Spruch:
Rudolf F***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Über Rudolf F***** wurde mit Beschluss des Landesgerichts Wels vom 18. Jänner 2013 wegen des Verdachts der Verbrechen der Brandstiftung nach § 169 Abs 1 StGB, des schweren Raubes nach §§ 12 dritter Fall, 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB, des schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1 StGB und des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall StGB sowie des Vergehens der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StGB aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit a und b StPO die Untersuchungshaft verhängt (ON 359).
Mit Schreiben jeweils vom 29. Jänner 2013 gab der Verteidiger Mag. Dr. Andreas M***** seine Bevollmächtigung bekannt (ON 438) und beantragte „die Herstellung einer kostenlosen Aktenkopie“ (ON 436).
Mit Beschlüssen vom 1. Februar 2013 (ON 459) und 1. März 2013 (ON 541) wurde die Untersuchungshaft jeweils aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO fortgesetzt.
Gegen den Beschluss vom 1. März 2013 erhob der Beschuldigte Beschwerde (ON 548), in der er sich gegen die erstrichterlichen Annahmen zu Tatverdacht, Haftgründen und Angemessenheit der Haft wendete; erläuternd führte er hiezu aus, ihm sei nach wie vor keine Aktenkopie zur Verfügung gestellt worden, sodass eine effektive Verteidigung bislang nicht möglich gewesen sei.
Aus Anlass dieser Beschwerde verfasste die Haft‑ und Rechtsschutzrichterin eine (undatierte) „Stellungnahme“, wonach ‑ zusammengefasst ‑ die Übermittlung einer Aktenkopie wegen des großen Aktenumfangs und des Defekts eines Kopiergeräts sowie wegen Personalengpässen in der Kopierstelle trotz größter Bemühungen nicht habe bewerkstelligt werden können (ON 672).
Dem Verteidiger wurde schließlich am 5. März 2013 eine Aktenkopie übermittelt (ON 684 S 5).
Mit Beschluss vom 25. April 2013, AZ 9 Bs 90/13v (ON 674), gab das Oberlandesgericht Linz der am 4. März 2013 ausgeführten Beschwerde des Beschuldigten (ON 548) nicht Folge und ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit b StPO längstens bis 25. Juni 2013 an. Begründend führte es ‑ zusammengefasst ‑ aus, dass ein dringender Tatverdacht ‑ wenn auch nicht hinsichtlich aller Fakten ‑ gegeben und aufgrund des Verdachts der Begehung zum Teil schwerwiegender Straftaten über einen mehrjährigen Zeitraum Tatbegehungsgefahr indiziert sei.
Zu der von der Beschwerde kritisierten Unterlassung der Übermittlung einer Aktenkopie an den Verteidiger verwies es ‑ ohne diesen Umstand als Grundrechtsverletzung anzuerkennen ‑ auf die oben angeführte Stellungnahme der Haft‑ und Rechtsschutzrichterin.
Rechtliche Beurteilung
Gegen den angeführten Beschluss des Oberlandesgerichts Linz richtet sich die rechtzeitige Grundrechtsbeschwerde des Rudolf F***** (ON 684), mit der er eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit releviert, weil das Oberlandesgericht Linz die Säumnis, seinem Verteidiger unverzüglich eine Aktenkopie zuzustellen, „nicht beanstandet und auch keine konkreten Maßnahmen ... daran geknüpft hat“.
Vorauszuschicken ist, dass eine Grundrechtsverletzung im Sinne des § 1 Abs 1 GRBG unter anderem dann vorliegt, wenn eine haftrelevante Vorschrift in letzter Instanz missachtet oder deren Missachtung durch eine Unterinstanz nicht festgestellt und bereinigt, erforderlichenfalls ausgeglichen worden ist (RIS‑Justiz RS0061078 [T2]).
Gemäß § 52 Abs 1 StPO sind dem Beschuldigten, soweit ihm Akteneinsicht zusteht, auf Antrag Kopien des Akts (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts) auszufolgen oder herstellen zu lassen.
Wenn er sich in Haft befindet, sind ihm (ab Bevollmächtigung oder Bestellung dem Verteidiger) gemäß § 52 Abs 3 erster und zweiter Satz iVm Abs 2 Z 2 StPO vom Gericht von Amts wegen unentgeltlich und unverzüglich bis zur ersten Haftverhandlung oder zur früher stattfindenden Hauptverhandlung Kopien jener Aktenstücke auszufolgen, die für die Beurteilung des Tatverdachts oder der Haftgründe von Bedeutung sein können.
Im gegenständlichen Fall hätte das Landesgericht Wels dem Verteidiger demnach ‑ unabhängig von einem darauf gerichteten Antrag ‑ bereits bis zur ersten Haftverhandlung am 1. Februar 2013 von Amts wegen Kopien jener haftrelevanten Aktenstücke zustellen müssen. Tatsächlich kam das Gericht ‑ aus welchen Gründen auch immer (RIS‑Justiz RS0121792) ‑ dieser Verpflichtung nicht einmal bis zur zweiten Haftverhandlung nach.
Damit war eine gewichtige Schmälerung der Verteidigungsrechte verbunden, denn der Beschuldigte war durch diese Säumnis nicht in der Lage, zur Vorbereitung der Haftverhandlung(en) die ihm nach dem Gesetz zustehenden Verteidigungsrechte (vgl § 176 Abs 4 StPO) effizient in Anspruch zu nehmen und insbesondere das Vorliegen der Haftvoraussetzungen zu überprüfen. Solcherart stellt die Unterlassung der zeitgerechten Übermittlung einer Aktenkopie eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit dar (vgl Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 117; 13 Os 37/09d).
Da dem Verteidiger noch vor der Entscheidung des Oberlandesgerichts am 25. April 2013 eine Aktenkopie übermittelt worden war, wobei ihm auch die Möglichkeit geboten worden war, sich binnen sieben Tagen zur ‑ alle haftrelevanten Umstände aussprechenden ‑ Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft vom 2. April 2013 zu äußern, bestand für einen darauf gerichteten Auftrag des Beschwerdegerichts an das Landesgericht Wels ‑ naturgemäß ‑ keine Veranlassung mehr. Weil das ‑ unter Berücksichtigung aller Umstände, die nach dem bekämpften Beschluss eingetreten oder bekannt geworden sind, zur Entscheidung in der Sache selbst verpflichtete (§ 89 Abs 2b erster Satz StPO) ‑ Oberlandesgericht nur (zulässiger Weise) die Fortsetzung der Untersuchungshaft angeordnet, nicht aber zudem die vorliegende Grundrechtsverletzung durch deren Feststellung anerkannt und durch den Auftrag an das Erstgericht, unverzüglich eine weitere Haftverhandlung durchzuführen, ausgeglichen hat (vgl Grabenwarter/Pabel EMRK5 § 13 Rz 18 mwN), wurde Rudolf F***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt (vgl 13 Os 37/09d; Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 117).
Es war daher in Stattgebung der Grundrechtsbeschwerde, jedoch ohne Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (§ 7 Abs 1 GRBG), auszusprechen, dass Rudolf F***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
Dem Einzelrichter im Ermittlungsverfahren ist damit aufgetragen, unverzüglich den der Rechtsanschauung des Obersten Gerichtshofs entsprechenden Rechtszustand herzustellen und von Amts wegen neuerlich über die Haft zu entscheiden, um das Fortwirken der Grundrechtsverletzung zu unterbinden (vgl RIS‑Justiz RS0119858; Kier in WK2 GRBG § 7 Rz 7 ff).
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 8 GRBG.
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