European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00004.15H.0224.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die in ihrem dem Klagebegehren stattgebenden Teil (Punkt 1 des Urteilsspruchs des Erstgerichts) als unangefochten unberührt bleiben, werden in ihrem das Klagebegehren abweisenden Teil (Punkt 2 des Urteilsspruchs des Erstgerichts) aufgehoben.
Die Rechtssache wird in diesem Umfang zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Mit Bescheid vom 27. 2. 2013 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt über Antrag des Klägers gemäß § 247 ASVG fest, dass der Kläger bis zum Feststellungszeitpunkt (1. 3. 2013) 493 Beitragsmonate der Pflichtversicherung ‑ Erwerbstätigkeit und 19 Ersatzmonate, insgesamt somit 512 Versicherungsmonate, erworben hat. Die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum vom 1. 7. 1995 bis 31. 12. 2012 wurde abgelehnt.
Gegen diese Ablehnung der Feststellung von Schwerarbeitszeiten richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren auf Feststellung, dass die vom Kläger im Zeitraum vom 1. 1. 1995 bis 31. 12. 2012 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate im Sinne des § 4 Abs 3 APG/§ 607 Abs 14 ASVG iVm der SchwerarbeitsVO seien.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren teilweise statt und stellte fest, dass die vom Kläger erworbenen Versicherungsmonate der Pflichtversicherung im Mai bis Oktober 1999, Februar 2001, November 2001, August 2002, Februar 2003, Mai 2004, Juni 2004, September 2005, Oktober 2005, Februar 2006 und März 2006 Schwerarbeitsmonate seien und wies das Mehrbegehren, es werde festgestellt, dass die vom Kläger im Zeitraum 1. 1. 1995 bis 31. 12. 2012 darüber hinausgehend erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien, ab.
Das Erstgericht traf zusammengefasst folgende Feststellungen:
„Der am 14. 12. 1954 geborene Kläger ist seit 17. 12. 1990 bei der R***** Lager & Transport GmbH als Kraftfahrer (seit 1999 als Berufskraftfahrer) beschäftigt. Zu seinem Aufgabengebiet gehört die Belieferung von Handelsfilialen und Kunden mit Lebensmitteln mit einem Hängerzug, der ein höchstzulässiges Gesamtgewicht von 40 Tonnen hat. Der Kläger musste den LKW zunächst per Hubwagen mit Paletten (bis rund 800 kg) oder mit bis zu 400 kg schweren Rollcontainern (inklusive Inhalt) händisch beladen und die Ware sichern. Nach der Fahrt zum Zielort hatte er dort die Ware abzuladen und in den Anlieferungsbereich zu bringen. Danach hatte er die Retourware und das Verpackungsmaterial wieder einzuladen und die nächste Station der Tour anzufahren. Die einzelnen Wegstrecken, die beim Be‑ und Entladen zurückgelegt werden müssen, sind unterschiedlich und betragen zwischen 5 m und 35 m. Die Touren haben eine Strecke zwischen 100 km und 500 km; es werden zwischen zwei und acht Zielorte angefahren.
Die Normalarbeitszeit des Klägers beträgt 38,5 Wochenarbeitsstunden. Die konkreten Arbeitszeiten waren unterschiedlich und begannen teils in der Früh (zwischen 00:00 Uhr und 5:00 Uhr) oder auch erst am Nachmittag (zwischen 14:00 und 15:00 Uhr). In den Monaten Mai bis Oktober 1999, Februar 2001, November 2001, August 2002, Februar 2003, Mai 2004, Juni 2004, September 2005, Oktober 2005, Februar 2006 und März 2006 arbeitete der Kläger an mindestens sechs Arbeitstagen im Monat im Ausmaß von mindestens sechs Arbeitsstunden zwischen 22:00 und 6:00 Uhr. Dass er auch in anderen Monaten im Zeitraum 1. 1. 1995 bis 31. 12. 2012 an mindestens sechs Arbeitstagen jeweils sechs Arbeitsstunden zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr geleistet hat, kann nicht festgestellt werden. Aufgrund der Art der Tätigkeit und über Anordnung des Dienstgebers absolvierte der Kläger regelmäßig Mehr‑ bzw Überstunden, welche auch ausbezahlt wurden. In den Jahren 2003 bis 2012 leistete er eine tägliche Arbeitszeit von rund 9,55 Stunden. Während dieser 120 Monate gab es nur 11 Monate, an denen der Kläger täglich mehr als acht, aber nicht mehr als neun Arbeitsstunden im Schnitt tätig war. Mehrere Monate hindurch arbeitete er auch länger als zehn Arbeitsstunden pro Tag durchschnittlich.
