OGH 8ObA40/12h

OGH8ObA40/12h28.5.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr.

Spenling als Vorsitzenden und die Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle und Mag. Johann Schneller als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache des Antragstellers Österreichischer Gewerkschaftsbund, 1020 Wien, Johann‑Böhm‑Platz 1, vertreten durch Dr. Roland Gerlach, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin Wirtschaftskammer Österreich,

Fachverband der Autobus‑, Luftfahrt‑ und Schifffahrtsunternehmungen, 1040 Wien, Wiedner Hauptstraße 63, vertreten durch Kunz Schima Wallentin Rechtsanwälte OEG in Wien, wegen Feststellung gemäß § 54 Abs 2 ASGG, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art 267 AEUV Fragen betreffend die Auslegung des Art 3 Abs 3 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens‑ oder Betriebsteilen, zur Vorabentscheidung vorgelegt:

a. Ist die Wortfolge in Art 3 Abs 3 der Richtlinie 2001/23/EG , wonach die in einem Kollektivvertrag vereinbarten und beim Veräußerer geltenden „Arbeitsbedingungen“ bis zur „Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags“ „im gleichen Maße“ aufrecht zu erhalten sind, dahin auszulegen, dass davon auch solche Arbeitsbedingungen erfasst sind, die mit einem Kollektivvertrag festgelegt wurden und nach nationalem Recht trotz dessen Kündigung unbefristet weiter nachwirken, solange nicht ein anderer Kollektivvertrag wirksam wird oder die betroffenen Arbeitnehmer neue Einzelvereinbarungen abgeschlossen haben?

b. Ist Art 3 Abs 3 der Richtlinie 2001/23/EG dahin auszulegen, dass unter „Anwendung eines anderen Kollektivvertrags“ des Erwerbers auch die Nachwirkung des ebenfalls gekündigten Kollektivvertrags des Erwerbers im eben dargestellten Sinne zu verstehen ist?

II. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft iSd § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung

I. Sachverhalt und Vorbringen:

I.1. Das vorliegende Verfahren ist ein Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 2 ASGG. In einem solchen Verfahren können kollektivvertragsfähige Körperschaften der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer (§§ 4 bis 7 ArbVG) im Rahmen ihres Wirkungsbereichs gegen eine kollektivvertragsfähige Körperschaft der Arbeitnehmer beziehungsweise der Arbeitgeber beim Obersten Gerichtshof einen Antrag auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens von Rechten oder Rechtsverhältnissen anbringen, die einen von namentlich bestimmten Personen unabhängigen Sachverhalt betreffen.

Der Oberste Gerichtshof hat über einen solchen Feststellungsantrag auf der Grundlage des darin angegebenen Sachverhalts zu entscheiden.

I.2. Im vorliegenden Verfahren hat die antragstellende Partei ‑ soweit hier von Interesse ‑ folgenden Sachverhalt vorgebracht:

Antragstellerin und Antragsgegner haben für ein Konzernunternehmen, das vom Antragsgegner aufgrund seiner Gewerbeberechtigung als dessen Mitglied im Rahmen der Berechtigung zum Abschluss für Kollektivverträge (im folgenden KV) vertreten wird, einen KV bestehend aus mehreren Teilen samt Zusatzkollektivvertrag abgeschlossen. Innerhalb dieses KV wird zwischen Arbeitnehmern, die vor dem 1. 4. 2004 eingetreten sind, und jenen, die nach diesem Zeitpunkt eingetreten sind, unterschieden. Für ein Tochterunternehmen dieses Konzernunternehmens, das ebenfalls aufgrund seiner Gewerbeberechtigung Mitglied des Antragsgegners ist, haben die Streitteile einen gesonderten KV abgeschlossen. Der Geltungsbereich der beiden KV ist dahin abgegrenzt, dass der KV des Mutterunternehmens auch für alle anderen Luftfahrtunternehmen des Konzerns gilt, soweit diese nicht ausschließlich Regionalverkehr (Flugzeuge mit 30 bis 80 bzw maximal 110 Sitzplätzen) betreiben. Dem KV der Konzernmutter wurde eine zwischen den Streitteilen abgeschlossene „Garantievereinbarung“ vorangestellt, wonach für bestimmte Teile Änderungen nur zulässig sind, wenn eine qualifizierte Dreiviertelmehrheit der betroffenen Piloten und Flugbegleiter dieser Änderung in einer notariell beglaubigten Abstimmung zustimmt.

Mit 30. 4. 2012 beschloss der Vorstand der Konzernmutter, den Flugbetrieb in Form eines Betriebsübergangs in die Konzerntochter einzubringen, um dadurch für die betroffenen Arbeitnehmer die ungünstigeren Arbeitsbedingungen nach dem auf diese Konzerntochter anzuwendenden KV zu erreichen. Der Antragsgegner kündigte daraufhin den KV der Konzernmutter zum 30. 6. 2012 auf. Allerdings kündigte in weiterer Folge auch die Antragsstellerin den KV der Konzerntochter zu diesem Termin auf.

Der neue Arbeitgeber wendet nunmehr einseitig erlassene Unternehmensrichtlinien an, die die Arbeitsbedingungen der vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer signifikant verschlechtern und bei diesen Arbeitnehmern zu beträchtlichen Gehaltseinbußen führen, und zwar (kumuliert) bei den Arbeitnehmern, die vor dem 1. 4. 2004 eingetreten sind, zu von 40 bis 54 %, und bei jenen Arbeitnehmern, die danach eingetreten sind, zwischen 25,5 und 32,5 %.

I.3. Soweit für dieses Vorabent-scheidungsersuchen wesentlich, begehrt die Antragstellerin die Feststellung, dass der KV der Konzernmutter für alle übergegangenen Arbeitnehmer nachwirkt bzw dessen Inhaltsnormen auch für die im Betrieb der Tochtergesellschaft übernommenen Arbeitnehmer nachwirken. Die Antragstellerin geht davon aus, dass die Umsetzungsbestimmung des § 4 Abs 1 des Arbeitsvertragsrechtsanpassungsgesetzes (im Folgenden AVRAG) den Wortlaut der Richtlinie 2001/23/EG übernimmt. Der aufgekündigte Kollektivvertrag der Muttergesellschaft müsse jedenfalls im Wege der Nachwirkung gelten, da die Tochtergesellschaft über keinen aufrechten KV mehr verfüge. Im Ergebnis gehe es darum, die Arbeitnehmer vor Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu schützen. Auch der EuGH habe den Schutzcharakter der Betriebsübergangsrichtlinie betont. Es könne nicht sein, dass die Arbeitnehmer durch den Betriebsübergang bloß auf das „ortsübliche Entgelt“ verwiesen werden. Eine derartige Rechtsansicht würde Missbräuchen Tür und Tor öffnen und Staatshaftungsansprüche begründen. Die Nachwirkung des KV habe gerade die Aufgabe, einen kollektivvertragslosen Zustand zu vermeiden.

I.4. Die Antragsgegnerin beantragte die Abweisung des Antrags. Der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs seien konkrete Vorgaben hinsichtlich eines Mindeststandards für die Nachwirkungen von Kollektiverträgen nicht zu entnehmen. Ein zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits gekündigter oder ausgelaufener KV müsse vom Erwerber nicht zwingend beachtet werden. Verpönt sei es nur, den Betriebsübergang zum Anlass zu nehmen, in einem eigenen KV Verschlechterungen vorzunehmen. Nach dem österreichischen Recht sei zwischen dem KV und seiner Nachwirkung zu unterscheiden; nur der KV selbst könne im Rahmen eines Betriebsübergangs auch beim Erwerber weiter wirken. Da der KV ebenso wie die Nachwirkung nicht Bestandteil des Arbeitsvertrags werde, gehe dieser auch nicht als einzelvertragliche Arbeitsbedingung auf den Erwerber über.

Im Übrigen erstattete die Antragsgegnerin ein umfangreiches Vorbringen zu der Erforderlichkeit ihrer Maßnahme, da in den letzten Jahren eine Milliarde Euro an Vertriebsverlusten aufgetreten seien und eine Kostenreduktion, die überwiegend ohnehin nicht im Bereich des Personals durchgeführt worden sei, für den Fortbestand des Unternehmens erforderlich sei.

Rechtliche Beurteilung

II. Zur innerstaatlichen Rechtslage:

II.1. Im österreichischen Arbeitsrecht wird die Existenz von Sozialpartnern (Kollektivvertragsparteien) grundsätzlich durch die fachlich bzw branchenmäßig gegliederte gesetzliche Interessenvertretungen der Antragsgegnerin ‑ Wirtschaftskammer / Fachverband ‑ garantiert. Der wesentliche Teil der gewerblich tätigen Unternehmen wird mit der Aufnahme und der verpflichtenden Anmeldung ihrer gewerblichen Tätigkeit nach dem Wirtschaftskammergesetz und dazu erlassenen Verordnungen zwingend von der Antragsgegnerin bzw anderen Bereichen dieses Systems erfasst und verschiedenen Organisations- und Verhandlungseinheiten zugeordnet. Die so zugeordneten Arbeitgeber werden von diesen Organisations‑ und Verhandlungseinheiten im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen vertreten. Zwar besteht unter bestimmten Voraussetzungen (unter anderem eine nach Zahl der Mitglieder und des Tätigkeitsumfangs maßgebende wirtschaftliche Bedeutung) auch die Möglichkeit, freiwilligen Interessenvertretungen durch Bescheid die Fähigkeit zum Abschluss von Kollektivverträgen zuzuerkennen (§ 5 des Arbeitsverfassungsgesetzes, im Folgenden ArbVG). Weit überwiegend erfolgt aber die Vertretung durch die Antragsgegnerin. Die abgeschlossenen KV und vereinbarten Mindeststandards gelten regelmäßig für alle Arbeitnehmer in der jeweiligen Branche, auch wenn die Arbeitnehmer nicht Mitglied bei der verhandelnden Arbeitnehmer‑Kollektivvertragspartei sind (§ 12 ArbVG ‑ Außenseiterwirkung). Dieser Bedeutung des Verhandlungsmandats der einzelnen Organisations‑ und Verhandlungseinheiten der Wirtschaftskammern als Vertreter des wesentlichen Teils der gewerblich tätigen Unternehmen auf Arbeitgeberseite entsprechend ist das Kollektivvertragssystem stark auf einen der jeweiligen Wirtschaftskraft der Branche entsprechenden angemessenen Lohn fokussiert. Dies zeigt sich etwa darin, dass Unternehmen, die gar nicht Mitglied der Antragsgegnerin sind, weil sie es rechtswidrigerweise unterlassen haben, ihr Gewerbe anzumelden, trotzdem den von der Antragsgegnerin ausverhandelten Branchenkollektivvertrag anwenden müssen (§ 2 Abs 13 der Gewerbeordnung), ebenso die Unternehmen die nur mangels entsprechender Niederlassung nicht der Antragsgegnerin angehören, aber ständig Arbeitnehmer beschäftigen (§ 7 des Arbeitsvertragsrecht-Anpassungsgesetzes ‑ AVRAG). Der KV wird grundsätzlich nicht Bestandteil des Arbeitsvertrags, sondern wirkt auf diesen wie ein Gesetz ein (OGH 9 ObA 84/07d). Wenn der Arbeitgeber sein Gewerbe ändert und damit einer anderen Organisationseinheit zugeordnet wird, gelangt der KV dieser neuen Branche zur Anwendung, auch wenn dieser schlechter ist. Ähnliches gilt, wenn der Arbeitgeber zwei verschiedene Gewerbe in einem einheitlichen Betrieb betreibt, von denen vorweg das eine und dann das andere Gewerbe die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat (§ 9 ArbVG). Den Arbeitnehmern steht bei Wirksamwerden des neuen KV bei Verschlechterungen kein Anspruch auf das höhere alte KV‑Entgelt zu, sondern nur das dem neuen maßgeblichen Wirtschaftszweig angemessene Entgelt des neuen KV.

