OGH 7Ob82/13d

OGH7Ob82/13d3.7.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Dr.

Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Dehn und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B***** B*****, vertreten durch Dr. Herbert Hubinger, Rechtsanwalt in Micheldorf, gegen die beklagte Partei A*****AG, *****, vertreten durch Musey rechtsanwalt gmbH in Salzburg, wegen 203.500 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 6. März 2013, GZ 6 R 24/13m‑45, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 27. November 2012, GZ 5 Cg 95/11m‑40, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Zuspruchs von 153.500 EUR sA als vom Revisionsverfahren nicht betroffen unberührt bleiben, werden im Übrigen, sohin im Umfang der Abweisung von 50.000 EUR sA, aufgehoben. Die Rechtssache wird in diesem Umfang an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger ist bei der Beklagten im Rahmen einer Unfallversicherung gegen Invalidität versichert. Die Versicherungssumme bei Invalidität beträgt 100.000 EUR. Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUVB 2006) und die Besonderen Bedingungen Nr 8341 zugrunde.

Art 7 der AUVB lautet auszugsweise:

„[...]

1.3 Wie wird der Invaliditätsgrad bemessen?

1.3.1 Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich die folgenden Invaliditätsgrade:

[...]

oder eines Fußes 50 %

...

des Gehörs eines Ohres 30 %

[...]

1.3.2 Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.

[...]“

Die Besonderen Bedingungen lauten auszugsweise wie folgt:

„Für die Bemessung der Invaliditätsleistung gelten in Ergänzung des Art 7 Punkt 1.2 AUVB 2006 (Wie wird die Invaliditätsleistung berechnet?) folgende zusätzliche Bestimmungen:

Übersteigt der gemäß den Art 7 Pkt 1.3 bis 1.5 festgestellte Invaliditätsgrad 25 %, so wird

‑ für den Teil von 26 % bis 50 % die Leistung um die Hälfte erhöht,

‑ für den Teil von 51 % bis 75 % die Leistung vervierfacht und

‑ für den Teil von 76 % bis 99 % die Leistung verzehnfacht.“

Der Kläger erlitt infolge eines Sturzes am 19. 6. 2009 folgende Verletzungen und Dauerfolgen:

1. Eine parietotemporale Fraktur mit sekundärer Einblutung in das rechte Mittelohr. Dies hat zu einer kombinierten Schwerhörigkeit geführt, gleichzeitig trat ein hochfrequentes Ohrgeräusch auf. Die auf den Unfall kausal zurückzuführende Invalidität beträgt 1,5 %.

2. Eine milde neurogene Blasenentleerungsstörung im Sinn eines imperativen Harndrangs sowie situationsbedingter Dranginkontinenz und eine neurogene erektile Dysfunktion. Dies ist mit einem Invaliditätsgrad von 15 % zu bemessen.

3. Einen Bruch des Schläfenbeins mit kleinem minimalem Subduralhämatom, einem Bruch des zwölften Brustwirbelkörpers und einen Bruch beider Fersenbeine. Die Schädigung der Wirbelsäule ist mit 10 % zu bewerten.

Die Bewegungsstörung am Sprunggelenk ergibt 6/20 Fußwert, das zusätzliche Bewegungsdefizit im unteren Sprunggelenk von 2/3 ergibt eine Erhöhung um 3/20 Fußwert.

„Auf Grund der auffälligen Minderbeschwielung errechnet sich ein Aufschlag von 1/20 Fußwert und auf Grund der Arthrosezeichen im unteren Sprunggelenk beidseits ein Aufschlag von 1/20 Fußwert, insgesamt ergibt sich somit für jedes Bein eine Einschätzung von 11/20 Fußwert. Entsprechend der AUVB 2006 (Bewertung Fußwert 50 %) entspricht dies einer Dauerinvalidität von 27,5 % pro Fuß und einer gesamten Invalidität der Beine von 55 %“ (wörtliche Ausführungen des Erstgerichts).

Der Kläger begehrte zuletzt die Zahlung von 203.500 EUR sA. Es sei von einer Gesamtinvalidität von 81,5 % auszugehen. Unter Anwendung der Besonderen Bedingungen Nr 8341 „Dauernde Invalidität ‑ Progression 25/500“ ergebe sich ein Gesamtanspruch von 227.500 EUR. Davon sei die Zahlung der Beklagten in Höhe von 24.000 EUR abzuziehen.

Die Beklagte wandte ein, dass eine behauptete Gesamtinvalidität von 81,5 % nicht vorliege.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren Folge. Die festgestellten Verletzungen und Beeinträchtigungen seien innerhalb eines Jahres nach dem Unfall aufgetreten, unfallkausal und würden insgesamt eine Dauerinvalidität von 81,5 % ergeben. Unter Beachtung der Progression gemäß der Besonderen Bedingungen Nr 8341 errechne sich eine Versicherungsleistung in Höhe von 227.500 EUR, wovon die bereits geleistete Zahlung der Beklagten in Abzug zu bringen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und wies das Zahlungsbegehren im Umfang von 50.000 EUR sA ab. Die vom Obersten Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Gliedertaxe stehe einer gesonderten Zuerkennung eines Zuschlags für die Minderbeschwielung der Fußsohlen entgegen, dokumentiere diese doch nur eine Funktionsbeeinträchtigung infolge eines Muskelverlusts. Die Funktionsbeeinträchtigung sei im in der Gliedertaxe genannten Invaliditätsgrad für die Verletzung eines Fußes bereits mitberücksichtigt. Bei Außerachtlassung des Zuschlags für die Minderbeschwielung ergebe sich eine Invalidität für jedes Bein im Ausmaß von 10/20 des Fußwerts. Somit errechne sich bezogen auf den gesamten Körper eine Invalidität von 76,5 %. Die dem Kläger gebührende Versicherungsleistung betrage daher unter Berücksichtigung der Besonderen Bedingungen Nr 8341 177.500 EUR, sodass die Beklagte nach Abzug der Zahlung noch 153.500 EUR zu leisten habe.

