OGH 10ObS169/13w

OGH10ObS169/13w17.12.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisions- und Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Robert Brunner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei P*****, vertreten durch Mag. Dr. Christian Gepart, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Land Wien, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, MA 40 - Fachbereich Sozialrecht, 1030 Wien, Thomas-Klestil-Platz 8, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge „außerordentlichen Revisionsrekurses“ und außerordentlicher Revision der Nebenintervenientin gegen den Beschluss und das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. September 2013, GZ 8 Rs 91/13f-41, womit der Antrag der Nebenintervenientin auf Unterbrechung des Rechtsmittelverfahrens abgewiesen und das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 2. Mai 2013, GZ 38 Cgs 152/12i-33, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Rekurs und die außerordentliche Revision der Nebenintervenientin werden zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die mit Beschluss des Berufungsgerichts vom 25. 9. 2013 (ON 41) erfolgte Ablehnung eines Unterbrechungsantrags ist gemäß den §§ 519 Abs 1, 192 Abs 2 ZPO nicht anfechtbar (vgl 10 ObS 6/91, SSV-NF 5/2 mwN ua; RIS-Justiz RS0037227), sodass der Rekurs der Nebenintervenientin zurückzuweisen ist.

2. Die außerordentliche Revision der Nebenintervenientin ist gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

2.1 Einer Berücksichtigung der Rechtsausführungen der Nebenintervenientin in ihren Rechtsmittelschriften steht, wie bereits das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, das in Sozialrechtsverfahren ausnahmslos geltende Neuerungsverbot entgegen (stRsp seit SSV-NF 1/45). Die Nebenintervenientin und die beklagte Partei haben das auf Weitergewährung des dem Kläger mit rechtskräftigem Bescheid der beklagten Partei vom 5. 10. 2009 ab 1. 6. 2009 unbefristet gewährten und mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der beklagten Partei vom 9. 5. 2012 mit Ablauf des Monats Juni 2012 wiederum entzogenen Pflegegeldes der Stufe 4 gerichtete Klagebegehren allein mit dem Vorbringen bestritten, dass sich aus dem von der beklagten Partei eingeholten Gutachten vom 26. 10. 2011 kein Pflegebedarf des Klägers ergebe. Diesem Einwand der beklagten Partei hat bereits das Berufungsgericht unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung entgegengehalten, dass eine Leistung nur bei einer - hier unbestritten nicht vorliegenden - Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Umstände entzogen werden kann und nicht wegen einer seinerzeit offensichtlich irrtümlich erfolgten Zuerkennung. Haben die objektiven Grundlagen der Leistungszuerkennung keine Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der zuerkennenden Entscheidung einer Entziehung entgegen; Rechtssicherheit geht hier vor Rechtmäßigkeit (vgl Atria in Sonntag, ASVG4 § 99 Rz 8 mwN).

2.2 Soweit die Nebenintervenientin erstmals im Rechtsmittelverfahren geltend machte, der Kläger habe sich das Pflegegeld durch bewusst unwahre Angaben und damit strafbares Verhalten rechtsmissbräuchlich erschlichen bzw er hätte erkennen müssen, dass ihm die Leistungen nicht oder nicht in dieser Höhe gebührten, steht einer Berücksichtigung dieses Vorbringens das auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot entgegen. Auch die amtswegige Beweisaufnahme gemäß § 87 Abs 1 ASGG hatte sich innerhalb des Vorbringens der beklagten Partei bzw deren Nebenintervenientin zu bewegen. Nach ständiger Rechtsprechung ist in Sozialrechtssachen - abgesehen von den hier nicht vorliegenden, besonders geregelten Fällen des § 87 Abs 4 ASGG - von der Geltung der allgemeinen Grundsätze für die (objektive) Beweislastverteilung auszugehen. Danach gilt die Grundregel, dass jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Normen zu beweisen hat. Wer sich also darauf beruft, dass ein Recht nicht wirksam geworden oder wieder beseitigt worden sei, muss die rechtshemmenden und rechtsvernichtenden Tatsachen behaupten und beweisen. So trifft in den Fällen einer Entziehung einer zuerkannten laufenden Leistung den Versicherungsträger die Behauptungs- und die objektive Beweislast dafür, dass eine rechtlich relevante Besserung des bei Gewährung der Leistung bestandenen Zustands eingetreten ist (vgl 10 ObS 58/11v, SSV-NF 25/57). Diesen Beweis konnte die beklagte Partei bzw ihre Nebenintervenientin unbestritten nicht erbringen. Weitere Gründe, welche den Entzug des vom Kläger aufgrund eines rechtskräftigen Bescheids unbefristet bezogenen Pflegegeldes rechtfertigen könnten, sind dem im Verfahren erster Instanz von der beklagten Partei bzw deren Nebenintervenientin erstatteten Prozessvorbringen selbst bei weitherziger Auslegung nicht zu entnehmen. Die Verpflichtung der Sozialgerichte zur amtswegigen Beweisaufnahme bezieht sich aber nicht auf anspruchsvernichtende Umstände, für die der Sozialversicherungsträger behauptungspflichtig ist, wenn er solche Behauptungen nicht aufgestellt hat (vgl RIS-Justiz RS0109126 [T1]).

2.3 Im vorliegenden Verfahren ist auch auf den Bescheid der Nebenintervenientin vom 3. 6. 2013 über die von Amts wegen erfolgte Wiederaufnahme des seinerzeit zur Leistungsgewährung mit Bescheid der beklagten Partei vom 5. 10. 2009 führenden Verfahrens nicht weiter einzugehen, weil auf nach Schluss der Verhandlung in erster Instanz (2. 5. 2013) eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage aufgrund des Neuerungsverbots nicht mehr Bedacht genommen werden kann (10 ObS 35/99s, SSV-NF 13/33 mwN).

2.4 Es erübrigt sich daher im gegenständlichen Verfahren ein Eingehen auf die von der Revisionswerberin als erheblich angesehene Rechtsfrage, ob in jedem Fall eine ursprünglich nicht zustehende Leistung einem rechtsmissbräuchlich agierenden Leistungsempfänger so lange weiterzugewähren sei, bis der materiell unrichtige Zuerkennungsbescheid im Wege einer im Verwaltungsweg durchzuführenden Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 69 AVG formal behoben worden sei, oder dem Gericht insbesondere dann, wenn der Leistungsempfänger erkannt habe oder erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte, die Möglichkeit offen stehe, den Weiterbezug einer Leistung auch ohne die über die Leistung ergangene Entscheidung zu hemmen.

2.5 Da die Entscheidung somit nicht von der Lösung dieser Rechtsfrage abhängt, musste die außerordentliche Revision der beklagten Partei mangels einer entscheidungswesentlichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen werden.

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