Zentral für die Bestimmungen des jeweils zur Anwendung gelangenden KV ist § 8 Z 1 und Z 2 ArbVG. Demnach sind, sofern der KV selbst nichts anderes bestimmt, innerhalb seines räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereichs die Arbeitgeber, die zur Zeit des Abschlusses des KV Mitglieder der am KV beteiligten Parteien waren oder später werden (Z 1), sowie die Arbeitgeber, auf die der Betrieb oder ein Teil des Betriebs eines der in Z 1 bezeichneten Arbeitgeber übergeht (Z 2), kollektivvertragsangehörig. Ist beim Erwerber ein anderer KV als beim Veräußerer anzuwenden, so gilt grundsätzlich der KV des Erwerbers, es kommt also zu einem Kollektivvertragswechsel (RIS‑Justiz RS0120297; abrufbar unter http://193.58.211.1/Jus oder http://www.ris.bka.gv.at/Jus) Meist gelten die KV für alle Mitglieder der jeweiligen Verhandlungseinheit (Branche) der Wirtschaftskammern. Eine allfällige Abgrenzung unterliegt einer Sachlichkeitskontrolle. Der vorliegende „Firmenkollektivvertrag“ der Konzernmutter ist in dem von Branchenkollektivverträgen beherrschten System eher untypisch und erklärt sich historisch aus deren früherer Monopolstellung.

II.2. Zum Betriebsübergang bestimmt § 3 Abs 1 AVRAG, dass der Erwerber mit allen Rechten und Pflichten in die im Zeitpunkt des Übergangs beim Veräußerer bestehenden Arbeitsverhältnisse eintritt. Gemäß § 3 Abs 3 AVRAG bleiben dabei die Arbeitsbedingungen aufrecht, es sei denn, (unter anderem) aus den Bestimmungen über den Wechsel der Kollektivvertragsangehörigkeit (§ 4 AVRAG) ergibt sich anderes.

§ 4 Abs 1 AVRAG lautet:

Nach Betriebsübergang hat der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrages oder bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrages in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. Die Arbeitsbedingungen dürfen zum Nachteil des Arbeitnehmers durch Einzelarbeitsvertrag innerhalb eines Jahres nach Betriebsübergang weder aufgehoben noch beschränkt werden.“

Ergänzend gibt es Schutzbestimmungen für das für die regelmäßige Arbeitsleistung in der Normalarbeitszeit gebührende kollektivvertragliche Entgelt und einen allenfalls bestehenden kollektivvertraglichen Kündigungsschutz (§ 4 Abs 2 AVRAG), weiters ein Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer in bestimmten Fällen (§ 3 Abs 4 AVRAG) sowie die Möglichkeit der begünstigten Lösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer bei wesentlichen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen (§ 3 Abs 5 AVRAG).

§ 13 ArbVG lautet:

Die Rechtswirkungen des Kollektivvertrages bleiben nach seinem Erlöschen für Arbeitsverhältnisse, die unmittelbar vor seinem Erlöschen durch ihn erfaßt waren, so lange aufrecht, als für diese Arbeitsverhältnisse nicht ein neuer Kollektivvertrag wirksam oder mit den betroffenen Arbeitnehmern nicht eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen wird.

Der Sinn dieser Nachwirkung eines erloschenen KV besteht darin, eine kollektivvertragslose Phase zu überbrücken(RIS‑Justiz RS0050925) und der Herbeiführung eines kollektivvertragslosen Zustands den Anreiz zu nehmen.