Gegen die Abweisung des Betrags von 50.000 EUR sA wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.

1. Im Revisionsverfahren strittig ist lediglich, ob die Dauerinvalidität pro Fuß mit 25 % (ohne Berücksichtigung der Minderbeschwielung) oder mit 27,5 % (unter Berücksichtigung der Minderbeschwielung) anzunehmen ist.

2.1 Für den Fall einer dauernden Invalidität des Versicherten hat der Versicherer die sich aus der Versicherungssumme und dem Grad der Invalidität zu berechnende Versicherungsleistung zu erbringen.

Die gemäß Art 7 1.3.1 der AUVB zwischen den Streitteilen vereinbarte Gliedertaxe bestimmt nach dem abstrakten und generellen Maßstab (vgl Grimm , Unfallversicherung 5 Z 2 Rn 22) feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Glieder. Gleiches gilt bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines durch die Gliedertaxe abgegrenzten Teilbereichs eines Gliedes. Demgemäß beschreibt die benannte Bestimmung abgegrenzte Teilbereiche des Beines und ordnet jedem Teilbereich einen festen Invaliditätsgrad zu, der mit Rumpfnähe des Teilgliedes steigt. So wird etwa der Invaliditätsgrad bei Verlust oder Funktionsfähigkeit eines Fußes mit 50 % bestimmt. Muss also einem Versicherten ein Fuß unfallbedingt amputiert werden oder ist der Fuß wegen eines unfallbedingten Dauerschadens vollständig funktionsunfähig, steht der Invaliditätsgrad nach der Gliedertaxe ‑ unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität ‑ in dieser Höhe unverrückbar fest (7 Ob 304/05i, BGH VersR 2001, 360; VersR 2009, 492; Grimm aaO mwN).

2.2 Bei teilweisem Verlust oder teilweiser Funktions‑ oder Gebrauchsunfähigkeit wird der entsprechende Teil des Prozentsatzes angenommen. Die Funktions‑ oder Gebrauchsunfähigkeit eines Gliedes wird üblicherweise in Bruchteilen der vollen Gebrauchsunfähigkeit ausgedrückt. Der in der Gliedertaxe vorgesehene Prozentsatz wird entsprechend dieses Bruchteils vermindert ( Grimm aaO Rn 23).

3. Nach ständiger Rechtsprechung sind Allgemeine Versicherungsbedingungen nach Vertragsauslegungsgrundsätzen (§§ 914 ff ABGB) auszulegen. Die Auslegung hat sich am Maßstab des durchschnittlichen verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren, wobei die einzelnen Klauseln, wenn sie Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihren Wortlaut auszulegen sind. Es ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck der Bestimmung zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0050063; RS0008901; RS0017960).

4. Der Oberste Gerichtshof legte die mit Art 7. 1.3.1 und Art 7.1.3.2 im Wesentlichen wortgleichen Bestimmungen (Z 2.1.2.2.1 AUB 99/2002) dahin aus, dass nach Wortlaut und Gliederung kein Zweifel daran besteht, dass bei allen in der Gliedertaxe für einzelne Teilbereiche angeführten Invaliditätsgraden jeweils bereits mitberücksichtigt ist, wie sich ein unfallbedingter Verlust oder die unfallbedingte Gebrauchsbeschränkung eines rumpfferneren Körpergliedes auf den verbleibenden Gliederrest auswirkt (7 Ob 304/05i, BGH VersR 1990, 964; VersR 1991, 413; VersR 1996, 494; VersR 2001, 360; VersR 2003, 1163; Grimm aaO Rn 25). Dass der Verlust eines rumpfferneren Gliedes auch die Gebrauchsfähigkeit des verbleibenden Teils beeinträchtigt, kann daher nicht zu einer Erhöhung der Leistung des Versicherers führen. Die zwangsläufigen Folgen der Unfallverletzung eines „Untergliedes“ für die Funktion der gesamten Extremität, zum Beispiel Muskelverschmächtigungen, sind mit den Prozentsätzen der Gliedertaxe für Verlust und Funktionsunfähigkeit des distalen Gliedmaßenabschnitts bereits abgegolten und dürfen daher nicht zusätzlich berücksichtigt werden (7 Ob 304/05i).

5. Das Berufungsgericht legte seiner Entscheidung diese von ihm auch zutreffend wiedergegebene Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zugrunde. Es ging weiters davon aus, dass die Minderbeschwielung der Fußsohlen lediglich eine Funktionsbeeinträchtigung der Beine infolge Muskelverlusts dokumentiere, die in dem in der Gliedertaxe genannten Invaliditätsgrad für die Verletzung des Fußes bereits mitberücksichtigt sei.

Für diese berufungsgerichtliche Beurteilung reichen jedoch die erstgerichtlichen Feststellungen ebenso wenig aus wie für die Beurteilung des Erstgerichts, die Minderbeschwielung indiziere eine Erhöhung des Fußwerts. Die im Rahmen der erstgerichtlichen Feststellungen enthaltene Aussage „auf Grund der auffälligen Minderbeschwielung errechnet sich ein Aufschlag von 1/20 Fußwert“ lässt weder erkennen, woraus diese genannte Minderbeschwielung überhaupt resultiert, noch ob es sich dabei um eine unfallbedingte Funktionsstörung des Fußes selbst oder aber um eine Ausstrahlung der Funktionsbeeinträchtigung des Fußes auf das Bein handelt.

In diesem Sinn sind die erstgerichtlichen Feststellungen zu ergänzen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte