OGH 4Ob115/14m

OGH4Ob115/14m17.9.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem am ***** verstorbenen Ing. F***** I***** zuletzt wohnhaft in ***** (A 100/68 des Bezirksgerichts Spittal an der Drau), wegen Akteneinsicht, infolge Revisionsrekurses des außerehelichen Sohnes des Erblassers R***** vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 14. Mai 2014, GZ 3 R 65/14i‑12, womit infolge Rekurses des außerehelichen Sohnes des Erblassers der Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 26. März 2014, GZ 12 Nc 4/14x‑2, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0040OB00115.14M.0917.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass dem Antrag des R***** S***** ihm Einsicht in den Akt A 100/68 des Bezirksgerichts Spittal an der Drau sowie die Anfertigung von Aktenkopien gegen Bezahlung zu gewähren, stattgegeben wird.

 

Begründung:

Im beim Erstgericht zur AZ A 100/68 geführten Verlassenschaftsverfahren betreffend den am ***** verstorbenen Ing. F***** I***** wurde am 18. 3. 1970 die Einantwortungsurkunde erlassen, die unangefochten in Rechtskraft erwuchs.

Der Erblasser ist Vater des außerehelich geborenen R***** S***** (rechtskräftiges Urteil des Erstgerichts vom 10. 6. 1954, GZ C 12/53 ‑64).

Mit Eingabe vom 6. 3. 2014 beantragte der außereheliche Sohn (in der Folge: Antragsteller), ihm Einsicht in den seinen Vater betreffenden Verlassenschaftsakt und die Anfertigung von Aktenkopien gegen Bezahlung zu bewilligen. Aufgrund seines Verwandtschaftsverhältnisses zum Erblasser stehe ihm nach geltender Gesetzeslage ein Pflichtteilsanspruch zu. Die gegenteilige und bei Durchführung des Verlassenschaftsverfahrens noch gültige Rechtslage habe dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK iVm Art 1 erstes ZP EMRK widersprochen. Österreich sei dieser Konvention 1958 beigetreten, sie genieße Verfassungsrang. Aufgrund seiner verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition habe der Antragsteller ein rechtliches Interesse auf Akteneinsicht, die er zur weiteren Betreibung seiner Ansprüche aus dem Verstoß der österreichischen Gesetzeslage gegen die EMRK benötige.

Das Erstgericht wies den Antrag ab. Akteneinsicht stehe gemäß § 22 AußStrG allen Parteien des Verlassenschaftsverfahrens zu. Im Verlassenschaftsverfahren nach seinem Vater sei der Antragsteller nicht Partei gewesen. Als Dritter müssten seinem Antrag alle Parteien zustimmen. Zu beachten sei aber auch das Grundrecht auf Datenschutz. Ein bloß wirtschaftliches Interesse oder ein allgemeines Informationsbedürfnis reiche zur Stattgebung des Antrags nicht aus.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob einem nach früherer Rechtslage dem Verlassenschaftsverfahren nicht beigezogenen außerehelichen Kind des Erblassers deshalb ein rechtliches Interesse auf Einsicht in den Verlassenschaftsakt zuzubilligen sei, weil es beabsichtige, wegen Verletzung des Diskriminierungsverbots nach Art 14 EMRK eine Beschwerde beim EGMR und in der Folge allenfalls auch Amtshaftungsansprüche gegen die Republik Österreich zu erheben.

Nach § 219 ZPO iVm § 22 AußStrG sei bei den Einsichtsrechten zwischen Parteien und Dritten zu unterscheiden. Dritte könnten im Verlassenschaftsverfahren mit Zustimmung aller Parteien Akteneinsicht nehmen und auf ihre Kosten Abschriften (Kopien) und Auszüge (Ausdrucke) erhalten, soweit dem nicht überwiegende berechtigte Interessen eines anderen oder überwiegende öffentliche Interessen im iSd § 26 Abs 2 erster Satz DSG entgegenstünden. Fehle eine solche Zustimmung, so stehe einem Dritten Einsicht und Abschriftnahme nur insoweit zu, als er ein rechtliches Interesse glaubhaft mache. In einem ersten Schritt sei daher zu prüfen, ob ein rechtliches Interesse des Dritten, der Einsicht begehre, bestehe, bejahendenfalls sei eine Interessenabwägung mit den Rechten der Verfahrensparteien auf Geheimhaltung personenbezogener Daten vorzunehmen.

Das rechtliche Interesse des Dritten müsse in der Rechtsordnung begründet und von ihr gebilligt sein und über ein bloß wirtschaftliches Interesse oder über ein reines Informationsbedürfnis des Einsicht Begehrenden hinausreichen. Die Kenntnis des Akteninhalts müsse sich auf die privatrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Verhältnisse des Dritten günstig auswirken, sei es auch nur dadurch, dass es ihm ermöglicht werde, die Beweislage für sich günstiger zu gestalten. Dem Erstgericht sei zuzustimmen, dass der Antragsteller nach der damaligen Rechtslage nicht Partei des gegenständlichen Verlassenschaftsverfahrens und damit „Dritter“ gewesen sei und als solcher nun auch kein rechtliches Interesse an der begehrten Akteneinsicht dargetan habe. Der Antragsteller sei dem Verlassenschaftsverfahren  ‑ nach damaliger österreichischer Gesetzeslage zu Recht ‑ nicht als Partei zugezogen worden. Um deshalb eine Beschwerde an den EGMR erheben zu können, bedürfe es keiner weiteren Informationen aus dem Verlassenschaftsakt; dies gelte gleichermaßen für die beabsichtigte Amtshaftungsklage.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des außerehelichen Sohnes des Erblassers ist zulässig; das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

1.1. Nach § 22 AußStrG sind im Außerstreitverfahren (unter anderem) die Bestimmungen der Zivilprozessordnung über die Akten sinngemäß anzuwenden. Nach § 219 Abs 1 ZPO haben jedenfalls die Parteien ein Recht auf Akteneinsicht, mit deren Zustimmung nach § 219 Abs 2 ZPO auch Dritte, soweit dem nicht überwiegende Interessen eines Dritten oder überwiegende öffentliche Interessen iSv § 26 Abs 2 DSG entgegenstehen. Fehlt eine Zustimmung, muss der Einsichtswerber überdies ein rechtliches Interesse glaubhaft machen.

1.2. Das Recht auf Akteneinsicht steht der Partei im streitigen und außerstreitigen Verfahren auch nach rechtskräftiger Erledigung des Rechtsstreits zu, ohne dass ein konkretes rechtliches Interesse nachgewiesen werden muss (6 Ob 11/78 = SZ 51/177).

1.3. Im Anlassfall ist dem Antragsteller zwar zuzugestehen, dass der (mittlerweile historische) Ausschluss außerehelicher Kinder vom Pflichtteilsrecht im Lichte der EMRK bedenklich erscheint (vgl RIS-Justiz RS0124747; RS0128099; RS0126894). Allerdings bestand im Todeszeitpunkt des Erblassers kein Ermessensspielraum für das Verlassenschaftsgericht, weil nach damaliger Rechtslage nur eheliche Kinder pflichtteilsberechtigt waren. Damit kommt auch eine vom Revisionsrekurswerber nunmehr geforderte verfassungskonforme Interpretation des § 219 Abs 1 ZPO nicht in Betracht, weil sich der Antragsteller nicht auf eine Stellung als Partei des damaligen Verlassenschaftsverfahrens berufen kann.

2.1. Zu prüfen bleibt daher die Frage, inwiefern dem Antragsteller ein rechtliches Interesse zukommt, das ihn zur Akteineinsicht berechtigt.

2.2. Ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht kann neben der Verfolgung von Ansprüchen im Zivilprozess und im Verwaltungsweg auch durch die Vorbereitung einer Beschwerde an die Europäische Kommission für Menschenrechte begründet sein ( Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG § 22 Rz 45; LG Innsbruck EFSlg 129.172). In einem derartigen Beschwerdeverfahren muss der Antragsteller die Schadenersatzforderung (als Grundlage einer Entschädigung nach Art 41 EMRK) im Einzelnen aufschlüsseln ( Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 15 Rz 6).

2.3. Art 35 EMRK verlangt für ein solches Verfahren, dass alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft worden sind. Ein Rechtsbehelf im Sinne dieser Bestimmung ist bei Akten der Gesetzgebung allerdings nicht möglich. In diesen Fällen wird davon ausgegangen, dass erst ein entsprechender Vollzugsakt eine Betroffenheit des Antragstellers herstellt, doch wird bei Statusregelungen eine unmittelbare Betroffenheit auch ohne Erfordernis eines entsprechenden Vollzugsaktes angenommen (EGMR 13. 6. 1979 - Marckx gegen Belgien, EuGRZ 6 [1979] 454, Rz 27).

2.4. Eine Klage gegen die Erbin als Privatperson scheidet, da es um gleichstellendes ‑ also positives ‑ Handeln des Staates geht, als Rechtsbehelf iSd Bestimmung aber grundsätzlich aus (EGMR 29. 11. 1991, 43/1990/234/300, ÖJZ 1992/23; Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 13 Rz 30). Außerhalb des europäischen Gemeinschaftsrechts besteht auch ein unmittelbarer Schadenersatzanspruch gegen den Staat wegen legistischen Unrechts nicht (RIS-Justiz RS0119329), sodass auch eine Schadenersatzklage unmittelbar gegen den Staat ‑ mangels Eigenschaft des Antragstellers als EU-Bürger im maßgeblichen Zeitraum ‑ als innerstaatlicher Rechtsbehelf nicht in Betracht kommt. Eine auf § 1 AHG gestützte Amtshaftungsklage wird für Akte der Gesetzgebung und für die gesetzestreue Anwendung verfassungswidriger Gesetze ebenfalls verneint (RIS-Justiz RS0049949). In Wahrheit liegt eine dauerhafte Diskriminierung außerehelicher Kinder gegenüber ehelichen Kindern vor, die für den maßgeblichen Zeitraum mangels rückwirkender Gleichstellung bis heute andauert.

2.5. Diese Erwägungen führen zum Ergebnis, dass der Antragsteller aufgrund seiner Absicht, eine Beschwerde an die Europäische Kommission für Menschenrechte vorzubereiten, ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht besitzt. Der Revisionsrekurs ist daher im Sinne einer Stattgebung des verfahrenseinleitenden Antrags berechtigt.

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