II.3. Insgesamt besteht in Österreich ein System, das überwiegend auf die kollektive Verhandlung eines für die Branche angemessenen Entgelts ausgerichtet ist und das dieses Verhandlungsergebnis in verschiedener Weise absichert und ausweitet. Bei Veränderungen wird der aktuellen Zugehörigkeit zu einer Verhandlungseinheit und dem von dieser verhandelten KV das größere Gewicht zugemessen.

III. Unionsrechtliche Grundlagen:

Maßgeblich ist die Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen.

Die Art 3 und 4 der Richtlinie lauten auszugsweise wie folgt:

Artikel 3

(1) Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über ... .

(3) Nach dem Übergang erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren.

Die Mitgliedstaaten können den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen begrenzen, allerdings darf dieser nicht weniger als ein Jahr betragen.

Artikel 4 ...

2. Kommt es zu einer Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses, weil der Übergang eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers zur Folge hat, so ist davon auszugehen, dass die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber erfolgt ist.

Art 8 der Richtlinie bestimmt:

Diese Richtlinie schränkt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten nicht ein, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere Kollektivverträge und andere zwischen den Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarungen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, zu fördern oder zuzulassen.“

IV. Zu den Vorlagefragen

IV.1. Das Betriebsübergangsrecht des AVRAG und des ArbVG unterscheidet ‑ vergleichbar der Richtlinie ‑ zwischen den Wirkungen des Betriebsübergangs auf den Arbeitsvertrag, der jedenfalls auf den Erwerber übergeht (Art 3 Abs 1 RL 2001/23/EG ; § 3 Abs 1 AVRAG), und den Auswirkungen auf die kollektiv ausgehandelten Arbeitsbedingungen. Bei diesen „kollektiven“ Arbeitsbedingungen wird grundsätzlich die Wirksamkeit der Regelungen der neuen kollektiven Verhandlungspartner, denen der Erwerber angehört, zugrunde gelegt (Art 3 Abs 3 1. Satz RL 2001/23/EG ; § 8 ArbVG; zu den Betriebsvereinbarung § 31 ArbVG); es werden aber gewisse Schutzmechanismen eingebaut (Art 3 Abs 3 2. Satz RL 2001/23/EG ; § 4 AVRAG etc). Es geht nun darum, wie in diesem System die „Nachwirkung“ eines KV einzuordnen ist.

IV.2. Im Rahmen des österreichischen Kollektivvertragsrechts wird zwischen den Wirkungen des KV während seines aufrechten Bestands und den „Nachwirkungen“ des KV zwischen den Arbeitsvertragsparteien nach dessen Auslaufen zwischen den Kollektivvertragsparteien unterschieden. Der aufrechte KV kann zu Ungunsten der Arbeitnehmer durch Vereinbarungen im Arbeitsvertrag nicht abbedungen werden. Insoweit ist immer ein Vergleich der im Zusammenhang stehenden Regelungen des KV und des einzelnen Arbeitsvertrags vorzunehmen, wobei die in einem sachlichen Zusammenhang stehenden, insgesamt für den Arbeitnehmer günstigeren Regelungen vorgehen (§ 3 ArbVG). Dies trifft auf die „Nachwirkung“ des Kollektivvertrags nicht zu; Arbeitnehmer und Arbeitgeber können also auch zum Nachteil des Arbeitnehmers Änderungen vereinbaren, allerdings nur mit Zustimmung des Arbeitnehmers. Auch endet die „Nachwirkung“ grundsätzlich dann, wenn für das Arbeitsverhältnis ein neuer KV wirksam wird (§ 13 ArbVG), ohne dass es darauf ankommen würde, ob die Regelungen dieses neuen KV günstiger sind. Im Ergebnis kann die „Nachwirkung“ des KV dahin verstanden werden, dass diese in kollektiven Verhandlungen erzielten Regelungen dem Arbeitnehmer gesichert bleiben, solange er nicht selbst in eigenen Verhandlungen eine abweichende arbeitsvertragliche Regelung erzielt oder die Kollektivvertragsparteien zu einem neuen Verhandlungsergebnis gelangen. Die formelle Einordnung dieser Wirkung zwischen Arbeitsvertrag und „Kollektivvertrag“ ist umstritten, weil beide Typen das Phänomen nicht komplett schlüssig erklären können. Gegen den Arbeitsvertrag spricht, dass ohne Günstigkeitsvergleich auch ein neuer KV zum Wegfall der Nachwirkung führt. Gegen den KV spricht, dass die Nachwirkung auch durch Vereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien verschlechtert werden kann.