Der Kläger verbrauchte bei seiner Tätigkeit als LKW‑Fahrer im Bereich der Warenauslieferung bei der Firma R***** Lager & Transport GmbH im Zeitraum 1. 1. 1995 bis 31. 12. 2012 pro achtstündigem Arbeitstag insgesamt 1.817,70 Arbeitskilokalorien. Ausgehend von einem neunstündigen Arbeitstag ergäbe sich ein Wert von mehr als 2.000 Arbeitskilokalorien (1.817,70 : 8 x 9 = ca 2.044 kcal).“
In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht im Wesentlichen davon aus, in der SchwerarbeitsVO werde definiert, welche Zeiten als körperlich oder psychisch besonders belastende Tätigkeiten („Schwerarbeitszeiten“) anzusehen seien. Darunter fielen gemäß § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO Tätigkeiten als schwere körperliche Arbeit, die dann vorliege, wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) verbraucht würden, weiters gemäß § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsVO Tätigkeiten, die im Schicht‑ oder Wechseldienst auch während der Nacht (unregelmäßige Nachtarbeit), das heißt zwischen 22:00 und 6:00 Uhr, jeweils im Ausmaß von sechs Stunden und zumindest an sechs Arbeitstagen im Kalendermonat geleistet würden, sofern in diese Arbeitszeit nicht überwiegend Arbeitsbereitschaft falle. Soweit der Kläger sein Klagebegehren auf § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsVO stütze, sei den vorgelegten Arbeitsaufzeichnungen zu entnehmen, in welchen Monaten diese Voraussetzungen erfüllt seien. In diesem Umfang sei der Klage stattzugeben.
Zu § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO lege die Verordnung in ihrer Anlage „Grundsätze für die Feststellung des Vorliegens einer schweren körperlichen Arbeit“ fest. Diesen Grundsätzen folgend sei von einer Durchschnittsbetrachtung der konkreten Tätigkeit auszugehen. Es werde auf eine achtstündige Arbeitszeit, somit auf die tägliche Normalarbeitszeit im Sinne des § 3 Abs 1 AZG abgestellt. Ob bei der Beurteilung des Vorliegens von Schwerarbeit auch über die tägliche Normalarbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeiten zu berücksichtigen seien, sei bislang nicht Gegenstand einer höchstgerichtlichen Entscheidung gewesen. Stelle man auf den Wortlaut der Verordnung („bei einer achtstündigen Arbeitszeit“) im Zusammenhang mit der Anlage der Verordnung ab, ergebe sich, dass die Bestimmung auf die Belastung durch die jeweilige Tätigkeit an sich im Sinne einer Durchschnittsbetrachtung abstelle und nicht auf die konkrete Belastung des Versicherten. Soweit die Verordnung daher verlange, dass bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 2.000 Arbeitskilokalorien verbraucht werden, werde dadurch ein Maßstab definiert, an dem die Intensität der Belastung durch die Tätigkeit zu messen sei. Erst wenn nach diesem Maßstab Schwerarbeit vorliege, komme die Anerkennung von Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO in Betracht. Da im vorliegenden Fall somit keine Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO vorliege, sei die Klage ‑ mit Ausnahme jener Monate, welche als Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsVO gelten ‑ abzuweisen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, nach der bei der Berechnung dem Wortlaut des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO folgend eine achtstündige Arbeitszeit zugrunde zu legen sei. Die in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO für das Vorliegen von Schwerarbeit geforderten Arbeitskilokalorien könnten daher nicht durch längere Arbeitszeiten des Klägers erreicht werden. Auch bei einem mehr als achtstündigen Arbeitstag sei daher eine Umrechnung auf einen Achtstundentag vorzunehmen. Nur eine berufliche Tätigkeit, bei der die energetische Dauerleistungsgrenze binnen einer achtstündigen Arbeitszeit erreicht oder überschritten werde, solle als Schwerarbeit iSd SchwerarbeitsVO gelten. Dafür spreche auch, dass der Gesetzgeber die Anwendung eines sehr strengen Maßstabs vor Augen hatte und keineswegs alle, sondern nur besonders belastende Formen der Schwerarbeit erfassen wolle. Das restriktive Verständnis der Verordnung entspreche den gesetzgeberischen Intentionen. Da feststehe, dass der Kläger unter Berücksichtigung von Leerzeiten bzw Zeiten, in denen er nicht produktiv gewesen sei, im Zeitraum 1. 