage, ob er vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, davon ab, ob im Umkreis der ihm möglichen Gehstrecke oder in dem durch die Benützbarkeit eines Massenverkehrsmittels erweiterten Umkreis, eine entsprechende Anzahl von adäquaten Arbeitsplätzen zur Verfügung steht (RIS‑Justiz RS0084994).

Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Versicherter, der nicht in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, grundsätzlich nicht verpflichtet, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (RIS‑Justiz RS0085083). Ist aber der Wohnort des Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel kaum oder schlecht erschlossen, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, so ist zu berücksichtigen, ob der Versicherte die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte, gegebenenfalls zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen kann (RIS‑Justiz RS0084907; RS0085083 [T1]).

Die vom Erstgericht vertretene Ansicht, bereits die Erreichbarkeit eines (einzigen) öffentlichen Verkehrsmittels zu Fuß bewirke, dass der Wohnort eines Versicherten als durch öffentliche Verkehrsmittel erschlossen anzusehen sei, hat der Oberste Gerichtshof jüngst nicht gebilligt (10 ObS 145/14t), wäre es doch andernfalls einem Versicherten, dem eine Übersiedlung und Wochenpendeln nicht mehr zumutbar sind, möglich, bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit die Leistungsgewährung zu beeinflussen, indem er seinen Wohnort an der ‑ zu Fuß erreichbaren ‑ Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels wählt, wenn mit diesem Verkehrsmittel lediglich ein Ort mit einem nicht zureichenden regionalen Arbeitsmarkt angefahren werden kann.

In der genannten Entscheidung 10 ObS 145/14t hat der erkennende Senat ferner ausgesprochen, dass im Sinn der bisherigen Rechtsprechung zur Beurteilung der Zumutbarkeit der Benützung eines privaten Pkws das Kriterium maßgeblich ist, ob in einer bestimmten Wohngegend üblicherweise die Wege zum oder vom Arbeitsplatz bzw zum oder vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden. Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts ist daher zutreffend.

Der Rekurswerber meint, er werde anders als ein Versicherter behandelt, der über keine Lenkerberechtigung und keinen Pkw verfüge, aber sonst in der gleichen Lage wie der Kläger sei und daher eine Invaliditätspension erhalte. Diese Ungleichbehandlung könne rechtlich nicht gerechtfertigt werden. Dem ist zu erwidern:

In der Entscheidung 10 ObS 347/88 (SSV‑NF 3/142 = SZ 62/195) hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass für einen Versicherten, der (aus gesundheitlichen Gründen) nicht in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, keine Verpflichtung besteht, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen. Diese Rechtsauffassung wurde vor allem damit begründet, dass sonst vom Versicherten, der bereits den überwiegenden Teil der Anschaffungskosten für den Pkw getragen hatte, unter Berücksichtigung der regelmäßigen Betriebskosten des Fahrzeugs für die Zurücklegung des Weges zum Arbeitsplatz ein finanzieller Einsatz verlangt würde, der erheblich über den der Mehrheit der Versicherten liegt, denen die Möglichkeit zur Verfügung steht, ein öffentliches Verkehrsmittel zum Arbeitsplatz zu benützen. Dieses Kostenargument kommt aber nicht in einem Fall zu tragen, in dem die Versicherten in vergleichbarer Situation zum Erreichen ihres Arbeitsplatzes auf die Verwendung eines privaten Fahrzeugs angewiesen sind.

Da die Beurteilung des Berufungsgerichts zutreffend ist, war sein Aufhebungsbeschluss zu bestätigen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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