IV.3. In der österreichischen Lehre und dem Schrifttum werden verschiedene Einordnungen vertreten.

IV.3.a. Die Gegner der Qualifizierung der Nachwirkung eines aufgekündigten KV des Veräußerers für auf den Erwerberbetrieb übergegangene Arbeitnehmer als „Kollektivvertrag“ (§ 8 Z 2 ArbVG und § 4 AVRAG) stützen sich vor allem auf den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen und hinsichtlich der arbeitsvertraglichen Fortwirkung nach § 3 Abs 1 AVRAG auf den besonderen Charakter der Nachwirkung. Nach § 4 Abs 1 AVRAG ende die Rechtswirkung selbst eines im Zeitpunkt des Betriebsübergangs noch in Kraft stehenden KV im Erwerberbetrieb, sobald dieser im Veräußererbetrieb „erlösche“. § 4 Abs 1 2. Satz AVRAG könne nicht bedeuten, dass ein nachwirkender, nachgiebiger KV für ein Jahr zwingend gemacht werde. Das Erlöschen des KV habe auch die Kollektivvertragsangehörigkeit des Veräußerers beendet.

IV.3.b. Die Befürworter der Erstreckung der Wirkungen („Nachwirkung“) eines aufgekündigten Kollektivvertrags des Veräußerers für auf den Erwerberbetrieb übergegangene Arbeitnehmer

verweisen demgegenüber auf den fundamentalen Stellenwert der Nachwirkung im Sinne des § 13 ArbVG und deren Zweck, zugunsten der erfassten Arbeitsverhältnisse das Entstehen von Regelungs‑ und Schutzlücken zu verhindern. Aus § 4 AVRAG lasse sich keine Beseitigung oder Einschränkung der Nachwirkung bei Betriebsübergängen ableiten. Die Wortfolge „… bis zur Kündigung oder zum Ablauf des KV“, sei eine bloße Klarstellung. Das einjährige einzelvertragliche Eingriffsverbot des § 4 Abs 1 2. Satz AVRAG sei überhaupt nur sinnvoll, wenn man es auf die Nachwirkung beziehe, da es sonst keinen praktisch relevanten Anwendungsfall dafür gebe.

IV.4. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des ArbVG und des AVRAG wurden im Zusammenhang mit der Umsetzung der Betriebsübergangsrichtlinie geschaffen und haben teilweise wortwörtlich deren Text übernommen. Der österreichische Gesetzgeber wollte offensichtlich im engsten möglichen Sinne den Vorgaben der Richtlinie entsprechen.