1. 1995 bis 31. 12. 2012 pro achtstündigem Arbeitstag insgesamt nur 1.817,70 Arbeitskilokalorien verbraucht habe, liege dieser Arbeitskilokalorienverbrauch jedenfalls unterhalb der Schwelle des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO. Im Hinblick darauf, dass der Kläger mehr als acht Stunden täglich gearbeitet habe, sei die vom Erstgericht vorgenommene Umrechnung auf einen Achtstundentag im Sinne des § 1 Abs 1 Z 4 der SchwerarbeitsVO nicht zu beanstanden. Die SchwerarbeitsVO unterliege dem Auslegungsregime der §§ 6, 7 ABGB und nicht der Auslegung durch eine ‑ die Gerichte nicht bindende ‑ bloße „Empfehlung“ des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz. Dieser Empfehlung müsse nicht gefolgt werden.
Die Revision sei zulässig, da zur Frage der Berechnungsmodalitäten der Arbeitskilokalorien ‑ Grenze des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO oberstgerichtliche Rechtsprechung nicht vorliege.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
1.1 Die angefochtene Entscheidung steht nicht im Einklang mit der zur Auslegung des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO mittlerweile bereits vorliegenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.
1.2 Der erkennende Senat hat in seiner ausführlich begründeten Entscheidung 10 ObS 95/14i vom 30. 9. 2014 (im Rechtsinformationssystem des Bundes RIS‑Justiz veröffentlicht seit 18. 11. 2014) ausgesprochen, dass zwar in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO, BGBl II 2006/104 idgF, bei der Festlegung der Energieumsatzgrenze der Bezug auf acht Stunden pro Arbeitstag als gesetzliche Normalarbeitszeit gewählt wurde, weil es insbesondere für unselbständig Beschäftigte unrealistisch (und vielfach auch gesetzwidrig) erscheine, ständig von längeren Arbeitszeiten auszugehen. Wenn jedoch tatsächlich längere Arbeitszeiten vorliegen, so seien diese bei der Berechnung des Energieumsatzes entsprechend zu berücksichtigen (10 ObS 95/14i = RIS‑Justiz RS0129750). Als Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die SchwerarbeitsVO gehe eindeutig von einer Tagesbetrachtung („achtstündige Arbeitszeit“) aus. Eine körperliche Arbeit sei daher Schwerarbeit, wenn sie die in der Verordnung festgelegte Arbeitskilokaloriengrenze erreiche bzw überschreite. Dabei sei grundsätzlich von einer Durchschnittsbetrachtung auszugehen, wobei § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO auf den Regelfall der täglichen Normalarbeitszeit von acht Stunden abstelle. Aus der Anlage der SchwerarbeitsVO, in der die Grundsätze zur Feststellung körperlicher Schwerarbeit festgelegt würden, gehe aber eindeutig hervor, dass sich der Arbeitsenergieumsatz aus dem Gesamtenergieumsatz pro Arbeitstag ergebe. Daher sei die Berücksichtigung des Energieumsatzes des ganzen Arbeitstags vorgesehen. Die verhältnismäßige „Einkürzung“ einer tatsächlich längeren täglichen Arbeitszeit auf einen achtstündigen Arbeitstag ‑ und damit die Streichung von Zeiten mit beruflicher, körperlicher Belastung ‑ sei vom Gesetzgeber nicht intendiert. Die Angabe von acht Stunden in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO stelle lediglich einen Richtwert zur Berechnung der Arbeitskilokalorien pro Arbeitstag dar. Der Versicherte könne jedoch nachweisen, dass er täglich aufgrund längerer Arbeitszeiten (oder aufgrund der besonderen Schwere der Tätigkeit auch bei kürzeren Arbeitszeiten) den geforderten Arbeitskilojoule ‑ bzw Arbeitskilokalorienverbrauch erreiche (10 ObS 95/14i = RIS‑Justiz RS0129751).
1.3 Der erkennende Senat sieht sich nicht veranlasst, von diesen dargelegten Grundsätzen (vgl in diesem Sinne auch Milisits , SchwerarbeitsVO [2007] 25; dies , Neueste OGH‑ und EuGH‑Judikatur Bereich „Sozialversicherung“, ZAS 2009/18, 102 [103]; Teschner/Widlar/Pöltner , MGA‑ASVG [APG] 108. Erg‑Lfg, SchwerarbeitsVO Anm 8) abzugehen. Nach Ansicht des erkennenden Senats soll ein Arbeitnehmer, der täglich aufgrund längerer Arbeitszeiten den geforderten Arbeitskilokalorienverbrauch erreicht, nicht schlechter gestellt werden als ein Arbeitnehmer, der diese Grenze bei seinem achtstündigen Arbeitstag erreicht. Mit dieser Rechtsansicht steht die Entscheidung des Berufungsgerichts in ihrem abweisenden Teil jedoch nicht im Einklang.
2. Unter der Voraussetzung, dass der Kläger an mindestens 15 Arbeitstagen im Monat Schwerarbeit geleistet hat, liegt für den betreffenden Zeitraum ein Schwerarbeitsmonat vor (vgl § 4 SchwerarbeitsVO). Für diese Beurteilung fehlen jedoch bisher die notwendigen Tatsachengrundlagen:
Für den Zeitraum 1995 bis 2012 liegen lediglich Feststellungen zu den vom Kläger absolvierten täglichen Arbeitszeiten im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsVO (Schicht‑ oder Wechseldienst auch während der Nacht) vor, nicht aber im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO, also dazu, ob und allenfalls in welchem Ausmaß längere als achtstündige Arbeitszeiten vorliegen, die bei der Berechnung des Energieumsatzes entsprechend zu berücksichtigen sind. Für den Zeitraum 2003 bis 2012 steht bisher eine tägliche Arbeitszeit von rund 9,55 Stunden fest sowie weiters, dass es während dieser 120 Monate 11 Monate gab, an denen der Kläger zwar mehr als acht, aber nicht mehr als neun Arbeitsstunden täglich gearbeitet hat. In mehreren Monaten sei er auch länger als zehn Arbeitsstunden pro Tag durchschnittlich tätig gewesen.
Das Erstgericht hat ‑ ausgehend von einer anderen Rechtsansicht ‑ somit keine ausreichenden Feststellungen darüber getroffen, in welchem konkreten Ausmaß der Kläger in welchen Monaten (die nicht bereits Schwerarbeitsmonate iSd § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsVO sind) im klagsgegenständlichen Zeitraum an mindestens 15 Tagen im Kalendermonat neun Stunden und mehr gearbeitet und damit Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO verrichtet hat. Aus diesem Grund erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.
Es war daher in Stattgebung der Revision des Klägers spruchgemäß zu entscheiden.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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