Der Begriff des „Kollektivvertrags“ weist allerdings in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine stark unterschiedliche Bedeutung auf, etwa auch hinsichtlich der Erfassung der Arbeitsverhältnisse und der Wirkung einer Beendigung des KV auf diese (vgl zum Überblick etwa Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa3, Köln, 2011; Susan Mayne/Susan Cameron, Employment Law in Europe, 2001). Die gemeinsame Wurzel des Begriffs der „Kollektivverträge“ besteht darin, dass Arbeitsbedingungen nicht durch den einzelnen Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber im Arbeitsvertrag ausgehandelt werden, sondern kollektiv von Arbeitnehmerverbänden und Arbeitgeberverbänden (Arbeitgebern). Legte man der Richtlinie ein so weites Verständnis des Begriffs des KV zugrunde, so würde dies auch auf die „Nachwirkung“ von KV im Sinne des österreichischen Rechts im dargestellten Sinne zutreffen. Die bloße Übernahme des Wortes „Kollektivvertrag“ in der Richtlinie als „Kollektivvertrag“ im Sinne des österreichischen Rechts wäre dann bloß eine vom Gesetzgeber nicht bedachte Verengung der Wirkungen der Richtlinie. Sowohl unter dem Aspekt der richtlinienkonformen Interpretation als auch der historischen Interpretation wäre dann bei Betriebsübergängen von der Erfassung der „Nachwirkung eines Kollektivvertrags“ als „Kollektivvertrag“ auszugehen (§ 8 Z 2 ArbVG und § 4 AVRAG). Der „Ablauf“ des „Kollektivvertrags“ würde dann eben erst mit dem „Ablauf“ der „Nachwirkung“ des KV und damit bei Betriebsübergängen regelmäßig ohnehin erst mit dem „Wirksamwerden“ (§ 13 ArbVG; „Inkrafttreten“ § 4 Abs 1 1. Satz AVRAG; Art 3 Abs 3 RL) eines neuen Erwerber‑KV eintreten.

V.1. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich derzeit noch keine eindeutige Stellungnahme zu der Einordnung der Nachwirkung eines Kollektivvertrags als KV im Sinne des Art 3 Abs 3 der RL ableiten. Zwar soll die Betriebsübergangs‑RL allgemein der Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Inhabers dadurch gewährleisten, dass sie den Arbeitnehmer die Möglichkeit gibt, ihr Beschäftigungsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber zu den selben Bedingungen fortzusetzen, die mit dem Veräußerer vereinbart waren; aufgrund von Art 3 der RL gehen die Arbeitsverträge auf den Erwerber über (EuGH C‑499/04, Werhof, Slg 2006, I‑2397, Rn 25 f; EuGH C‑343/98, Collino und Chiappero, Slg 2000, I‑6659, Rn 49; EuGH C‑305/94, Rotsart de Hertaing, Slg 1996, 5927, Rn 16 ff jeweils mwN). Dies besagt jedoch noch nichts über die durch „Kollektivvertrag“ geschaffenen Arbeitsbedingungen, die vom Arbeitsvertrag zu unterscheiden sind, und bei denen durch den Erwerberkollektivvertrag Veränderungen, und zwar auch Verschlechterungen, eintreten können (EuGH Rs Delahaye C‑425/02, Slg 2004, I‑10823, Rn 31 ff; EuGH Rs Werhof C‑499/04, Slg 2006, I‑2397 unter Hinweis auf die negative Koalitionsfreiheit; EuGH Rs Juuri C‑396/07, Slg 2008, I‑8883, Rn 31 ff; grundsätzlich zuletzt auch EuGH Rs Scattolon C‑108/10, Rn 72 ff zur Unzulässigkeit der gezielten Verschlechterung durch Nichtanrechnung bzw geringere Anrechnung der beim Veräußerer erworbenen Vordienstzeiten im Zuge der Einstufung in die Gehaltsordnung des neuen KV).

V.2. Insgesamt lassen sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union keine eindeutigen Schlüsse für die vorliegende Frage der Beurteilung der „Nachwirkung“ im Sinne des österreichischen ArbVG ableiten (ähnlich etwa § 4 Abs 5 des deutschen Tarifvertragsgesetzes oder auch das griechische Tarifvertragsrecht ‑ Kerameos/Kerameus in Henssler/Braun aaO Rz 193). Die sich daraus ergebenden unionsrechtlichen Fragen waren daher dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen.

Ob ‑ wie vom Antragsteller geltend gemacht ‑ rechtsmissbräuchliches Verhalten des Arbeitgebers vorliegt, kann erst nach Klärung der Rechtsfolgen des Betriebsübergangs bzw der Kündigungen der Kollektivverträge und nach Erörterung des gesamten Sachverhalts beurteilt werden.

Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 90a Abs 1 GOG.

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